Mario Niemann: Die Sekretäre der SED-Bezirksleitungen 1952-1989 (= Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2007, 446 S., ISBN 978-3-506-76401-0, EUR 39,90
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Arnd Bauerkämper / Francesco Di Palma (Hgg.): Bruderparteien jenseits des Eisernen Vorhangs. Die Beziehungen der SED zu den kommunistischen Parteien West- und Südeuropas (1968-1989), Berlin: Ch. Links Verlag 2011
Andreas Malycha / Peter Jochen Winters: Die SED. Geschichte einer deutschen Partei, München: C.H.Beck 2009
Heike Amos: Politik und Organisation der SED-Zentrale 1949 - 1963. Struktur und Arbeitsweise von Politbüro, Sekretariat, Zentralkomitee und ZK-Apparat, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2003
Hans Bentzien: Was geschah am 17. Juni? Vorgeschichte - Verlauf - Hintergründe, Berlin: edition ost 2003
In seiner umfangreichen Studie befasst sich Mario Niemann mit den herausragenden Funktionären der DDR auf regionaler Ebene: den Sekretären der SED-Bezirksleitungen von der Gründung der Bezirke im Jahr 1952 bis zum politischen Umbruch im Herbst 1989. Konkret handelt es sich um die Ersten Sekretäre mit ihrer Allzuständigkeit in Bezug auf ihren regionalen Herrschaftsbereich. Einige von ihnen waren sogar im Politbüro vertreten. Genannt werden müssen ferner ihre "Stabschefs", die Zweiten Sekretäre, deren Tätigkeit sich speziell auf die Belange der Partei erstreckte, und die Sekretäre, die für das "Herzstück" der Parteiarbeit, die Agitation und Propaganda, zuständig waren. Die übrigen Sekretäre leiteten im Allgemeinen spezielle Ressorts parallel zu den Aufgabenbereichen der staatlichen Organe (Wirtschaft, Landwirtschaft, Volksbildung, Kultur). Aufgrund des sehr unterschiedlichen politischen Gewichts der einzelnen Sekretäre drängt sich freilich die Frage auf, ob ihre gemeinsame Untersuchung in einer Studie Sinn macht. Auch die Verortung von Einfluss und Macht (Zentrale, Bezirk, Kreis) ist wohl tatsächlich komplexer gewesen, als Niemann es darstellt. Der Sektorenleiter im SED-Zentralkomitee war in der Parteihierarchie wohl höher angesiedelt als ein Sekretär einer Bezirksleitung. Trifft dies aber auch für einen Ersten SED-Bezirkssekretär zu, zumal wenn dieser im Politbüro vertreten war? Wohl kaum.
Grundlage der Studie sind einerseits umfangreiche Archivrecherchen sowie zum anderen schriftliche Auskünfte von Zeitzeugen, die sich darüber hinaus häufig auch für Interviews zur Verfügung stellten. Niemann, der sich im Allgemeinen auch als profunder Kenner der einschlägigen Fachliteratur zeigt, konnte insgesamt den Kontakt zu 23 ehemaligen SED-Bezirkssekretären herstellen. Dieser Erfolg weist darauf hin, dass der Verfasser offensichtlich über ein gutes Maß an Einfühlungsvermögen im Umgang mit den "Spitzengenossen" verfügte.
Die Arbeit gliedert sich in Anlehnung an die beiden dominierenden Fragenkomplexe in zwei große Hauptteile: kollektivbiografische Analysen sowie Einfluss und Handlungsspielräume des besagten Funktionärskreises. Die beiden Hauptteile werden eingerahmt durch Kapitel zur Struktur der SED-Bezirkssekretariate sowie zu den Ereignissen in den regionalen Parteigliederungen im Herbst 1989, wobei Niemann unter Struktur in erster Linie die Ressortbereiche der Sekretäre und den Wandel im Zuschnitt von Aufgabenbereichen und weniger die Apparate versteht. Die gruppenbiografischen Untersuchungen im ersten Hauptteil (Kapitel 3) auf der empirischen Grundlage von 415 Einzelbiografien betreffen die Darstellung der offiziellen Kaderpolitik und Konjunkturen des tatsächlichen Kadereinsatzes (Fluktuation, Stagnation), generationenspezifische Betrachtungen, die Frage nach ereignisgeschichtlichen Zäsuren, besondere Prämissen (parteipolitische und fachliche Ausbildung, Qualifizierungsmaßnahmen, Frauenanteil, der mit Ausnahme der Ressorts Kultur und Bildung sehr niedrig war) und schließlich die Präsenz von Sekretären in übergeordneten Parteigremien als Ausdruck eines herausgehobenen politischen Stellenwertes. Eine genaue Aufschlüsselung und ein detaillierter Vergleich von Lebensverläufen wird dagegen nicht betrieben. Der