Paul Kannmann: Das Stalag XI A Altengrabow 1939-1945 , Halle/Saale: mdv Mitteldeutscher Verlag 2015, 504 S., ISBN 978-3-95462-545-1, EUR 38,00
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Anfang der 1990er Jahre erschienen die ersten Monographien zu Kriegsgefangenenlagern der deutschen Wehrmacht. Seitdem ist dieses Thema häufiger von Historikern und Gedenkstätten aufgegriffen worden. Ihre Arbeiten tragen dazu bei, regionale und lokale, aber auch grundsätzliche Forschungslücken zu schließen, denn die Lager waren nicht zur bloßen Verwahrung der feindlichen Soldaten vorgesehen, sondern ihnen waren, zum Teil sehr unterschiedliche, Funktionen im Rahmen des Arbeitseinsatzes zugedacht, etwa den Stammlagern (= Stalag) Hemer und Senne für den Bergbau im Ruhrgebiet bzw. Lamsdorf für Oberschlesien.
Dabei gehen die Autoren das Thema für gewöhnlich in derselben, vom Gegenstand eigentlich auch vorgegebenen Weise an. Einer grundsätzlichen Einführung in das Kriegsgefangenenwesen vor dem Hintergrund der NS-Ideologie folgen Kapitel über den Lageraufbau und die Funktionen der einzelnen Lagerbereiche, den Arbeitseinsatz der Kriegsgefangenen, die verschiedenen Nationalitäten im Lager und ihre unterschiedliche Behandlung, die Beziehungen zur deutschen Bevölkerung, Formen von Widerstand und Kollaboration sowie die Befreiung. Abschließend erfährt der Leser etwas über die spätere Nutzung des Geländes sowie über das Gedenken vor Ort. Die Methode hat sich bewährt und erleichtert den Vergleich einzelner Lager miteinander.
Für manche der großen Kriegsgefangenenlager fehlen allerdings noch Untersuchungen; für eines davon, das Stalag XI A Altengrabow östlich von Magdeburg, liegt jetzt eine Dissertation von Paul Kannmann vor. Altengrabow eignet sich gut für eine Untersuchung, war es doch eines der am längsten existierenden Kriegsgefangenenlager (September 1939 bis zum 4.5.1945) und zuständig für eine Region, in der es einerseits mit Magdeburg ein wichtiges Zentrum der Rüstungsindustrie gab, die aber andererseits dank der fruchtbaren Böden von intensiver Landwirtschaft geprägt war. Hinzu kamen viele Kleinstädte mit Handwerk und Handel, also ein für das Deutsche Reich durchaus typisches Gebiet. Die Forschungslücke war auch insofern spürbar, als das Kriegsgefangenenwesen im Wehrkreis XI Hannover, in dem Altengrabow lag, ansonsten recht gut erforscht ist.
Doch der Titel "Das Stalag XI A Altengrabow 1939-1945" täuscht etwas, denn es ist eine Studie, die nur teilweise nach dem herkömmlichen Schema aufgebaut ist, sie konzentriert sich stattdessen auf wenige Aspekte. Ihr Ziel sei, "die Bedeutung und die Auswirkungen des vielgestaltigen Arbeitseinsatzes zwischen 1939 und 1945 [...] in großen Teilen der preußischen Provinz Sachsen aufzuarbeiten" (15), wobei die Zusammenarbeit der militärischen und zivilen Stellen auf den verschiedenen Ebenen sowie die Auswirkungen dieser Kooperation auf die Lebenswirklichkeit der Gefangenen im Vordergrund stehe. Als Maßstab für das Handeln von Behörden und Betrieben dient Kannmann die Genfer Konvention von 1929.
Den größten Umfang, etwa ein Drittel des Textes, nimmt daher die Untersuchung des Arbeitseinsatzes ein, dem ein Kapitel "Stalag XI A unter Fremdbeobachtung" folgt, das seinen Schwerpunkt auf die Besuchsberichte von Internationalem Roten Kreuz und YMCA legt; zu nennen wären hier zusätzlich noch Besuche der Mission Scapini (10) sowie der Belgischen Kriegsgefangenen-Kommission (5). Schließlich werden die "Kontakte zwischen Kriegsgefangenen und der Bevölkerung" dargestellt. Auf gut 60 Seiten sind abschließend Fotos, Dokumente und Tabellen beigefügt, die in erster Linie den Arbeitseinsatz zum Gegenstand haben. Letztere geben mit einer Auflistung der verschiedenen Arbeitskommandos einen sehr guten Überblick über Beschäftigung der Gefangenen auf lokaler Ebene, auch für die Kreise gibt es tabellarische Übersichten für die Jahre 1939 und 1943.
