Jochen Oltmer (Hg.): Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkrieges (= Krieg in der Geschichte (KRiG); Bd. 24), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2006, 308 S., ISBN 978-3-506-75626-8, EUR 29,90
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Im Vergleich zur Zeit von 1939-1945 hat der Komplex "Kriegsgefangene im Ersten Weltkrieg" in der Forschung weit weniger Beachtung gefunden. Bereits in den Zwanziger Jahren hatte die Frage ihre politische Brisanz verloren und daher kaum noch öffentliches Interesse geweckt - europaweit. Um so höher sind die Erwartungen, die mit dem Erscheinen eines von Jochen Oltmer herausgegebenen Sammelbandes zu diesem Thema verknüpft sind - nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass die Quellenlage äußerst unbefriedigend ist. Ein internationales Historikerteam nähert sich dem Gegenstand auf dreifache Weise: über die einzelnen Länder, über bestimmte Aspekte von Kriegsgefangenenpolitik und schließlich über die Situation der ehemaligen Kriegsgefangenen in den Nachkriegsjahren.
Ob es sich um die Donaumonarchie, das Deutsche Reich, Russland, Großbritannien oder Frankreich handelt - das Phänomen Kriegsgefangenschaft zeigte sich überall mit ähnlichen Aspekten; der Herausgeber fasst das in seiner Einführung sehr prägnant zusammen. Dazu gehören in erster Linie der Weg in die Lager, das Lagersystem und die Kriegsgefangenenorganisation, Lebensbedingungen wie Ernährung, Unterbringung und hygienische Verhältnisse sowie der Arbeitseinsatz. Gleichwohl gab es gravierende Unterschiede mit erheblichen Konsequenzen für die Politik gegenüber den feindlichen Soldaten. Während die Deutschen in ihren Lagern eine Vielzahl von Nationalitäten zu verwalten hatten, es sich bei den Gefangenen in österreichischem Gewahrsam vorwiegend um Angehörige des Zarenreiches handelte, hatten Briten und Franzosen fast ausschließlich Deutsche in ihrer Hand, die Russen zumeist Österreicher, aber auch Reichsdeutsche. Auch die Zahlen waren sehr verschieden. Österreich-Ungarn hielt bereits Ende 1914 mit 200.000 Kriegsgefangenen so viele fremde Soldaten fest wie Großbritannien erst 1918, das Deutsche Reich verwahrte gegen Kriegsende 2,5 Millionen feindliche Soldaten, Russland nahezu ebenso viele, Frankreich schließlich "nur" 500.000.
In allen Staaten wird dasselbe Grundmuster sichtbar: Die Militärbehörden hatten dem Kriegsgefangenenproblem vor Eintritt des Krieges nicht die nötige Aufmerksamkeit gewidmet und waren von den bald eintreffenden Gefangenenmassen völlig überfordert. Die Todesrate stieg dann im ersten Kriegswinter zumeist rapide. Der Lageralltag unterschied sich kaum und war häufig verbunden mit Mangelernährung und gelegentlichen Repressalien, die wiederum die Fluchtbereitschaft, aber auch die Selbstaufgabe förderten. Ab 1916 schließlich wurde allenthalben der oftmals harte und gefährliche Arbeitseinsatz eingeführt.
Jeder Autor arbeitet das für "seinen" Staat und dessen besondere Verhältnisse deutlich heraus. Wenn hier der Aufsatz von Hannes Leidinger und Verena Moritz über die Donaumonarchie hervorgehoben wird, so soll das die Qualität der anderen keineswegs schmälern; beiden standen vielleicht nur die eindrucksvollsten Quellen zur Verfügung, etwa zum österreichischen Lager Mauthausen, in dem im Januar 1915 bis zu 186 Serben pro Tag an Fleckfieber starben. Lediglich Jochen Oltmer beschränkt sich auf den Arbeitseinsatz der Gefangenen im Deutschen Reich, bedauerlicherweise, denn dadurch wird einer der Hauptakteure der Vergleichbarkeit entzogen. Sinnvoll wäre gerade für diesen Teil des Sammelbandes ein eigener statistischer Überblick gewesen. Es kommen zu viele Zahlen vor, als dass sie der Leser auch nur ansatzweise im Gedächtnis behalten könnte.
