Wolfram Kaiser: Christian Democracy and the Origins of European Union (= New Studies in European History), Cambridge: Cambridge University Press 2007, xii + 374 S., ISBN 978-0-521-88310-8, GBP 55,00
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Wolfram Kaiser / Jan-Henrik Meyer (eds.): Societal Actors in European Integration. Polity-Building and Policy-making 1958-1992, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2013
Morten Rasmussen / Ann-Christina Lauring-Knudsen (eds.): The Road to a United Europe. Interpretations of the Process of European Integration, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2009
Christopher Clark / Wolfram Kaiser (eds.): Culture Wars. Secular-Catholic Conflict in Nineteenth-Century Europe, Cambridge: Cambridge University Press 2003
Obwohl die Rolle der politischen Parteien im europäischen Integrationsprozess schon seit langem ein Thema vor allem politikwissenschaftlicher Forschung ist, hat sich die Geschichtswissenschaft bislang erstaunlich wenig mit den transnationalen Kontakten der europäischen Parteien beschäftigt. Ein 2006 von Jürgen Mittag publizierter Sammelband über die Parteien und die Europäische Integration [1] schlug erste Schneisen in ein noch offenes Forschungsfeld, indem eine Zwischenbilanz gezogen und offene Fragen thematisiert wurden. Auch innerhalb des parteipolitischen Spektrums gibt es große Unterschiede hinsichtlich des Forschungsstandes. Während man bei den liberalen Parteien und ihrer transnationalen Kooperation ganz am Anfang der Forschung steht, sind die sozialdemokratischen Parteien und die der Christdemokraten vergleichsweise gut erforscht. Letzteres gilt vor allem dank der Arbeiten von Wolfram Kaiser, der sich schon seit einigen Jahren mit der europäischen Integration und transnationalen Kooperation christdemokratischer Parteien beschäftigt. Insofern kann der vorliegende Band als eine Art Zusammenfassung seiner bisherigen Forschungen gelesen werden.
Der Band ist chronologisch gegliedert und beginnt bereits im 19. Jahrhundert. Auch wenn es vor 1914 keine institutionalisierte Form der Kooperation zwischen katholischen Parteien gab, die mit den sozialistischen Internationalen vergleichbar war, entwickelten sich doch transnationale Kontakte. Ein Beispiel ist das internationale Sekretariat christlicher Gewerkschaften, das 1899 in Köln gegründet wurde. Eine eigentliche Kooperation von Parteien allerdings existierte nicht. Das, so betont Kaiser, hatte verschiedene Gründe: Zum einen hatte das Papsttum kein Interesse an einer nationalen politischen Vertretung des Katholizismus, schon gar nicht an einer übernationalen Kooperation. Gerade Pius IX. verstand sich selbst als übernationaler Vertreter des Katholizismus. Trotzdem entstanden überall in Westeuropa katholische politische Parteien, die jedoch alle - ähnlich wie die Sozialdemokraten - als "national unzuverlässig" galten und sich daher bemühten, ihre nationale Gesinnung zu betonen. Internationale Kooperation wirkte hierbei eher hinderlich. Hinzu kam, dass es - dies im Gegensatz zur Sozialdemokratie - abgesehen vom gemeinsamen Glauben große Unterschiede zwischen den katholischen Parteien Westeuropas gab.
Die Situation änderte sich deutlich nach dem Ersten Weltkrieg. Insbesondere nach dem Vertrag von Locarno, der als wichtiger Meilenstein europäischer Kooperationspolitik in der Zwischenkriegszeit gilt, intensivierten sich auch die parteipolitischen Kontakte. Sie fanden ihren institutionellen Ausdruck im "Sécretariat International des Parties Démocratiques d'Inspiration Chrétienne" (SIPDIC) mit Sitz in Paris. Doch blieb auch dies in den Anfängen stecken. Im Zentrum verschiedener Kongresse, die im Rahmen der SIPDIC stattfanden, wurden die wesentlichen Fragen der internationalen Politik dieser Zeit diskutiert: Die deutsch-französische Verständigung, die Reparationsfrage und das Problem des aufkommenden Faschismus. Erneut erwiesen sich die Unterschiede größer als die Gemeinsamkeiten der christdemokratischen Parteien. Als Beispiel mag der Kölner Kongress der SIPDIC von 1927 gelten. Während die deutschen Vertreter eine Resolution gegen den Faschismus forderten, war die Unterstützung der französischen Delegierten nur halbherzig, Belgier und Niederländer waren sogar gegen eine Verurteilung des Faschismus, den sie als Bollwerk gegen den Bolschewismus ansahen. Doch gab es auch Gemeinsamkeiten: So plädierten die europäischen Christdemokraten 1927 für eine europäische Zollunion und einen Gemeinsamen Markt, die Resolution wurde europaweit in der katholischen Presse publiziert. Letztlich, so betont Kaiser überzeugend, war die nationale Identität den meisten Katholiken wichtiger als die übernationale konfessionelle Bindung.