Um zum Thema "Arbeitseinsatz" zu gelangen, schickt der Autor allerdings dann doch ein längeres Kapitel "Kriegsvölkerrecht und Kriegsgefangenenwesen" voraus, dem ein allgemein gehaltener Überblick über das Kriegsgefangenenwesen im Deutschen Reich folgt. Hier zeigt sich erstmals eine von zwei großen Schwächen des Buches: die Struktur ist nicht hinreichend durchdacht. Wenn in der Einleitung Quellen und Forschungsstand dargestellt werden, sollte das ausreichen und nicht mehrmals wieder aufgegriffen werden, ebenso wie Forschungstendenzen und -perspektiven an den Schluss gehören. Den Begriff "Kriegsgefangener" sollte man klären, bevor man über das Kriegsgefangenenwesen referiert, letzteres ist wiederum Gegenstand zweier sich zeitlich überschneidender Unterkapitel. Auch das letzte kurze Kapitel zur Vorbereitung der Lagerevakuierung gegen Kriegsende fügt sich nicht harmonisch in den Aufbau des Buches ein.
Bei der Erforschung des Arbeitseinsatzes fördert Kannmann weitgehend unbekannte und sehr interessante Fakten zutage. Im Industrieraum Magdeburg hatten sich schon 1940 etliche Firmen zur "Arbeitsgemeinschaft Magdeburger Kriegsgefangenenlager" (AMK) zusammengeschlossen, deren Ziel "vornehmlich in der Arbeitskräftebeschaffung und deren (!) Austausch im Falle einer defizitären Versorgungslage" bestand (232). Diese Vernetzung von Stammlager, lokaler Industrie sowie Industrie- und Handelskammer steigerte die Effektivität des Einsatzes von immerhin mehreren Tausend Kriegsgefangenen beträchtlich, und die Firmen waren daher durchaus bereit, dafür einen monatlichen Beitrag zu zahlen. Zunehmend sahen sie auch in Be- und Überwachung der feindlichen Soldaten eine wesentliche Aufgabe. Deutlich wird, wie groß der Bedarf an Arbeitskräften gerade auf dem Lande war, wo viele bäuerliche Betriebe wegen der Einberufungen schon im Herbst 1939 große Probleme hatten, die Ernte einzubringen. Bis sich Staat und Wirtschaft 1939/40 zu einer einigermaßen sachorientierten Kooperation beim Einsatz der Polen zusammengefunden hatten, dauerte es Monate; das detailliert nachgezeichnet zu haben, ist sehr verdienstvoll und sollte Historiker dazu bewegen, andere Lager in ähnlich strukturierten Regionen zu untersuchen, etwa das Stalag VII A Moosburg für Nieder- und Oberbayern einschließlich des Industrieraumes München.
Beim Arbeitseinsatz ergaben sich zwangsläufig Kontakte zur deutschen Bevölkerung. Ausgehend von drei Beispielen, die sexuelle Beziehungen zwischen Frauen und Kriegsgefangenen zum Gegenstand haben, geht der Autor der Frage nach, wie sich trotz massiver Strafandrohung solche Verbindungen entwickeln konnten, und wie Umwelt, Betriebe und Strafverfolgungsbehörden darauf reagierten.
Immer dann, wenn Kannmann die Fakten darstellt und auswertet, ist das Buch sehr informativ und zügig zu lesen. Leider ist er aber viel zu sehr bemüht, alles in einen methodischen und theoretischen Überbau zu pressen. Für die Untersuchung des Arbeitseinsatzes ein dreistufiges Phasenmodell mit Parametern zu entwickeln, bedeutet eine massive Verkomplizierung einfacher Sachverhalte; dass sich mit dem massenhaften Eintreffen von Westgefangenen und später der sowjetischen Soldaten die Verhältnisse jeweils grundlegend änderten, liegt auf der Hand. Auf Seite 271 ist gar von einer "Methodenmatrix" die Rede, "um mit der Erörterung der Versorgung eine der wesentlichen Bedingungen des interkulturellen Austausches und einhergehend der sogenannten 'Verbotenen Umgänge' außerhalb des Stammlagers aufzuzeigen". Da geht es auch sprachlich durcheinander.
Einerseits will der Autor das Thema auf eine neue Art und Weise angehen, das muss natürlich begründet werden. Andererseits will und kann er auf all die hier anfangs genannten Themenbereiche, die bei der Untersuchung eines Kriegsgefangenenlagers angesprochen werden sollten, nicht verzichten, und so werden diese irgendwo eingebaut, selbst wenn der vorgesehene Aufbau das eigentlich nicht zulässt, etwa die "Gewaltpraxis im Stalag" im Zusammenhang mit der Arbeitseinsatzrealität sowjetischer Gefangener ("Phase III") oder "Fluchten und Fluchtversuche" im Kapitel "Stalag XI A unter Fremdbeobachtung". Auch auf die Gefahr hin, langweilig zu wirken, sollte man bewährte Vorgehensweisen nicht ohne Grund aufgeben, zumal im Falle von Stalag XI A Altengrabow die Quellenlage wohl für eine die verschiedenen Aspekte umfassende Studie allemal ausreichen dürfte. Wahrscheinlich wäre dann noch mehr an Neuem bei dieser Untersuchung herausgekommen.
Reinhard Otto