Rezension über:

Simon Goldhill / Robin Osborne (eds.): Rethinking Revolutions through Ancient Greece, Cambridge: Cambridge University Press 2006, xv + 319 S., ISBN 978-0-521-86212-7, GBP 55,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Bernhard Smarczyk
Institut für Altertumskunde, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Bernhard Smarczyk: Rezension von: Simon Goldhill / Robin Osborne (eds.): Rethinking Revolutions through Ancient Greece, Cambridge: Cambridge University Press 2006, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 3 [15.03.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/03/10871.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Simon Goldhill / Robin Osborne (eds.): Rethinking Revolutions through Ancient Greece

Textgröße: A A A

Die hier vereinten elf Beiträge sind entstanden anlässlich eines Kongresses in Cambridge (2002), der sich die Aufgabe gestellt hatte, die revolutionären Seiten der griechischen Kultur zu beleuchten bzw. zu klären, warum sie während und seit der Antike wiederholt als 'revolutionär' klassifiziert worden ist. Robin Osborne erläutert in der Einleitung (1-9) die Zielsetzung: Die Griechen selbst kannten keinen Revolutionsbegriff; sie sprachen von Erfindungen und Innovationen. Ihre Kultur und politische Geschichte hat aber zahlreiche Errungenschaften hervorgebracht, die als "Greek revolution" ein Gutteil der 'Western Civilisation' begründet haben. Was diese revolutionären Aspekte ausmacht, ist aber jeweils stark umstritten und einem ständigen Prozess der Überprüfung und der historischen Konstruktion unterworfen. Der Band möchte die Diskussion hierüber vorantreiben.

Wohl mitbedingt durch die weite Aufgabenstellung wurde den Beiträgen (Schwerpunkte sind Politik, Kunst, Religion und Wissenschaften) kein bestimmter, von den Herausgeber umrissener Revolutionsbegriff vorgegeben, was offenbar als unangemessene Eingrenzung des inhaltlich wie chronologisch breiten Themenspektrums betrachtet worden ist. Trotz thematischer Berührungen vermisst man daher gelegentlich einen roten Faden bzw. eine präzisere leitende Fragestellung. Auch deshalb kann es hier nur um einige Hinweise auf Zielsetzungen und Inhalte der einzelnen Essays gehen.

Osborne (10-28) skizziert anknüpfend an die metastaseis der Verfassungsgeschichte Athens in der Athenaion politeia (41,2), wann und wo in der Antike sowie in der anglophonen Forschung die demokratische Revolution verortet wurde, wobei der Blick auf Solon, Kleisthenes oder Ephialtes gerichtet war und ist. Natürlich sind die Antworten hierauf eng mit der Beurteilung der Quellen für die Aktivitäten dieser Reformer verknüpft. Wie Osborne zeigt, sind es aber nicht minder politische Haltungen, akademische Denktraditionen und persönliche Erfahrungen, welche die Interpretationen bestimmt haben.

James Davidson führt mit dem längsten Beitrag (29-67) tief in die Zeitkonzeptionen der Griechen hinein. Er macht eine Revolution hinsichtlich der Zeitvorstellungen aus, die mit der Einführung von Altersklassen seit der archaischen Zeit in den griechischen Polis-Gesellschaften und deren Organisation verknüpft war. Diese Altersabstufungen und -klassen, die am klarsten im Athen des 4. Jahrhunderts zu greifen sind, waren elementare Bestandteile einer zyklischen Konstruktion der Zeit, die den Einzelnen ebenso einband wie die sich stets erneuernde und in diesem Prozess Stabilität gewinnende Gemeinde.

