André Schnyder (Hg.): Thüring von Ringoltingen. Melusine (1456). Nach dem Erstdruck Basel: Richel um 1473/74, Wiesbaden: Reichert Verlag 2006, 2 Bde., X + 203 S. + 159 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-89500-508-4, EUR 128,00
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Das anzuzeigende Teilfaksimile von Bernhard Richels Melusine-Druck und der zugehörige Kommentarband sind zuerst ein Editionsprojekt und werden als solches in den philologischen Rezensionsorganen gewürdigt werden, während es hier um eine kunsthistorische Besprechung geht. Jan-Dirk Müller hatte 1990 eine kommentierte Ausgabe der Melusine nach der Fassung des Augsburger Druckers, Verlegers und Buchmalers Johann Bämler von November 1474 vorgelegt, die bis heute als editio princeps galt. Für diese Wahl sprach auch der leichter verständliche Text, der vom verlorenen Urtext Thürings weiter entfernt ist als Richels (vgl. dazu M. Habermann in Bd. II, 101). [1] Obzwar kein Faksimile, wurden schon dort die Holzschnitte der Ausgabe 1474 vollständig und stellenrichtig präsentiert. André Schnyders Ausgabe gibt nun die Bildseiten des kolorierten Exemplars der Landesbibliothek Karlsruhe und den vollständig transkribierten Text mit Übersetzung in Band 1, in Band 2 einen Stellenkommentar und Aufsätze zu Autor, Werk, Drucker und Sprache.
Für Kunsthistoriker und Buchkundler ist diese Publikation lobenswert und interessant, weil dieser frühe Prosaroman mit sehr unterschiedlichen, durch Feenerzählung und Ritterepsioden geprägten Bilderfolgen erfolgreich war. Schon die französische Handschriftentradition(en) nach der Versfassung Coudrettes und des Prosatextes von Jean d'Arras im Auftrag des Herzogs von Berry kannte zahlreiche Bilderhandschriften mit originellen Bildfindungen - deren verlorener Prototyp sich womöglich bis in die Märzminiatur der Très riches heures auswirkte. Zu erwarten sind Überlegungen zur Dependenz der Holzschnitte von den Federzeichnungen der Basler Papierhandschrift, einer Abschrift des Meyer zum Pfeil von 1471 (Universitätsbibliothek Basel Ms. O I 18) und Hinweise zu deren Ikonografie und gestalterischer Kultur. Denn die von Martina Backes 2004 gestellten Fragen nach der französisch-deutschen Literaturvermittlung im 15. Jahrhundert sind auch für die Miniaturen, Zeichnungen und Holzschnitte noch ungeklärt.
Schnyders Vorwort lanciert als Leitfrage, die bislang schwachen Zweifel an Bämlers Melusine von 1474 als Erstdruck zu erhärten (Bd. I, IXf.). Im Katalog der Freiburger Universitätsbibliothek hatte Vera Sack bereits 1985 mit Hinweis auf datierte Wasserzeichen den Basler Druck für früher möglich erklärt; in einer unveröffentlichten Lizenziatsarbeit aus Basel war ihr Monika Butz 1987 darin gefolgt und hatte die Abhängigkeit nach Vergleich aller Holzschnitte umgekehrt, ohne sich die Frage nach einem dritten, gemeinsamen Vorläufer zu stellen. Im ersten Band spielt die Frage des Erstdrucks jedoch keine Rolle, vielmehr geht es um die sprachlichen Besonderheiten. Mit jeder Zeile belegt Schnyder, wie wichtig es ist, auch die scheinbar verständlichen deutschen Texte des Spätmittelalters zu übersetzen und im Stellenkommentar (II, 3-48) Begriffe und Wortbedeutungen detailliert zu erörtern. Hier sind auch für den Nichtfachmann Entdeckungen möglich, wenn etwa der Rekurs auf Aristoteles diskutiert und entsprechende Stellen in den Romanen von Jean d'Arras und Coudrette miteinbezogen werden (4f.).
