Christian Jansen: Italien seit 1945 (= Europäische Zeitgeschichte; Bd. 3), Stuttgart: UTB 2007, 255 S., ISBN 978-3-8252-2916-0, EUR 16,90
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Thomas Mergel und Martin Schulze Wessel waren ohne Zweifel gut beraten, als sie die Reihe "Europäische Zeitgeschichte" ins Leben riefen, die dem studentischen Publikum eine erste Orientierung auf dem oft unübersichtlichen Terrain der neuesten Geschichte unserer Nachbarstaaten ermöglichen soll. Die ersten Bände über Großbritannien [1] und Ungarn [2] erfüllen diesen Zweck, und auch Christian Jansens Band über Italien wird sich in diesem Sinne bewähren, selbst wenn hier - offenkundig dem Konzept der Reihe folgend - unter der Hand ein enger Begriff von Zeitgeschichte zum Tragen kommt. Ohne große Begründung werden Faschismus, Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg und der Holocaust weitgehend ausgeblendet. Es ist noch nicht lange her, da wäre über solche Federstriche zumindest diskutiert worden - und wie.
Jansen gliedert seine Studie in neun große Kapitel, die politischen Themen sowie zahlreichen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Aspekten der Geschichte Italiens nach dem Zweiten Weltkrieg gewidmet sind. Das Spektrum umfasst den Neuanfang nach dem Ende des Faschismus, die Jahre des Wirtschaftswunders und die Segmentierung der politischen Kultur, wobei hier vor allem die Parteien und Gewerkschaften behandelt werden. Die Darstellung erstreckt sich auf die "Südfrage", die außenpolitischen Weichenstellungen und den Umbruch von 1968 mit seinen katastrophalen Weiterungen im Terrorismus der Roten Brigaden und reicht schließlich bis zum Zusammenbruch der Ersten und zu den Anfängen der Zweiten Republik, die man auf das Jahr 1992 oder mit dem gleichen Recht auch erst auf das Jahr 1994 datieren kann.
Noch nie hat ein deutscher Autor so sachkundig, nuanciert und klar über diese turbulenten Jahrzehnte geschrieben, in denen sich Italien von einer partiell industrialisierten Agrar- in eine leistungsfähige, moderne Industriegesellschaft verwandelt hat. Dabei kann nicht genug betont werden, dass sich Jansen durchgängig auf der Höhe der Forschung bewegt und dass er - im Gegensatz zu vielen anderen Autoren - nur selten der Gefahr erliegt, italienische Eigenheiten wie die Mafia, die Camorra oder geheimnisumwitterte Geheimlogen als exotische Phänomene zu sehr in den Vordergrund zu rücken und über Gebühr zu skandalisieren.
Der einzige größere Einwand bezieht sich auf die Anlage des Bandes, die insofern nicht zu überzeugen vermag, als sie auf einem Mischprinzip basiert. Konkret heißt das, dass in den ersten sieben Kapiteln Sachthemen behandelt werden, während die beiden letzten Abschnitte, die dem Zerfall des alten Parteiensystems und der Herausbildung eines neuen gewidmet sind, der Chronologie folgen, so dass ein Bruch entsteht, den der Autor mit keiner Silbe begründet. Vieles, was zusammengehört, wird so auseinander gerissen oder zumindest nicht in Beziehung zueinander gesetzt. Der Leser wird auf diese Weise über einzelne kulturelle und politische Aspekte zwar gut informiert, ihm muss aber verschlossen bleiben, welchen Stellenwert diese Aspekte in der Geschichte Italiens nach 1945 hatten. Hoch informativ ist beispielsweise der Abschnitt über Medien, Kino, Popmusik und Sport. Jansen zeigt sich hier etwa als souveräner Kenner der italienischen Liedermacherszene mit ihren Zentren in Genua, Mailand, Rom und Neapel, die er anschaulich schildert. Gesagt werden muss aber auch, dass Jansen hier vor allem enzyklopädisches Wissen präsentiert, ohne den Versuch zu machen, nach der gesellschaftlichen Bedingtheit unterschiedlicher kultureller Leistungen und Strömungen zu fragen.
So kann es auch nicht ausbleiben, dass Jansen letztlich keine Gesamtdeutung der Geschichte Italiens nach 1945 zu liefern vermag. Welchen Bewegungsgesetzen war die Entwicklung unterworfen? Wer waren die treibenden, wer die beharrenden Kräfte? Warum implodierte das politische System Anfang der Neunziger Jahre? War dafür wirklich nur der große Korruptionsskandal und die Erosion des kommunistischen Lagers nach dem Fall der Mauer verantwortlich? Oder gab es tiefere Gründe, die in der Geschichte Italiens seit der Epochenwende von 1900 wurzeln? Was waren die Besonderheiten des italienischen Weges in der Moderne und worin unterschied er sich von den "Sonderwegen" anderer europäischer Länder, die bei genauerer Betrachtung doch sehr viele Gemeinsamkeiten aufweisen? Antworten auf diese Fragen gibt Jansen nicht, kann sie wegen des begrenzten Umfangs und der wohl vorgegebenen Anlage der Reihe auch nicht liefern. Dennoch nimmt man sein Buch gern und mit Gewinn zur Hand - weil es eine respektable Leistung ist.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Thomas Mergel: Großbritannien seit 1945, Göttingen 2005.
[2] Vgl. Arpád von Klimó: Ungarn seit 1945, Göttingen 2006.
Hans Woller