Im zweiten und dritten Teil des Buches stehen Fragen der Nationalitätenpolitik gegenüber den Kriegsgefangenen und die Repatriierung Deutscher und Österreicher sowie der Russen im Vordergrund. Das war ein Prozess, der sich durch die Revolution auf beiden Seiten und den Sieg des Bolschewismus in der Sowjetunion bis 1922 hinzog, nicht zuletzt aus Furcht vor der Infiltration unerwünschter Ideen durch die Heimkehrer. Für die anderen Kriegsbeteiligten stellte sich dieses Problem kaum. Sie alle jedoch standen vor der Frage, wie sie mit den Heimkehrern und deren Erlebnissen umgehen sollten. In einem knappen, gleichwohl bedrückenden Aufsatz zeigt Odon Abbal, wie das offizielle Frankreich sich bis in die Dreißiger Jahre mit Erfolg dagegen sträubte, seinen Landsleute eine Entschädigung zukommen zu lassen - mit der diffamierenden Begründung, es handele sich bei ihnen um Feiglinge und Deserteure, gegenüber denen höchstes Misstrauen geboten sei. Die italienische Regierung hatte schon mit Beginn des Krieges eine solche Haltung eingenommen. "Der obsessive Glaube an die Schuld der Kriegsgefangenen [an ihrer Gefangennahme; R. O.] war das Hauptmotiv für die Weigerung, ihnen öffentliche Hilfen zukommen zu lassen", wie Giovanna Procacci in ihrem sehr treffend "Fahnenflüchtige jenseits der Alpen" betitelten Aufsatz schreibt. Da nimmt es nicht wunder, dass das italienische Oberkommando 1918 auch keinerlei Maßnahmen für die Repatriierung einleitete und deswegen ehemalige Gefangene noch in ihrer eigenen Heimat unter unwürdigen Bedingungen den Tod fanden.
Der Spannungsbogen, den beide Autoren aufbauen, findet leider ein abruptes Ende, denn der Leser hätte nur zu gern eine Antwort auf die Frage erhalten, wie denn Deutsche und Russen nach 1918 mit dem Thema "Kriegsgefangenschaft" umgingen - bei den letzteren vor allem deswegen, weil Stalin 1941 alle in Gefangenschaft geratenen Rotarmisten des Zweiten Weltkrieges zu Verrätern stempelte, auf denen dann zeit ihres Lebens der Makel der Gefangenschaft lastete, soweit sie überhaupt zurückkehrten. Da wüsste man doch sehr gern, wie die Sowjetunion der frühen 1920er-Jahre, vor dem schwierigen Hintergrund des Bürgerkrieges, die Rückkehrer behandelte. Auf deutscher Seite ließ die Überhöhung des "Heldentodes für das Vaterland" eigentlich kaum Platz für ehemalige Gefangene; wie hielten es die Weimarer Republik und erst recht das Dritte Reich damit? Es wird Gründe gegeben haben, auf die Analyse dieser Fragen zu verzichten. Man hätte sie aber allein schon im Hinblick auf zukünftige Forschungen formulieren sollen, nicht zuletzt unter dem Aspekt, in welchem Maße die Verantwortlichen der Zeit von 1939-1945 Erfahrungen von 1914-1918 in ihre Planungen einbrachten, ja, ob überhaupt jemand von ihnen je in Gefangenschaft gewesen war.
An solchen Spezialwünschen zeigt sich freilich der Wert des Sammelbandes als gut lesbarer Einstieg in und Überblick über das Thema "Kriegsgefangene des Ersten Weltkrieges". Bedeutung ist ihm auch noch in ganz anderer Hinsicht beizumessen. Kennt man das Kriegsgefangenenwesen des Zweiten Weltkrieges, so erschließen sich bei der Lektüre gleichsam in einem déjà-vu Kontinuitäten und Übereinstimmungen: die Lagerstandorte sind nicht selten dieselben, außerdem gleichen sich logistische und bürokratische Probleme, wenn die Zahl der Gefangenen ein gewisses Maß überschritt, der Arbeitseinsatz, ohne den die Kriegswirtschaft weitgehend zusammengebrochen wäre, das Ausspielen der Nationalitäten gegeneinander. 1939 kommt "nur" der weltanschauliche Aspekt hinzu, mit grauenhaften Folgen freilich, wie am millionenfachen Tod der sowjetischen Gefangenen, aber auch der Italiener abzulesen ist. Das Buch ist geeignet, vieles von dem zu relativieren, was bisher von der Kriegsgefangenenforschung des Zweiten Weltkrieges, ohne zurückzublicken, als neu und einzigartig herausgestellt wurde. In Zukunft sollte man es lesen, bevor man sich mit dem Gefangenenwesen von 1939-1945 befasst.
Reinhard Otto