Im zweiten Band schreibt Vinzenz Bartlomé über "Thüring von Ringoltingen - ein Lebensbild" (II, 49-60) und beginnt dafür in Berns "großer Zeit", dem Verhältnis zu Burgund und dem politischen wie ökonomischen Aufschwung, mit Münsterbau und Stadtchronik nach 1420. Die Herkunft aus dem Simmental und der Aufstieg des Vaters Rudolf in den Rat der Stadt werden rekonstruiert (II, 50f.). Jugend, erste Ämter und Vogt in Baden sind die Etappen bis 1456, dem Jahr der Widmung der "Melusine" an Rudolf von Hochberg, dem späteren Grafen von Neuenburg. Über Thürings Verhältnis zu ihm ist nichts übermittelt, aber Schnyders Stellenkommentar enthält einige mit Coudrette vergleichende Überlegungen, wonach der Berner nicht im Auftrag schrieb (II, 5, Anm. 15, 16, 18). Thüring folgte seinem Vater ins höchste Amt, als dieser 1456 zurücktrat und galt seinen Zeitgenossen als treuer Lehensmann und geschickter Unterhändler (II, 59). Es steht im Raum, dass diese Nachfolge ihn von weiteren schriftstellerischen Arbeiten abhielt.
Das einleitende movens von der Basler editio princeps wird von Ursula Rautenberg bearbeitet (II, 66-99). Der Ausgangspunkt für die Umdatierung ist offensichtlich: noch im Gesamtkatalog der Wiegendrucke GW 12655 (Lieferung 2004) wurde Bämlers Druck, der das Datum 2. November 1474 trägt, ohne Argumentation als Vorbild für Richels Ausgabe berichtet, obwohl sein Text und die Nähe seiner Holzschnitte zu den Federzeichnungen der Handschrift Basel, Universitätsbibliothek Ms. O I 18 dagegen sprechen. Nur: dass Richel wohl früher als bislang angenommen als Drucker in Basel arbeitete, sein Papier für die Melusine bereits ab 1473 möglich war, er in Nürnberg Schulden hatte, die er mit der Melusine hätte begleichen können, er Bücher nach Augsburg sandte, das sind alles Indizien eines möglichen Druckes ab 1473. Alle Argumente für weitergehende Abhängigkeit des "unbedeutenden Augsburger Schneiders" (76, Sp. 2) von Richels Melusine bleiben leider blass neben dem Ringen um weitreichende Ausdeutung der Prosopografie, die von Niklaus Meyer zum Pfeil (75f.) als Bibliophilem zum Nürnberger Kungschaher als Darlehensgeber Richels reicht (77).
Eine ausgewogenere Beurteilung der Frage der ersten Drucke erfolgt beiläufig: "Richel und Bämler werden ihre Melusine-Ausgaben unabhängig voneinander geplant haben, denn bei Bämlers Ausgabe handelt es sich nicht um einen Nachdruck des Basler Textes. Auch dieses Beispiel zeigt, dass besonders für die Anfangszeit des Druckes nicht ungeprüft mit einfachen 'Vorlage-Abdruck-Verhältnissen' gerechnet werden darf." (II, 76) Warum sollten nicht auch die Formschneider in die nicht "einfachen 'Vorlage-Abdruck-Verhältnisse'" einbezogen werden? Hier würde eine kunsthistorische Untersuchung die Bilder der historisch, motivisch und räumlich nahen Basler Handschrift Ms. O I. 18 herangezogen haben, von der kein Vergleichsbeispiel geboten wird. [2] Das Fehlen kunsthistorischer Forschung wird zwar beklagt, dann jedoch auf Pfister 1937 aufgebaut, der Schwächen zwar benennt, sein Lob Richels aber ganz aus dem Basler Umfeld speist, in welchem solche Holzschnitte bis dato nicht zu sehen waren. Was aber ist mit Richels Nürnberger Herkunft? Was ist mit der "oberrheinischen" Hand des Zeichners gemeint? [3]
