Steven G. Ellis / Raingard Eßer (eds.): Frontiers and the Writing of History, 1500-1850 (= The Formation of Europe / Historische Formationen Europas; Bd. 1), Hannover: Wehrhahn Verlag 2006, 320 S., ISBN 978-3-86525-251-7, EUR 29,50
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Die öffentliche Funktion des Historikers bestand im 19. und frühen 20. Jahrhundert vor allem darin, Grenzen zu ziehen und zu legitimieren. Dies steht in krassem Gegensatz zu den 'vormodernen Schulen' der Historiographie, für die Grenzen, 'Grenzmarken' und Grenzziehungen eine erstaunlich geringe Rolle spielten. Erst als eine Grenzverschiebung im Ernstfall auf den mehr oder weniger gewaltsamen Wechsel einer regionalen, sprachlichen, konfessionellen oder nationalen Identität hinauslaufen konnte, hörte die 'Grenze' auf, ein sekundäres Phänomen zu sein und wurde zu einem Forschungsgegenstand, in dem Historiker gleichsam als 'Duellanten' ihrer Nation oder ethnischen Gruppe auftreten konnten.
Der von Steven G. Ellis (Galway) und Raingard Eßer (Bristol) herausgegebene Sammelband will 12 Einzelstudien zur Rolle von Grenzen innerhalb 'nationaler Meisternarrative' geben. Ziel ist es, die entsprechenden Unterscheidungen in Form von Ein- und Ausgrenzung aus wandelbaren nationalen Perspektiven nachzuzeichnen. Den Zeitraum bestimmt eine 'lange Frühe Neuzeit' von 1500 bis 1850, geographisch konzentrieren sich die Autoren, mit Ausnahme der österreichischen Militärgrenze und Preußen, auf Nordwesteuropa und die USA.
Günter Vogler (Berlin) und Günther Lottes (Potsdam) eröffnen den Band mit zwei sich teilweise überschneidenden Grundsatzreferaten zur Problematik der Grenze zwischen Geographie und Geschichte in der Frühen Neuzeit. Damit wird der Blick frei für die nachfolgenden 'historiographischen Beschreibungen' der Grenze. Der Leser sollte sich freilich darüber im Klaren sein, dass der Reflexionshorizont, d.h. das 'Schreiben der Geschichte', von den einzelnen Beiträgern ganz unterschiedlich definiert wird. Die Skala reicht hier von klassischen Studien wie von Joachim Eibach (Bern) über die Darstellung der regionalen Identität von Preußen (Ost- wie Westpreußen) im 17. Jahrhundert bei Ranke, Droysen und Hintze bis zu einem eher regional- und mentalitätsgeschichtlichen Überblick über die Wechselfälle der schleswig-holsteinischen Identität über 350 Jahre von Thomas Riis (Kiel).
Sichtbar wird auch, dass gerade die Beschäftigung mit Grenzzonen eine das Thema institutionalisierende Gewalt nicht ausklammern kann. In gleicher Weise schließen diese Untersuchungen an seit langem etablierte Forschungsrichtungen an, denen apologetische Züge im Bezug auf nationale Selbstentwürfe noch heute keineswegs fremd sind. Dies gilt z.B. für Allan Macinnes (Aberdeen) Studie zu den irischen 'Pflanzungen', "Making the Plantations British, 1603-1638". Er wendet sich explizit gegen die Gleichsetzung von 'Iren' und amerikanischen Ureinwohnern bei anglo-schottischen Siedlungskonzepten und verweist im Gegenteil auf die wichtige Rolle der Iren bei der gewaltsamen Erschließung Nordamerikas. Einen gewaltsamen Hintergrund legt auch die Überblicksstudie von William O'Reilly (Cambridge) zur Historiographie der österreichisch-ungarischen 'Militärgrenze' zwischen 1521 und 1881 frei. Solange dieser geographische Raum seiner militärischen Logik gemäß funktionieren konnte, trug er in hohem Maße zur Befriedung und äußerlichen Integration heterogener Ethnien bei. Mit dem Ende der Militärgrenze 1881 wurde gerade dieser Bereich zu einer Zone permanenter Instabilität, ablesbar noch an der kroatischen Invasion der Krajina im Jahre 1995.