Jaś Elsner (68-95) versucht anknüpfend an Überlegungen Ernst Gombrichs Veränderungen der Visualität bei der Entwicklung des Naturalismus und der Subjektivität des Betrachters als kennzeichnend für die griechische und besonders die athenische Kunst der Klassik herauszuarbeiten. Die "Selbstabsorption" der archaischen Statuen beispielsweise, die in direktem Blickkontakt zum Betrachter stehen, wurde abgelöst durch Bildwerke, die in ihrem eigenen Kontext agieren, dem Betrachter verschiedene Blickwinkel ermöglichen und von ihm die Imagination des Bildzusammenhanges einfordern. Der radikale Wandel hin zu dieser neuen Beziehung zwischen Bildnis und Betrachtung (im ersten Viertel des 5. Jahrhunderts), zu einem "viewer as voyeur", findet seine Parallele in formalen Veränderungen anderer Kunstgattungen des 5. Jahrhunderts. Der Betrachter wurde dabei von jemandem, den das Kunstwerk direkt befragte, zum Betrachter eines Diskussionsprozesses, der in einer imaginären Welt stattfand.

Caroline Vout (96-123) untersucht, was man in Hadrians Zeit als 'griechisch' empfand. Antike und moderne Postulate, worin das Griechische bestehe, hingen sehr stark ab von der kulturellen Identität des Betrachters und davon, was man in der Antike des 2. Jahrhunderts n.Chr. - wie in der Moderne - jeweils als "Greekness" herausfilterte. Die Deutung des Bartes Hadrians ist ein guter Beleg für die Schwierigkeit zu bestimmen, was die neue Form der Darstellung eines Kaisers für ihn selbst und bei den Betrachtern signalisieren sollte und wie sie aufgenommen wurde: er verwies wohl auf Hadrians Nähe zur göttlichen Sphäre und unterstrich seinen Herrscherstatus ohne per se Zeichen für einen Anspruch auf "Greekness" zu sein.

Thomas Harrison (124-140) diskutiert das Verhältnis von Rationalität und Irrationalität in der griechischen Kultur der klassischen Epoche und die Bedeutung der Position moderner Forscher zu dieser Frage für ihr Verständnis der griechischen Revolution. Er versucht die spezifische Form hellenischer Rationalität zu bestimmen, wendet sich gegen eine zu starke Betrachtung griechischer Religion unter dem Vorzeichen des Rituals und warnt davor, die Einhaltung zahlreicher privater und öffentlicher Rituale als dekorative Form oder Residuum älterer irrationaler Zeiten zu verstehen, die für die jeweiligen Akteure und ihre Aktivitäten keine substantielle Bedeutung mehr hatten und den rationalen Diskurs behinderte. Sein Ergebnis lautet, dass die rationale Entwicklung auf vielen Gebieten nicht im Gegensatz stand zu den religiösen Vorstellungen oder diese in Frage stellte.

Den Zusammenhang zwischen griechischer Identität in der römischen Zeit und althergebrachten Kultaktivitäten untersucht Simon Goldhill (141-163). Basis sind Libanios und Synesios. Sie blickten auf die altgriechische Kultpraxis zurück aus einer Welt, in der religiöse Aktivitäten einen höheren Grad an Diversität aufwiesen. Diese Tradition konnte genutzt werden, um die Neuerungen der Zeit abzuwehren, aber ebenso auch als eine Kraft zugunsten der Akkommodierung an diese wirken. Der Bezug auf die Tradition, die Art und Weise wie sie gesehen wurde, und ihre Bedeutung für die Gegenwart waren Elemente einer Neupositionierung auf der kulturellen Landkarte der Zeit in einer Phase religiösen Umbruchs.

