Rainer A. Müller / Helmut Flachenecker / Reiner Kammerl (Hgg.): Das Ende der kleinen Reichsstädte 1803 im süddeutschen Raum (= Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte. Reihe B; Beiheft 27), München: C.H.Beck 2007, VIII + 332 S., ISBN 978-3-406-10668-2, EUR 31,00
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Der 200. Jahrestag bot der historischen Zunft im Jahr 2003 einen Anlass, sich dem lange vernachlässigten Reichsdeputationshauptschluss von 1803 zuzuwenden und dessen Bedeutung für die deutsche Geschichte neu auszuleuchten. Im Mittelpunkt stand dabei vor allem der damals rechtlich vollzogene Säkularisationsprozess mit der Auflösung der geistlichen Territorien des Reichs sowie der Übertragung von Kirchengut in weltliche Hände. Vergleichsweise wenig Beachtung fanden hingegen die Reichsstädte, die ebenfalls in den Strudel der Territorialverschiebung hineingezogen und mehrheitlich mediatisiert wurden. Ihrem Schicksal widmete sich eine im Jahr 2003 abgehaltene Tagung, die sich auf die kleinen Reichsstädte im süddeutschen Raum konzentrierte. Die dabei vorgestellten Ergebnisse finden sich im hier anzuzeigenden Aufsatzband dokumentiert.
Als Leitlinie liegt dabei die Frage zu Grunde, inwieweit die bisher vorherrschende Sicht von der Mediatisierung der Reichsstädte als notwendiger Modernisierung überlebter Gebilde tatsächlich berechtigt ist. Insbesondere Rolf Kießling widerspricht unter Hinweis auf die neuere Stadtgeschichtsforschung dem pauschalen Bild vom Verfall der reichsstädtischen Herrlichkeit seit dem 16. Jahrhundert und fordert hier eine lokalorientierte Differenzierung ein. Denn neben hoch verschuldeten und im Innern verknöcherten Kommunen gab es demnach auch solche, die im 18. Jahrhundert ihr wirtschaftliches Potenzial wieder steigern und regionale Bedeutung erlangen konnten. Zu Recht weist Kießling darauf hin, dass neben den Reichsstädten durch das Ausgreifen des frühmodernen Staates auch die Landstädte einem langwierigen Strukturwandel ausgesetzt waren. Dieser mündete in Bayern mit der Konstitution von 1818 in die Neubegründung der Selbstverwaltung der Kommunen. Dennoch lebten, wie Reinhard Heydenreuther darlegt, auch nach 1818 viele reichsstädtische Traditionen - etwa im Zivilrecht - noch lange weiter, da es die bayerische Regierung das ganze 19. Jahrhundert über versäumte, für Rechtseinheit zu sorgen.
Diesen allgemeinen Beiträgen schließen sich mehrere Einzelstudien an (Kempten, Lindau, Memmingen, Nördlingen, Schweinfurt, Windsheim, Rothenburg o.T.). Sie bestätigen die große Vielfalt und unterschiedlichen Vor- und Rahmenbedingungen sowie Folgen der Mediatisierung für die Reichsstädte. Während Memmingen und Schweinfurt bereits vor 1803 eine finanzielle, wirtschaftliche wie auch politische Misere durchlebten und wie Musterbeispiele reichsstädtischen Verfalls wirken, befand sich Nördlingen im 18. Jahrhundert in einer Phase der finanziellen Konsolidierung. Rothenburg ob der Tauber schließlich wurde angesichts seines umfangreichen Territoriums selbst vom preußischen Reformer Hardenberg lange Zeit überhaupt nicht als Kandidat für eine Mediatisierung angesehen; als diese dann doch kam, war sie eine böse Überraschung für die selbstbewussten Stadtväter. Die neue Grenzlage wurde ebenso für den wirtschaftlichen Abstieg der Stadt verantwortlich gemacht wie die als Plünderung empfundene bayerische Reformpolitik. Erschwerend kam, wie Autor Karl Borchardt darstellt, eine mangelnde Anpassungsfähigkeit der politischen Eliten an die neuen Verhältnisse hinzu.
Überhaupt zeigte die Mediatisierung recht unterschiedliche Folgen für die einzelnen Städte. Während der Abstieg Memmingens auch nach 1803 seine Fortsetzung fand, profitierte etwa Lindau vom Willen des Staates, die Stadt als bayerischen Brückenkopf am Bodensee zu positionieren. Aber auch gemeinsame Entwicklungen können festgestellt werden. Sämtliche Städte litten unter einer dramatische Steigerung ihrer Verschuldung infolge der Revolutionskriege; selbst zuvor einigermaßen konsolidierte Gemeinwesen wie Windsheim sahen sich, wie Gerhard Rechter anhand einer ausführlichen Statistik nachweist, einem riesigen Schuldenberg gegenüber, der aus eigener Kraft wohl nur schwierig abzutragen gewesen wäre. Auch ging in den überwiegend protestantischen Städten durch den Zuzug bayerischer, überwiegend katholischer Verwaltungsbeamter und Soldaten die konfessionelle Homogenität verloren. Besonders spannend liest sich vor diesem Hintergrund Franz-Rasso Böcks Beitrag über die Entwicklung von Stadt und Stift Kempten, die nach jahrhunderte langer Animosität nun unter bayerischer Herrschaft zur Annäherung und letztlich zur Vereinigung gezwungen waren. Hier bedeutete die Mediatisierung die Geburtsstunde eines neuen Gemeinwesens.
Zwei Beiträge beschäftigen sich mit Reichsstädten jenseits der bayerischen Grenzen. Hans-Peter Becht zufolge scheiterten sowohl Baden und Württemberg in ihrem Bestreben, die verkrusteten sozioökonomischen Strukturen der übernommenen Reichsstädte aufzubrechen - eine These freilich, die mit Hilfe von Detailuntersuchungen noch untermauert werden müsste. Thomas T. Müller schließlich zeigt am Beispiel der zunächst von Preußen mediatisierten Städte Nordhausen, Mühlhausen und Goslar, dass auch im mitteldeutschen Raum die betroffenen Kommunen höchst unterschiedliche Entwicklungen nach dem Verlust der Selbstständigkeit nahmen.
In der Summe zeigen diese Analysen, dass sich die eingangs gestellte Frage nach der Einschätzung der Mediatisierung als Erfolgs- oder Verlustgeschichte der ehemaligen Reichsstädte nicht eindeutig beantworten lässt. Zu unterschiedlich waren die lokalen Ausgangsvoraussetzungen, aber auch die Folgen der Mediatisierung. Auch muss gerade in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht immer wieder der Vergleich zu den Landstädten gezogen werden, die ihrerseits ebenfalls einem langwierigen Strukturwandel ausgesetzt waren, welcher in vielem dem der Reichsstädte ähnelte. Dennoch sollte bei den Reichsstädten über das Jahr 1803 eine reichsstädtische Identität weiterleben, ungeachtet aller obrigkeitlichen Reformen, die auf eine Gleichstellung sämtlicher Städte abzielte.
Harald Stockert