Im Allgemeinen ist ein Faksimile-Projekt Anlass zu kunsthistorischer Kommentierung gerade auch der kleinen, "unbedeutenden" Meister, respektive der Leistungen von Werkstätten. Statt mit alten Werturteilen operierend die Lücken der Forschung zu beklagen, wäre hier die Buchgestaltung als "komplexes Vorlage-Abdruck-Verhältnis" mit von der Handschrift verschiedenem Anspruchsniveau zu erörtern gewesen. Wertmaßstäbe wie "absolute Einheit von Text und Bild" (nach Pfister 1937, hier 67), geschweige denn "Erhabenheit" sind nicht sinnvoll bei einer Buchproduktion ohne erkennbaren Originalitätsanspruch. Umgekehrt kennzeichnet Bämlers freie Handhabung von Vorlagen nicht nur seine Melusine als Buch mit eigenständiger mise en page, die anders als Richels ganzseitige und breit gerahmte Bildseiten die Text-Bild-Einheit mehr im Typografischen sucht, wogegen Richel noch mit der Handschrift konkurriert. Nicolas Bock hat hierzu 2006 Überlegungen vorgetragen, die die Bilderfolgen mit unterschiedlichen Publikumsansprüchen verbinden. [4] Selbst wer der neuen Chronologie folgt und die Kenntnis des Richel-Drucks annimmt, sollte nicht von Nachschnitten Bämlers (und seiner Formschneider) reden: Verkleinerung, Senkung des Horizonts, Richtungsänderungen zugunsten einheitlicher Bewegung von links nach rechts, andere Gesten, "korrigierte" Größenverhältnisse und gemessen am viel kleineren Bildfeld großer, oft nicht mit Richels Holzschnitten identischer Detailreichtum sind Argumente für eine - zumindest - freie Aneignung.
Unbestritten sind der von Richel gedruckte Text und seine fast ganzseitigen Holzschnitte ihrem "systematischen Alter" (George Kubler) nach näher am Widmungsjahr 1456 als Bämlers Ausgabe, zudem waren sie durch Nachdrucke in Genf und Lyon in französischen Ausgaben sehr erfolgreich. Dieses Faksimile und sein Kommentar können darum nur begrüßt werden. Über das Verhältnis der Holzschnitte untereinander sollte aber erst nach weiterer Forschung geurteilt werden. So begrüßenswert die bildwissenschaftliche Öffnung der Germanistik und ihr Verständnis für Texte als materialgebundene Artefakte sind, so wünschenswert ist es für die Zukunft, die Kunstgeschichte in die fächerübergreifende Erforschung von Büchern mit einzubeziehen.
Anmerkungen:
[1] Nähere bibliografische Angaben zu hier nur mit Namen und Jahr zitierter Literatur können dem besprochenen Werk, Band II, entnommen werden.
[2] Von keiner der Melusinen-Handschriften gibt es ein (Teil-)Faksimile, nur der Genfer Erstdruck Adam Steinschabers von 1478 mit dem Text von Jean d'Arras und Richels seitenverkehrten Holzschnitten wurde 1978 faksimiliert (L'Histoire de la belle Mélusine de Jean d'Arras, Genf 1978).
[3] Neuere Forschungen wie beispielsweise L. E. Saurma: Burgund als Quelle höfischen Prestiges [..], in: Oberrheinische Studien 21 (2003), 61-93 zur oberrheinischen Kunst, und E. König: Augsburger Buchkunst an der Schwelle zur Frühdruckzeit, in: Augsburger Buchdruck und Verlagswesen, hg. von H. Gier und J. Janota, Wiesbaden 1997, 173-200 über J. Bämler als Buchmaler fehlen dementsprechend.
[4] Nicolas Bock: Im Weinberg der Melusine. Zur Editions- und Illustrationsgeschichte Thürings von Ringoltingen, in: 550 Jahre deutsche Melusine, Coudrette und Thüring von Ringoltingen (Kongress Münchenwiler 28.8. - 2.9. 2006), hg. von A. Schnyder und J.-C. Mühlethaler, im Druck.
Christian Vöhringer