Volker Grieb: Hellenistische Demokratie. Politische Organisation und Struktur in freien griechischen Poleis nach Alexander dem Großen (= Historia. Einzelschriften; Heft 199), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2008, 407 S., ISBN 978-3-515-09063-6, EUR 77,00
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Lange Zeit herrschte in der Forschung die Meinung vor, im Hellenismus sei es zum Niedergang der Polis oder zumindest der demokratischen Institutionen gekommen; diese hätten zwar formal fortbestanden, de facto aber habe sich die Macht in den Händen einer kleinen Elite konzentriert. Gegen eine solche Sichtweise ist in den letzten Jahren zunehmend die Vitalität der hellenistischen Polis und die Kontinuität demokratischer Entscheidungsformen betont worden. Dieser Trend wird dadurch unterstrichen, dass mit der Hamburger Dissertation von Volker Grieb bereits die zweite Monografie erschienen ist, deren zentrales Untersuchungsziel darin besteht, die Demokratie als 'Normalverfassung' freier hellenistischer Poleis nachzuweisen. [1]
In der Einleitung (13-26) erläutert Grieb sein Vorgehen, das er aus einer umfassenden Kritik an der Forschung herleitet: Frühere Arbeiten hätten den Blick entweder nur auf die städtischen Honoratioren (in Anlehnung an Max Weber) oder die politischen Institutionen der Polis gelegt; eine Diskussion der "kaum miteinander zu vereinenden Sichtweisen einer politisch dominierenden Elite einerseits und einer politisch-institutionellen Vitalität andererseits" (20) sei dagegen noch nicht erfolgt. Diese Lücke verspricht Grieb zu schließen, indem er sowohl die politische Organisation der hellenistischen Poleis aus der Perspektive der Bürgerschaft darstellt als auch die Handlungsmöglichkeiten der städtischen Elite im Rahmen dieser Organisation erörtert.
Dies geschieht anhand von vier Fallbeispielen, die den weitaus größten Raum des Buches einnehmen: Athen, Kos, Milet und Rhodos (27-353). Die Auswahl beruht auf der reichen epigrafischen Überlieferung und dem außenpolitischen Spielraum dieser Poleis. Der Aufbau der vier Kapitel folgt einer einheitlichen Systematik: Zunächst wird die Gruppe des demos definiert und die Bedeutung des Bürgerrechts erörtert, danach der Blick auf die Institutionen der Polis gelenkt und anschließend die politische Praxis anhand eines Abrisses der Polisgeschichte untersucht; dabei wird vor allem der Zusammenhang zwischen äußeren Ereignissen und der inneren Politik analysiert.
In seinen Untersuchungen zu den vier Poleis gelangt Grieb zum Ergebnis, dass es zwar kleinere Varianzen gegeben habe, die grundlegenden politischen Charakteristika jedoch dieselben gewesen seien: Der demos (Grieb vermeidet den Begriff Volk, weil dieser sowohl die Bürgerschaft als auch die Gesamtheit der ansässigen Bevölkerung bezeichnen könne und deshalb unpräzise sei) habe jeweils aus einer fest umrissenen Gruppe politisch gleichberechtigter Männer bestanden, die Bedeutung des Bürgerrechts sei in hellenistischer Zeit sehr hoch gewesen. Von einer Entpolitisierung könne keine Rede sein, ebenso wenig von einem Bedeutungsverlust der Volksversammlungen. Diese seien in hellenistischen Poleis häufig abgehalten und von zahlreichen Bürgern besucht worden, und sie seien allen anderen politischen Institutionen übergeordnet gewesen. Amtsträger seien von der Bürgerschaft gewählt worden und hätten nach Ende der Amtszeit Rechenschaft ablegen müssen; somit hätten sie, so Grieb, in einer doppelten Abhängigkeit von der Bürgerschaft gestanden. Auch sei die außenpolitische Situation vom ausgehenden 4. bis zum Beginn des 2. Jahrhunderts v.Chr. für die Demokratie günstig gewesen: Wegen der Auseinandersetzungen zwischen den hellenistischen Königen hätten die Poleis stets über mehrere Optionen verfügt, die wiederum von einzelnen prominenten Bürgern oder Gruppierungen vertreten worden seien. Die Parteigänger der verschiedenen Könige hätten um die Gunst der Bürgerschaft konkurriert, und durch diese Konkurrenz habe es nicht zu einer Konzentration von politischer Macht im Sinne einer Honoratiorenherrschaft kommen können. Die Volksversammlung sei vielmehr die entscheidende Instanz für die Verteilung von Macht und Ehren geblieben. Eine Tendenz zur Oligarchisierung ist laut Grieb in keiner der untersuchten Poleis zu erkennen. Beispielsweise sei der für Kos nachgewiesene Verkauf von Priesterämtern auf Lebenszeit nicht in diese Richtung zu deuten, weil die Priesterämter keine politische Bedeutung besessen hätten (174f.).
