Elisabeth Dietrich-Daum: Die "Wiener Krankheit". Eine Sozialgeschichte der Tuberkulose in Österreich (= Sozial- und wirtschaftshistorische Studien; Bd. 32), München: Oldenbourg 2007, 397 S., ISBN 978-3-486-58093-8, EUR 49,80
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Nach Angaben der WHO sterben derzeit jährlich über 1,5 Millionen Menschen an Tuberkulose, insgesamt sollen weltweit in den letzten Jahrhunderten mehr als eine Milliarde Menschen der Seuche zum Opfer gefallen sein. Derzeit wird global eine Zunahme der Tuberkulose, vor allem auch mit multiresistenten Erregerstämmen, in Osteuropa und Afrika registriert, während die Seuche in Westeuropa rückläufig ist. Nach wie vor gilt die Tuberkulose als "soziale Krankheit", als Indikator für den Lebensstandard einer Bevölkerung. Ein Blick in die Geschichte der Krankheit kann hier also durchaus hilfreich sein, um den gesellschaftlichen Umgang mit Krankheit und Tod zu studieren. In der Tat war die Tuberkulose im neuzeitlichen Europa eine der häufigsten Todesursachen des Erwachsenenalters und noch 1920 entfielen in Österreich nahezu 15 Prozent aller Todesfälle auf die Tuberkulose.
Elisabeth Dietrich-Daum legt nun eine profunde Sozialgeschichte der Tuberkulose in Österreich vor. Chronologisch wird die Geschichte der Seuche, die zur Zeit Josephs II. den Beinamen "Wiener Krankheit" erhielt, vom ausgehenden 18. bis ins 20. Jahrhundert analysiert. Von den "Schwindsuchten" der vorstatistischen Zeit mit ihren Begrifflichkeiten (Schwindsucht, Phthise und Abzehrung) und Deutungen (als Krankheit der Oberschicht, der jungen Frauen und der Dichter) reicht das Panorama bis zum Einsatz chemotherapeutischer Verfahren gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Als Zäsur wird die Entdeckung des Tuberkuloseerregers durch Robert Koch und der Beginn des bakteriologischen Zeitalters gewählt. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt dementsprechend auf einer historischen Epidemiologie der Seuche mit Blick auf die alters-, geschlechts- und schichtenspezifischen Sterbeziffern seit den 1870er Jahren (Tuberkulose als Proletarierkrankheit) sowie auf ausgewählten Bekämpfungs- und Therapiemaßnahmen, wie etwa die Heilstättenbewegung nach der Wende zum 20. Jahrhundert, der Ausbau des Fürsorgenetzes in der Zwischenkriegszeit sowie die Gesundheitspolitik des nationalsozialistischen Regimes, das die Tuberkulosebekämpfung in einen Kampf gegen die Tuberkulösen umwandelte.
Mit ihrer Sozialgeschichte der Tuberkulose über mehr als zwei Jahrhunderte hinweg hat Elisabeth Dietrich-Daum Grundlagenarbeit geleistet. Auf einer Fülle von Quellenmaterial basierend, erreicht sie nicht nur ihr selbst gestecktes Ziel, die Basis für eine vergleichende Analyse des Tuberkulosegeschehens und der eingeschlagenen Interventionsstrategien im europäischen Kontext zu liefern, mühelos mit großer analytischer Schärfe und auf hohem wissenschaftlichen Niveau; vielmehr wird darüber hinaus deutlich, wie zentral dieser sozialmedizinhistorisch-epidemiologische Ansatz für die Urbanisierungs- und Stadtgeschichtsforschung sowie für die Kultur- und Sozialgeschichte allgemein ist. Eine Geschichte der Industrialisierung ist ohne die Geschichte der Tuberkulose nicht vollständig zu schreiben. Deshalb gebührt der Studie auch unter methodischen Gesichtspunkten eine Aufmerksamkeit, die weit über die Landesgrenzen hinausgeht.
Jörg Vögele