Carolyn Dewald (164-182) skizziert anhand Herodot und Thukydides die Entstehung der "secular narrative" auf dem Hintergrund der modernen Diskussion über die Natur des Geschichte-Schreibens. Nüchterne und unvoreingenommene Betrachtung und Gewichtung der ihrer Informationen und die Fähigkeit zu rationalem Urteilen waren Grundlagen der Autorität, welche die beiden Historiker ihren Lesern gegenüber beanspruchten. Diese Eigenheiten waren verwandt mit der "particular intellectuell attitude" herausragender Akteure des historischen Geschehens (Solon u.a.), deren Qualitäten sie hervorhoben. Darauf fußend entwickelte sich eine besondere Form der Darstellung der eigenen Welt, die bestimmt war von einer dialogischen Verknüpfung zwischen den Akteuren, ihren Aktionen, Perzeptionen und Reaktionen, und keine übergreifende Ideologie beinhaltete.

Danielle Allen (183-217) verbindet Neuerungen in Rhetorik und ethischer Philosophie in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. mit ihrem weiteren Hintergrund in der politische Geschichte Athens. Im Mittelpunkt steht der Begriff prohairesis, der sich seit Aristoteles' Rhetorik wachsender Beliebtheit bei den attischen Rhetoren erfreute und gemeinsam mit anderen, bekannten aber neuartig eingebundenen Begriffen Teil eines neuen Vokabulars wurde. Seine Prominenz war Symptom für einen revolutionären Wandel im Zugang zur Gestaltung politischer Führung. Er bot mit seinem Bezug auf Verantwortlichkeit und ethische Grundlagen des Handelns von Bürgern und Politikern eine neue Basis für die Legitimierung der Führung Athens durch Demagogen, welche ihre Position (primär) dank rhetorischer Fähigkeiten einnahmen.

Wie wurde die Geschichte der präsokratischen Philosophie in der späteren Betrachtung und nach Maßgabe vorgefasster Meinungen der Moderne konstruiert, lautet die Frage von Catherine Osborne (218-245). Dabei wurde häufig Parmenides und seinen eleatischen Kollegen eine revolutionäre Rolle zugesprochen, welche die Philosophie des 5. Jahrhunderts in eine Krise stürzte, ihnen nach Osbornes Überlegungen aber gar nicht zustand.

Helen King (246-263) befasst sich mit der Geschichte der Medizin bzw. deren Konstruktion, für welche die Figur des Hippokrates zentral wurde: Die Moderne verband eine medizinische Revolution mit dem 5. Jahrhundert v. Chr. und der Unterscheidung der vier Temperamente, welche eine neue Sichtweise des menschlichen Körpers einschloss. Der damalige Fortschritt der Medizin wurde verknüpft mit dem Trend zur Rationalität und der Abwendung von der Religion. Dies sagt aber eher etwas über die modernen Betrachter aus, da in mehreren hippokratischen Schriften das Einwirken der Götter oder die Tempelheilung keineswegs ausgeklammert wurden. Hippokrates, in dieser Tradition ein Nachfolger und Nachkomme von Apollon und Asklepios, wurde schließlich zur Vaterfigur der Medizin, u.a. weil die ihm zugeschriebenen Lehren ein so breites Spektrum aufwiesen, dass alle Richtungen daran anknüpfen konnten. Die Medizingeschichte der römischen Kaiserzeit hat ebenfalls die Temperamentelehre und Hippokrates Betrachtung der Medizin als einheitlicher techné hervorgehoben, aber andere Aspekte für revolutionär gehalten als die Moderne.

Armand D'Angour (264-283) geht der Frage nach, ob es in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. zu einer Revolution bzw. metabolé in der griechischen Musik kam, wie sie spätere Autoren (u.a. Aristoxenos) verzeichnet haben, deren Einschätzungen allerdings erst in weit späteren Schriften greifbar werden. Die neue Musik, die von Timotheos von Milet und anderen offensiv verfochten wurde und bei Konservativen auf Ablehnung stieß, wurde getragen von einer Verbesserung instrumenteller Techniken und beruhte zum guten Teil auf einer zunehmenden Ablösung von Wort und Melodie bzw. der Unterordnung des Liedes unter die Melodie und der Aufgabe der Verknüpfung zwischen Wort- und musikalischer Betonung.

Bernhard Smarczyk