Eine einschneidende Veränderung sei erst durch das Erscheinen der Römer in Griechenland im 2. Jahrhundert v.Chr. erfolgt. Hierin folgt Grieb einer geläufigen Periodisierung in eine frühe und eine späte hellenistische Phase [2], er sieht jedoch einen anderen Kausalzusammenhang zwischen römischer Hegemonie und den Veränderungen in den Poleis als frühere Forschungen: An die Stelle des Konzerts der Mächte mit mehreren außenpolitischen Optionen sei die alternativlose Anlehnung an Rom getreten, an die Stelle vielfältiger Interessengruppen eine einzige prorömische Partei. Die Bürgerschaft habe nun nicht mehr zwischen verschiedenen Lagern entscheiden können, und damit sei der Boden für die Herausbildung einer Oligarchie bereitet gewesen.
Ein abschließendes Kapitel (355-378) bündelt die gewonnenen Ergebnisse und enthält weiterführende Überlegungen zum Begriffsgebrauch von demokratia, eleutheria und autonomia in hellenistischen Inschriften. Gegen John Ma [3] argumentiert Grieb, dass die Begriffe keinesfalls austauschbar gebraucht worden seien; vielmehr bezeichne demokratia präzise die institutionelle Ordnung einer Polis. Ein Literaturverzeichnis und ein Quellenindex schließen das Buch ab, ein Sachindex fehlt.
Kritik ist an der unzureichenden Formulierung des Untersuchungszieles zu üben. Es soll nachgewiesen werden, dass die freien hellenistischen Poleis Demokratien gewesen seien, aber was ist damit genau gemeint? Der Klappentext und die Einleitung deuten darauf hin, dass die Ähnlichkeit zur athenischen Demokratie aufgezeigt werden soll, doch Gedanken zu deren prägenden Charakteristika fehlen. Nur ein Kriterium wird genannt, die Konkurrenz politischer Gruppierungen (22); diese ist allerdings kein Spezifikum von Demokratien und steht einer Honoratiorenherrschaft nicht entgegen. Die Ausgangsannahme, vitale politische Institutionen unter Beteiligung des Volkes schlössen die Dominanz einer kleinen Führungsschicht aus, erscheint mit einem Blick auf die römische res publica fraglich; hier wäre zu untersuchen, ob und wie es gelingen konnte, überlegenes Sozialprestige in politische Macht umzumünzen. Kaum zu halten ist außerdem die Behauptung, mit der römischen Dominanz ende die Konkurrenz innerhalb der Führungsschicht: Zweifellos veränderten sich im 2. Jahrhundert v.Chr. die Bedingungen für das politische Handeln in den Poleis, die Konkurrenz um Ämter und Ehren hingegen setzte sich fort.
Der zentrale Argumentationsgang kann somit nicht überzeugen, dennoch wird die Arbeit ihren Platz in der momentan sehr regen Forschung zur hellenistischen Polis finden; wegen der systematischen Darstellung der Organisation hellenistischer Poleis wird man sie gerne zur Hand nehmen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. S. Carlsson: Hellenistic Democracies. Freedom, Independence and Political Procedure in Some East Greek City-States, Uppsala 2005.
[2] Z.B. P. Gauthier: Les cités grecques et leurs bienfaiteurs (IVe-Ier siècle avant J.-C.). Contribution à l'histoire des institutions, Paris 1985; P. Fröhlich / C. Müller (eds.): Citoyenneté et participation à la basse époque hellénistique, Genf 2005.
[3] J. Ma: Antiochos III and the Cities of Western Asia Minor, Oxford 1999, 161.
Christian Mann