Maximilian Weltin: Das Land und sein Recht. Ausgewählte Beiträge zur Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter. Hrsg. v. Folker Reichert und Winfried Stelzer (= Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsband; 49), München: Oldenbourg 2006, 574 S., ISBN 978-3-486-58008-2, EUR 54,80
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Der historisch forschende Archivar ist, zumindest im deutschsprachigen Raum, eine aussterbende Spezies. Nicht nur großzügige Stellenstreichungen gerade im wissenschaftlich ausgebildeten höheren Dienst haben ihm den Garaus gemacht, auch hat sich sein Berufsbild in den letzten Jahren so stark gewandelt, dass ein wissenschaftliches Geschichtsstudium gar nicht mehr unbedingt als notwendige oder gar hinreichende Qualifikation für seine Verwaltungstätigkeiten betrachtet werden kann. Die Zeiten, in denen Archivare auf Geschichtslehrstühle berufen wurden, sind ohnehin längst vorbei. Besonders eng verzahnt waren Historiker- und Archivarsausbildung bislang in Österreich, wo der nachgerade legendäre, durch Heimito von Doderer sogar zu literarischen Ehren gelangte Kurs des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung auf beide Laufbahnen gleichermaßen vorbereitete. Diesen Kurs gibt es seit 2005 nicht mehr, und es bleibt abzuwarten, wie sich das auf die wissenschaftlichen Qualifikationen künftiger österreichischer Archivare auswirken wird, die bestenfalls ein Master-Studium à la bolognaise hinter sich haben.
Was durch das Ende dieser langen Tradition verloren geht, zeigt in eindrucksvoller Weise der vorliegende Band mit 19 gesammelten Aufsätzen von Maximilian Weltin, ehemals Archivar am Niederösterreichischen Landesarchiv, der bei weitem nicht alle, aber zweifellos die wichtigsten Beiträge Weltins aus den Jahren 1973 bis 2003 vereint. Die intensive Quellenkenntnis des Archivars verbindet sich hier aufs fruchtbarste mit dem Blick des Historikers für Zusammenhänge, gründliche Beherrschung des Handwerks mit kritischem Sinn gegenüber althergebrachten Ansichten.
Wenn man bloß die Titel der Aufsätze liest, könnte man leicht meinen, hier würden nur Themen von allein lokalem oder bestenfalls regionalem Interesse behandelt, wimmelt es da doch von niederösterreichischen Ortsnamen wie Laa an der Thaya, Korneuburg und Hollabrunn. Doch weit gefehlt! Denn von seinen konkreten, scheinbar unbedeutenden Ausgangspunkten stößt der Autor immer wieder in allgemeine Fragen mittelalterlicher Verfassungsgeschichte vor. Die Frühgeschichte des Städtchens Bruck an der Leitha etwa bietet Anlass zu einer umfassenden Revision der "Markenpolitik" Kaiser Heinrichs III., das Problem der im 12. Jahrhundert von Otto von Freising beiläufig erwähnten "drei Grafschaften" führt zu Beobachtungen zur inneren Struktur der Markgrafschaft in ottonischer und salischer Zeit, die Entstehung der niederösterreichischen Landgerichte betrifft überhaupt den Wandel der Gerichtsbarkeit im Lauf des Hochmittelalters, und die anti-habsburgischen Gedichte des sogenannten Seifrid Helbling vom Ende des 13. Jahrhundert schließlich führen zu grundsätzlichen Überlegungen über das Verhältnis zwischen Ministerialität und altem Adel und zu der Frage, woher deren Herrschaftsrechte eigentlich stammen.
Wer den Titel des Buchs sieht, wird vielleicht an Otto Brunner und sein einflussreiches Werk "Land und Herrschaft" von 1939 denken und liegt damit gar nicht so falsch. Denn Weltin stellt sich dezidiert in die Tradition Brunners und begreift das Land, dessen Entwicklung er verstehen will, nicht als einen gewissermaßen leeren Raum, sondern als den Verband von Personen, der diesen Raum bewohnt und belebt. Deshalb handeln seine "Beiträge zur Verfassungsgeschichte" auch weniger von abstrakten Konzepten, sondern viel mehr von konkreten Menschen. Nicht metaphysische historische Notwendigkeiten, aber auch keine starken Helden prägen hier die Geschichte, sondern Menschen, die sich zu Gemeinschaften der verschiedensten Art zusammenschließen. Wenngleich einige Elemente der brunnerschen (und damit indirekt auch der weltinschen) Geschichtsbetrachtung wegen ihrer - tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen - Nähe zu nationalsozialistischen Gesellschaftskonzepten seit einiger Zeit in Misskredit geraten sind, eröffnet sich mit einer Sicht, die das konkrete Handeln von Menschen in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt, doch ein Weg für ein brauchbares Geschichtsverständnis, über den weiter nachzudenken sich lohnt.
Der Band hat, merkwürdigerweise auf ausdrücklichen Wunsch des Autors, kein Register. Das mag man bedauern, doch wäre derjenige, der nur rasch Informationen zu einem bestimmten ihn interessierenden Gegenstand nachschlagen will, mit diesem Buch ohnehin schlecht bedient. Denn seine Stärke liegt nicht in der Information, sondern in der Argumentation, und jeder einzelne Beitrag versucht, in Abgrenzung zu bisherigen Deutungen zu Neuerkenntnissen zu gelangen. Das Fehlen eines Registers zwingt also den Benutzer, zum Leser zu werden und sich auf den Gedankengang des Autors einzulassen. Wer das tut, wird für seine Mühe auf jeden Fall mit neuen Einsichten belohnt werden, unabhängig davon, ob er sich nun jedem Einzelergebnis der hier vorgelegten Studien anschließen mag oder nicht.
Roman Deutinger