Rezension über:

Tobias Kunz: Skulptur um 1200. Das Kölner Atelier der Viklau-Madonna auf Gotland und der ästhetische Wandel in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte; 45), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2007, 344 S., ISBN 978-3-86568-131-7, EUR 69,00
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Rezension von:
Ebbe Nyborg
Nationalmuseum Kopenhagen
Redaktionelle Betreuung:
Gerhard Lutz
Empfohlene Zitierweise:
Ebbe Nyborg: Rezension von: Tobias Kunz: Skulptur um 1200. Das Kölner Atelier der Viklau-Madonna auf Gotland und der ästhetische Wandel in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2007, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 7/8 [15.07.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/07/13446.html


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Tobias Kunz: Skulptur um 1200

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Ein herausragendes, bahnbrechendes Buch für die Erforschung der mittelalterlichen Kunst im Ostseeraum. Es geht davon aus, dass es auf Gotland im 12. Jahrhundert eine Gruppe künstlerisch überragender Holzskulpturen gibt, mit der berühmten Viklau-Madonna (heute im Statens Historiska Museum Stockholm) als Hauptstück, die die gleichen Stilformen und die gleiche qualitätvolle Ausführung aufweisen. Ihr besonderer ästhetischer Wert und ihre Bedeutung für die Forschung liegen auch darin, dass bei ihnen in großen Teilen die ursprüngliche Bemalung, die Vergoldung und die Edelsteinimitationen erhalten sind.

Die schwedische Kunstgeschichtsforschung hat sich schon lange mit diesen Stücken befasst. Nachdem Carl Baron af Ugglas sie 1915 von zeitgleichen französischen Domportalen abzuleiten versucht hatte, wies Aron Andersson (zusammen mit Göte Ask) 1962 nach, dass ihre stilistischen Voraussetzungen im Rheinland zu finden sind. Diese These konnte Peter Tångeberg später kunsttechnologisch untermauern und damit zeichneten sich die Umrisse einer rheinischen Werkstatt ab, die in den letzten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts wohl in Visby wirkte.

Auch deutsche Kunsthistoriker haben schon bemerkt, dass sich in Skandinavien hervorragendes Material befindet, um nicht nur die gotländische, sondern auch die gleichzeitige rheinische Kunstproduktion zu untersuchen. Doch erst Tobias Kunz hat mit dieser breit angelegten Arbeit diesen Ansatz vertieft. Diskussion und Dokumentation sind ausgesprochen fachübergreifend angelegt, indem die stilistischen und ikonografischen Betrachtungen durch kunsttechnische, theologische, liturgische und historisch-kunstgeografische Aspekte ergänzt werden. Es ist bemerkenswert, wie kompromisslos der Verfasser primärem Material und Literatur nachgeht und wie sehr er dabei ins Detail geht.

Das Buch besteht aus sechs großen Kapiteln, gefolgt von einem Katalog über "romanische Holzmadonnen am Niederrhein, in Westfalen, im Maasland und in Skandinavien (1150-1225)". Das erste Kapitel ist der Viklau-Werkstatt gewidmet, der neben der Madonna vier bis fünf Kruzifixe zugerechnet werden, von denen das bekannteste sich in der Kirche von Hemse befindet. Als gemeinsames Charakteristikum sieht Kunz die Figuren durch "ein Wechselspiel zwischen sinnlicher Nähe und zeichenhafter Distanz zu den Gläubigen" bestimmt. Die Kruzifixe leitet er vom Kölner Gero-Kruzifix (vor 976) ab, wobei er jedoch die Leidenszüge, wie die schmerzlich zusammengezogenen Augenbrauen, durch byzantinische Motive verstärkt sieht. Im zweiten Kapitel behandelt er "Die Viklau-Gruppe und die gotländische Tradition" vor dem Hintergrund der historisch-ökonomischen Besonderheiten Gotlands. Interessanterweise sieht Kunz die Ankunft der Viklau-Werkstatt um 1170/80 nicht als einen so scharfen Bruch mit dem Vorhandenen. Einige ihrer Merkmale waren auf Gotland schon vorhanden, das heißt in der Werkstatt ergab sich offenbar ein Zusammenspiel mit vorgefundenen Traditionen.