zweite Hauptteil (Kapitel 4) widmet sich zunächst in einem längeren allgemeinen Abschnitt den politischen Spielräumen der Bezirksebene. Die kreative, also nicht buchstabengetreue "schöpferische" Umsetzung von Beschlüssen konnte durchaus im Interesse übergeordneter Instanzen liegen. Es folgen sechs Fallbeispiele aus dem letzten Jahrzehnt der DDR, davon drei aus dem Bezirk Dresden, zur Auseinandersetzung der zentralen Machtorgane in Berlin mit SED-Bezirkssekretären, wobei es sich teilweise um bekannte (Hans Modrow, Konrad Naumann), andererseits aber um weniger geläufige Fälle (Vorfälle um die "Ostsee-Zeitung") handelt. Vorgeworfen wurde den betreffenden Funktionären entweder direkt persönliches Fehlverhalten oder aber zumindest die Tolerierung von Fehlentwicklungen in ihrem Bezirk. Im Mittelpunkt eines Vorfalls aus dem Jahr 1982 steht zwar der Vorsitzende des Rates des Bezirkes Dresden, Manfred Scheler, also nicht ein SED-Bezirkssekretär, das betreffende Sekretariat war jedoch von den Auseinandersetzungen mit der Zentrale ebenfalls betroffen. Warum aus den Jahrzehnten zuvor kein Fallbeispiel untersucht wird, erschließt sich dem Leser nicht. Jenseits solcher interessanter Ausnahmesituationen dürfte jedoch auch die Rekonstruktion des "sozialistischen Herrschaftsalltags", auf den Niemann eher beiläufig eingeht, für künftige Forschungen von großer Bedeutung sein.
Im Mittelpunkt der kollektivbiografischen Untersuchungen steht in den 1950er Jahren die allmähliche Verdrängung einer älteren durch Weimarer Republik, NS-Verfolgung und Kriegsgefangenschaft geprägten Generation durch junge, unerfahrene, aber politisch formbare Genossen, denen sich ungewöhnliche Aufstiegsmöglichkeiten boten. Häufig wurden diese Chancen jedoch nicht genutzt, da die betreffenden Funktionäre den in sie gesetzten Erwartungen nicht gerecht werden konnten. Ein hoher "Kaderverschleiß" war die Folge. Mit der Herausbildung eines politisch und fachlich geschulten Kaderreservoirs kehrte Stabilität in der Kaderplanung und -entwicklung ein und die Funktionäre, die Mitte der 1960er und in den Folgejahren als Bezirkssekretäre eingesetzt wurden, blieben bis in die 1980er Jahre in Amt und Würden. Häufig wurden sie erst im Herbst 1989 auf massiven Druck der Öffentlichkeit durch eine jüngere Generation ersetzt, die freilich zur damaligen Kaderreserve zählte und daher alles andere als einen Neuanfang repräsentierte. Bei den Ersten SED-Kreissekretären scheint übrigens in den 1980er Jahren mit einem Austausch lang gedienter, älterer Funktionäre begonnen worden zu sein. Ihre Nachfolger galten allerdings ebenfalls als uneingeschränkt politisch zuverlässig, also keineswegs als "Reformer".
All diese Entwicklungen im Hinblick auf die SED-Bezirkssekretariate und ihre Sekretäre werden von Niemann in genauer Kenntnis der allgemeinen politischen Rahmenbedingungen und Zäsuren souverän nachgezeichnet. Die Untersuchung der offiziellen Gründe für Kaderveränderungen stößt freilich nicht selten auf Schwierigkeiten, wird doch häufig allgemein auf "gesundheitliche Faktoren" verwiesen. Das dürfte freilich nicht immer den Tatsachen entsprechen, könnte also in einigen Fällen auch vorgeschoben sein.
Dass Studien mit ganz ähnlichen Fragestellungen und methodologischen Ansätzen bereits vorliegen, wird von Niemann nicht thematisiert. Die Betonung, es handele sich bei seinem Werk um eine Pilotstudie, ist daher irreführend. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass wissenschaftliche Untersuchungen zur SED insgesamt, aber auch zu ihren regionalen Struktureinheiten und Funktionären, trotz des beherrschenden Einflusses der Partei noch immer nicht im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehen, ist die Themenauswahl von Niemann für seine Habilitationsschrift sehr verdienstvoll. Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass Analysen zum Gegenstand der SED-Bezirkssekretäre neben Erkenntnissen zur Partei im engeren Sinne sowie zu regionalgeschichtlichen Entwicklungen immer auch Ergebnisse zum besseren Verständnis der Funktionsmechanismen des Gesamtstaates liefern.
Heinz Mestrup