Agnes Winter: Das Gelehrtenschulwesen der Residenzstadt Berlin in der Zeit von Konfessionalisierung, Pietismus und Frühaufklärung (1574-1740) (= Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte; Bd. 34), Berlin: Duncker & Humblot 2007, 474 S., ISBN 978-3-428-12439-8, EUR 86,00
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In ihrer nun im Druck vorliegenden, am Historischen Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin bei Heinz Schilling entstandenen Dissertation beschäftigt sich Agnes Winter mit einem ebenso prominenten wie bildungsgeschichtlich interessanten Untersuchungsgegenstand: Ihr Thema ist die Herausbildung eines mehrkonfessionellen höheren Bildungswesens in der Hauptstadt Brandenburg-Preußens. Als chronologische Eckdaten der Untersuchung dienen das Einsetzen der eigentlichen lutherischen Konfessionalisierung in Brandenburg nach dem Regierungsantritt Kurfürst Johann Georgs (1571) und der Beginn der friderizianischen Zeit, mit der für Winter das "Zeitalter der Aufklärung" begann. (13)
Methodisch wird ein institutionengeschichtlicher Ansatz mit einer stark kontextbezogenen Herangehensweise kombiniert. Es geht der Autorin darum, das Berliner Gelehrtenschulwesen "vor dem Hintergrund der allgemeinhistorischen Entwicklung in Brandenburg-Preußen" (11) zu untersuchen, wobei vor allem das Konfessionalisierungs-Konzept erkenntnisleitend eingesetzt wird. Damit setzt sich Winter, wie in der Einleitung der Arbeit (Teil A) gezeigt wird, klar gegenüber der bekannten Referenzstudie von Wolfgang Neugebauer zum Verhältnis von absolutistischem Staat und Schulwirklichkeit [1] ab, die dem Schulwesen in den Kernprovinzen Brandenburg-Preußens schwerpunktmäßig im 18. Jahrhundert bereits eine eingehende Betrachtung gewidmet hat. Winters Interesse liegt hingegen vor allem im 17. Jahrhundert - in einer Zeit also, als die konfessionsgeschichtliche Entwicklung Brandenburgs durch den Übertritt des Kurhauses zum reformierten Bekenntnis (1614) und dem daraus folgenden Antagonismus des Landesherren, seines Hofes und der politisch-administrativen Führungsschicht zu der weiterhin lutherischen Bevölkerungsmehrheit und den Ständen eine prägende Neuorientierung erlebt hatte. Die Folgen dieser Entwicklung und des angesprochenen Antagonismus für das Bildungswesen der Residenzstadt Berlin sind das eigentliche Thema der vorliegenden Untersuchung.
Zu den traditionellen lutherischen Heimstätten gelehrter Bildung in der Doppelstadt Berlin-Cölln - dem Gymnasium zum Grauen Kloster und der Schwestereinrichtung in Cölln - kamen nach dem Dreißigjährigen Krieg auf Initiative des Landesherrn reformierte Bildungseinrichtungen hinzu: die um 1650 in die Hauptstadt transferierte Fürstenschule, das Joachimsthalsche Gymnasium, 1681 eine bikonfessionelle Gelehrtenschule in der kurfürstlichen Neustadt Friedrichswerder, sowie im Jahr 1689 das unter kurfürstlichem Patronat stehende Collège François der Hugenottengemeinde.
Nachdem in Teil B die Rahmenbedingungen der Arbeit dargestellt wurden (Konfessionalisierung, Pietismus, Frühaufklärung in Brandenburg-Preußen), wird in Teil C die Genese der genannten Schulen in institutioneller, administrativer und finanzieller Hinsicht behandelt. In Teil D erfolgt eine prosopographische Untersuchung der Rektoren, Lehrer und Schüler der Schulen hinsichtlich Anzahl, Konfession, regionaler und sozialer Herkunft sowie beruflicher Karrieren. Teil E liefert eine vergleichende Betrachtung der Unterrichtsstrukturen und des Lehrprofils, in Teil F folgen dann Beobachtungen zur Außenwirkung der Schulen und damit zu deren Integration in die städtische Gesellschaft.