Das dritte Kapitel behandelt "Die Stellung der Viklau-Gruppe innerhalb der kölnischen, maasländischen und westfälischen Skulptur der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts". Es geht von dem zerstreuten rheinischen Material aus sowie den sich daraus ergebenden Schwierigkeiten der Unterscheidung und Lokalisierung einzelner Werkstätten. Am klarsten zeichnet sich die Werkstatt um die sogenannte Hovener Madonna ab, zu der auch der bekannte sogenannte "Berliner Engel" gehört. Die Übereinstimmungen mit den Arbeiten der Viklau-Werkstatt legen eine zeitliche und örtliche Zusammengehörigkeit der beiden Werkstätten nahe. Dafür sprechen wichtige kunsttechnologische Beobachtungen, die zuerst von Peter Tångeberg gemacht wurden. Danach folgt eine generelle Analyse zuerst der Madonnen, dann der Kruzifixe nach Form und Ikonografie. Als Resultat ergibt sich unter anderem, dass das sogenannte "Mirakelkruzifix" in Elspe im Sauerland als das nächstverwandte Vergleichsstück zu den gotländischen Skulpturen anzusehen ist. Schließlich erörtert der Verfasser das Verhältnis zwischen Stein- und Holzskulpturen sowie die Rolle der Kleinkunst als Vorbild für Monumentalskulptur. Verwunderlich ist, dass der Autor es nur als Besonderheit der Steinskulptur zu verstehen scheint, die Arbeit mit der Umrisszeichnung zur Figur auf dem Steinblock zu beginnen. Gilt für die Bildschnitzer nicht genau das Gleiche?

Das vierte Kapitel "Nordfrankreich und die niederrheinische Skulptur des 12. Jahrhunderts" ist fast eine Abhandlung in der Abhandlung. Die Darstellung geht vom neuen Humanismus und der neuen "Psychologie" der französischen Kathedralschulen aus, in denen der Verfasser die Herkunft der Vermenschlichung der Christus- und Mariendarstellungen im 12. Jahrhundert sieht. Er folgt nun in Nordfrankreich den Spuren chronologisch von Portal zu Portal (ca. 1135-80), deren direkte Wirkung auf die rheinische Kunst jedoch eher bescheiden ist. Zwischen den vielen, oft verblüffenden Einzelheiten sind manche Beziehungen zum schwedischen Material zu finden. So haben die Portale in St.-Denis und Chartres Frauenköpfe, die bis ins Detail an die Viklau-Madonna erinnern. Ihre "selbstständig kreuzenden Falten" über der Brust vergleicht Kunz (wie zuerst af Ugglas) mit einer Frauenfigur in Étampes, während er das Antlitz des Hemse-Kruzifixes an einer Portalfigur von St.-Pierre de Montmartre in Paris wiederfindet.

Im fünften Kapitel "Romanische Madonnen auf dem schwedischen Festland" erörtert Kunz die verblüffend vielen schwedischen Madonnen jener Zeit und ihre Gruppierung. Ihre typenmäßige Gleichartigkeit sieht er nicht als Resultat der Wiederholung besonderer Gnadenbilder, sondern einer standardisierenden Produktion in den Stiftsorten, wo sich westdeutsche und englische Einflüsse bemerkbar machten. Ein besonderer Abschnitt behandelt Spuren rheinischer Arbeiten und Werkstätten in Schweden wie auch in Norwegen. Und er schließt, dass das Auftreten der kölnischen Viklau-Werkstatt auf Gotland kein isolierter Einzelfall war.