Nach 1945 begann dann die große Zeit der christdemokratischen Parteien in Westeuropa. Wesentlich wurde, dass nun die wichtigsten Staaten Westeuropas von Christdemokratischen Parteien dominiert wurden, vor allem die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien und auch die Benelux-Länder. Sie teilten neben der gemeinsamen Weltanschauung nun auch andere politische Kernüberzeugungen: Zentral waren die Abwehr des Kommunismus, die enge politische Bindung an die USA und auch das marktwirtschaftlich-korporativistische Wirtschaftsverständnis. Wichtig in organisatorischer Hinsicht waren hier die 1947 gegründeten "Nouvelles Equipes Internationales" und der "Genfer Kreis". In diesem Rahmen, so Kaiser, wurden die Weichen für die wichtigen supranationalen europäischen Organisationen der fünfziger Jahre, die Montanunion, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und EURATOM gestellt. Hier trafen sich die wesentlichen Akteure, Robert Schuman, Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi, Georges Bidault, schon bevor sie verantwortliche Regierungsämter in ihren Ländern übernahmen. Die Ursprünge supranationaler europäischer Integration liegen daher, so Kaisers zentrale These, in diesen transnationalen christlich-demokratischen Netzwerken der unmittelbaren Nachkriegszeit und der 1950er Jahre. Diese These vermag Kaiser auf breiter Quellenbasis zu belegen. Und dennoch geht sie doch bisweilen zu weit: Der Autor selbst verweist darauf, dass die Mitglieder des Netzwerkes diesen entscheidenden Einfluss nur ausüben konnten, weil sie gleichzeitig Regierungsverantwortung hatten. Insofern ist schwer zu unterscheiden, ob diese Netzwerke nur deswegen so wichtig wurden, weil ihre Mitglieder herausragende politische Positionen innehatten, oder ob es umgekehrt war. Hinzu kommt, dass die These dazu führt, externe Akteure und Strukturen zu unterschätzen: Jean Monnet beispielsweise, war kein Mitglied der katholischen Netzwerke in Europa, dennoch von großer Bedeutung gerade für die Entstehung der Montangemeinschaft. Gleiches gilt etwa für die Rolle der USA in diesem Prozess.
Die christlichen Netzwerke hatten mit der Gründung der EWG 1957 dann auch ihren Höhepunkt überschritten. In den sechziger Jahren konnten sie nicht mehr den Einfluss behalten, weil verschiedene Strukturbedingungen sich änderten: Zum einen geriet die Christdemokratie unter innenpolitischen Druck, in den meisten europäischen Ländern gewann die Sozialdemokratie in den 1960er Jahren an Einfluss. Hinzu kam die Säkularisierung der westeuropäischen Gesellschaften, die die Christdemokratie schwächte. Auch die Gaullistische Blockade der EWG und der europäisch-atlantischen Integration insgesamt entzog den christdemokratischen Netzwerken ihre Basis. Die Nouvelles Equipes Internationales wurden 1965 umorganisiert in die "Europäische Union Christlicher Demokraten" (EUCD) nicht zuletzt als Reaktion auf die langsam wachsende Bedeutung des Europäischen Parlamentes im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften. Doch erwies sich auf die EUCD als organisatorisch schwach und den neuen Herausforderungen zumal der ersten Direktwahl des Europäischen Parlamentes nicht mehr gewachsen. An ihre Stelle trat daher 1976 die EVP.
Insgesamt hat Wolfram Kaiser ein wichtiges Buch geschrieben, und zwar aus folgenden Gründen: Zum einen macht er am Beispiel der christlich-katholischen Parteien deutlich, dass der europäische Einigungsprozess nicht auf die Zeit nach 1945 reduziert werden darf. Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzten intensive europäische Integrationsvorgänge ein, weniger bei den katholischen Parteien, aber sonst auf fast allen gesellschaftlichen Ebenen, zum Teil auch in der Politik. Für die Interpretation und das Verständnis der Europäischen Integration nach 1945 ist eine vertiefte Erkenntnis der Integrationsprozesse vor 1914 notwendig; die Forschung hierzu befindet sich noch in den Anfängen. Zum zweiten weist er auf die Bedeutung transnationaler Netzwerke gerade für die entscheidende Anfangsphase der supranationalen Integration hin. Die Bedeutung von Netzwerken unterschiedlicher Herkunft für die Europäische Integration ist bislang kaum erforscht worden, auch hier ist ein weites Forschungsfeld für die Zukunft eröffnet.
Anmerkung:
[1] Jürgen Mittag (Hg.): Politische Parteien und europäische Integration. Entwicklung und Perspektiven transnationaler Parteienkooperation in Europa, Essen 2006.
Guido Thiemeyer