In ihren Ergebnissen, die in Teil G vorgelegt werden, betont die Autorin die vielfältigen Abgrenzungsphänomene zwischen den lutherischen und den reformierten Bildungseinrichtungen. Während den Magistraten von Berlin und Cölln bei der Gestaltung ihrer Schulangelegenheiten vom Landesherrn "völlig freie Hand" gelassen wurde, sollte die in die Hauptstadt transferierte Fürstenschule "als Instrument zur Verbreitung des Reformiertentums" unter dem dort ausgebildeten künftigen Führungspersonal dienen (372 f.). Ebenso wie das Joachimsthalsche Gymnasium unterstand auch das französische Collège direkt dem Landesherrn, was sich auch finanziell auswirkte. Konfession, Herkunftsgebiete und geistige Prägung der Lehrer unterschieden sich diametral. Der hohen Attraktivität der Fürstenschule für auswärtige, auch nichtbrandenburgische Schüler (nicht zuletzt viele Adlige) stand die stärkere Verankerung der städtischen Gelehrtenschulen in ihrem lokalen Umfeld sowie in den lutherischen Kernprovinzen Brandenburg-Preußens gegenüber. Hingegen erkennt Winter hinsichtlich der Unterrichtspraxis und Lehrinhalte überwiegend Gemeinsamkeiten, wenn man davon absieht, dass am französischen Collège natürlich früher als anderswo cartesianische Philosophie aufgenommen wurde, und der philosophische Unterricht dort insgesamt eine größere Rolle spielte.
Das Eindringen des Pietismus in die Lehrerschaft und den Unterrichtsalltag, das sich am frühesten am Friedrichwerderschen Gymnasium nachweisen lässt und nach und nach alle Gelehrtenschulen erfasste, führte zu einer gewissen Angleichung der schulischen Verhältnisse. Freilich blieben konfessionelle Unterschiede auch hier bestehen, wie die von Winter betonte unterschiedliche Ausrichtung der lutherischen Schulen nach Halle und der reformierten Einrichtungen nach Bremen zeigt (380). Mit Blick auf die Rolle der untersuchten Schulen in der städtischen Gesellschaft spricht die Autorin insofern von "funktionale[n] Äquivalenzen der einzelnen Schulen innerhalb der jeweiligen Berliner Konfessionskulturen" (384), die sich - man denke an die Hugenotten - auch sprachlich-kulturell manifestierten.
Die vorliegende Untersuchung bietet eine Fülle überzeugender Ergebnisse, die über den konkreten lokalen Untersuchungsgegenstand hinaus vielfältige Einblicke in das Funktionieren gelehrter Bildungseinrichtungen im stadtgesellschaftlichen Kontext ermöglichen. Allenfalls die Bedeutung der Bildungsnachfrage (insbesondere der Eltern) für die Veränderung des Curriculums - etwa bei der an den städtischen Schulen früher und konsequenter verfolgten Einführung der deutschen Sprache - hätte genauer herausgearbeitet werden können. Außerdem stößt der von Winter mehrfach angestrengte Vergleich des Joachimsthalschen Gymnasiums mit den drei kursächsischen Fürstenschulen in Meißen, Grimma und Pforta rasch an Grenzen. Die sächsischen Schulen, die viel stärker den Gründungsmodellen der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verbunden blieben, erfüllten andere Funktionen und durchliefen in einer weitgehend homogen lutherischen Umgebung eine von den Berliner Verhältnissen sehr verschiedene Entwicklung, beispielsweise weitaus weniger in "Richtung einer adligen Standesschule" (378) mit internationalem Profil. Ob die Berliner Gelehrtenschulen tatsächlich "weitaus schneller auf die Bedürfnisse der sich modernisierenden Gesellschaft" reagierten als die Fürstenschulen in Sachsen, dessen gegenüber Brandenburg weitaus höhere Dichte städtischer Lateinschulen berücksichtigt werden muss, und die innovative Vorreiterrolle zwischen Sachsen und Brandenburg sich gegenüber dem 16. Jahrhundert umgekehrt habe, wie Winter meint (383f.), müssten wohl erst vergleichbare Studien auf sächsischer Seite zeigen. Die vorliegende Untersuchung gibt dafür ein quellengesättigtes und anregendes Beispiel und verdient breite Beachtung in der bildungs- und konfessionshistorischen Forschung.
Anmerkung:
[1] Wolfgang Neugebauer: Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit in Brandenburg-Preussen, Berlin 1985.
Thomas Töpfer