Ganz auf die lokale Geschichtsschreibung konzentriert sich Raingard Eßer (Bristol) in ihrem Beitrag zur Entwicklung von regionaler und städtischer Identität als Konsequenz des langsamen Auseinanderwachsens der nördlichen und südlichen Niederlande. Konfession, Dynastie, Ereignisgeschichte und lokale Traditionen stabilisierten langfristig zwei nie ganz einander entfremdete 'zusammengesetzte Regionen'. Geschichtsschreibung spielte hier eher eine defensive Rolle, im Gegensatz zur militant gegenreformatorischen 'Historia Sacra' von Matthäus Rader oder Maximilian Rassler. Nach Trevor Johnson (†) wurden hier die Grenzen der Heilsgeschichte und der Häresie erfolgreich verschoben.
Nach Nordamerika führen die beiden letzten Aufsätze von Hermann Wellenreuther (Göttingen) und Claudia Schnurmann (Hamburg). Wellenreuther befasst sich mit dem Spezialfall einer Grenzsiedlung der Delaware-Indianer unter Führung des Herrnhuter Missionars David Zeisberger (1721-1808), des 1772 gegründeten und 1778 aufgegebenen Schönbrunn. Das Scheitern dieses Versuchs zivilisierten Zusammenlebens stellt, gerade weil hier eine Synthese indianischen und christlichen Verhaltens versucht wurde, den klassischen Konzepten wie "middle ground" oder "borderer" kein gutes Zeugnis aus. Die 'Grenze' versagte hier als mentale Transformationszone. Schade nur, dass Wellenreuther den naheliegenden Vergleich mit den Jesuitenreduktionen in Paraguay nicht mehr unternimmt. Mit der gelungenen Transformation von 'wilderness' und 'frontier' in die Nationalparkbewegung der USA beschließt Claudia Schnurmann das Buch. Die ideale Grenze zieht sich in das natürliche Reservat zurück; der Mensch (d.h. der ehemalige Siedler) muss draußen bleiben, darf aber in der intakten Natur seine eigene vormalige Utopie bewundern.
"Frontiers and the Writing of History" verfolgt konsequent die Ansätze, mit denen die Ambitionen der älteren Historiographie bislang revidiert wurden: 'Grenzen' sind Konstrukte, sie sind dem historischen Wandel unterworfen, sie bedeuten eher Räume als Linien, öfter Verbindungen oder gestaffelte Übergänge als schroffe Abbrüche. Die Perspektiven ihrer Bewohner und Überschreiter unterscheiden sich oft radikal von denen ihrer historiographischen Beschreiber oder Entwerfer. Zu allen diesen Ansätzen steuern die hier gesammelten Aufsätze neue Erkenntnisse oder doch zumindest wertvolle Ergänzungen und Vergleichsbeispiele bei. Neue, obwohl schon bewährte Theorien wie kognitions-wissenschaftliche und systemtheoretische Ansätze spielen in dem Band dagegen keine Rolle. Da das Konzept der 'Identität' in vielen Beiträgen eine zentrale Position einnimmt, wäre es nur angemessen gewesen, der Verbindung von Grenze und Identität im Theoriebereich verstärkte Aufmerksamkeit zu widmen.
Alle diese Einschränkungen treten jedoch hinter dem einzigen ernsthaften Mangel dieser Sammlung zurück: Sie kommt ohne eine einzige Karte aus, d.h. sie schreckt vor klaren Grenzziehungen im 'Raum des Buchs' zurück. Man mag den 'cartographical turn' für eine der vielen heute modischen 'Wenden' halten, im Bereich der Grenzforschung ist er es nicht. Von den meisten der hier besprochenen Grenzen hat auch ein avancierter Leser keine deutliche Vorstellung. Ohne Karten kann er viele der interessantesten Ergebnisse nicht nachvollziehen. Wer also das hier versammelte Wissen ausschöpfen will, muss sich in mühsamer Suche spezialisiertes Kartenmaterial beschaffen. Dem Leser diese Arbeit abzunehmen, hätte dem Band gut angestanden.
Markus Völkel