Das sechste Kapitel "Die Viklau-Madonna als Altarfigur" konnte der Verfasser fast ausschließlich aus dem einzigartig reichen nordischen Material gestalten, das nicht nur Altarfiguren (mit Befestigungsspuren), sondern auch Schreine, Altarziborien, Wandmalereien mit Altarcharakter etc. umfasst. Nach Tångebergs Untersuchungen wird die Viklau-Madonna in einem Heiligenschrank, einem sogenannten Tabernakel, gestanden haben. Das ist wahrscheinlich richtig, doch man fragt sich, wie verbreitet solche Tabernakel im 12. Jahrhundert waren. Jedenfalls dürften die romanischen Altarnischen in den Kirchen in der Regel zu schmal für die Türflügel der Tabernakel gewesen sein. Es leuchtet nicht ganz ein, wenn Kunz darauf beharrt, die Altarfiguren seien älter als die Wandmalereien; auch nicht, wenn er zu respektvoll der Idee von Anna Nilsén folgt, die Kruzifixe der Viklau-Gruppe seien ursprünglich Altarkreuze gewesen. Ein abrundender Exkurs über Marienretabel und das mariologische Programm des sogenannten "goldenen Altars" aus Lisbjerg (im Nationalmuseum Kopenhagen) enthält viel Interessantes. Leider strickt er aber dabei an einer längst überholten Theorie fort, dass solche Altäre ursprünglich für größere Kirchen gemacht wurden und erst später in die Dorfkirchen kamen.

Zu jedem Kapitel gehört eine nützliche Zusammenfassung, hingegen vermisst man ein zusammenfassendes oder ausblickendes Resümee. Insgesamt kann man sagen, dass der Text nicht immer die vollen Konsequenzen aus den vielen feinen Analysen und Hinweisen zieht. Dem Leser werden unzählige Stücke zu einem ästhetischen und intellektuellen Erlebnis präsentiert, die die Augen öffnen für unerkannte, doch fast organische Zusammenhänge über den europäischen Kontinent hinweg.

Die vielen selbstständigen Unterthemen vermitteln Zusammenhänge für das Hautthema "Skulptur um 1200" in den drei Untersuchungsgebieten Schweden, Deutschland und Frankreich. Ab und zu geraten diese Exkurse jedoch zu lang, sodass sie die ohnedies schon sehr komplizierte Struktur des Buches verunklaren und zertrennen. Auch der große Abschnitt zur französischen Portalskulptur wirkt in vielen Teilen als Exkurs. Das liegt auch an der Konzentration auf die Portalskulptur, die nicht unter das allgemeine Oberthema der farbigen Holzskulptur fällt. Deswegen verwundert es, dass der Verfasser anstelle verschiedener Portale nicht gleichzeitige, gefasste Holzmadonnen aus Frankreich gewählt hat, die eine Art Brücke zwischen der Portalskulptur und dem deutschen und schwedischen Material hätten bilden können. Zugegeben, es gibt nur noch wenige relevante französische Madonnen, doch können sie - gerade auch im Hinblick auf die gleichzeitige steinerne Portalskulptur - belegen, dass es viele zeitgleiche französische Madonnen (und Kruzifixe) von höchster Qualität gab. Daher wäre es auch leichter zu verstehen, wie die Stilströmungen wellenförmig durch Europa laufen konnten. Kunz nennt mit Recht Kleinkunst und Vorlagenbücher als Medien. Aber war - so ist zu fragen - der Austausch unter den überall vorhandenen Meistern farbiger Holzskulpturen nicht noch wichtiger?

Es ist ein Glücksfall für die mittelalterliche Kunst Schwedens, dass ihre Meisterwerke so direkt mit Spitzenwerken der westeuropäischen Kunst verglichen werden können. Und es ist eine Anerkennung für schwedische Forscher wie Aron Andersson und Peter Tångeberg, dass hier ihre Erkenntnisse Bestätigung finden, vermehrt und verallgemeinert werden. Mit seinem erkenntnisreichen Werk hat Tobias Kunz wahrhaftig eine Türe für die europäische Kunstgeschichtsforschung geöffnet.

Ebbe Nyborg