Rezension über:

Winfried Nerdinger / Inez Florschütz (Hgg.): Architektur der Wunderkinder. Aufbruch und Verdrängung in Bayern 1945-60, Salzburg: Verlag Anton Pustet 2005, 358 S., 563 Abb., ISBN 978-3-7025-0505-9, EUR 48,00
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Rezension von:
Stefanie Lieb
Kunsthistorisches Institut, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Ekaterini Kepetzis
Empfohlene Zitierweise:
Stefanie Lieb: Rezension von: Winfried Nerdinger / Inez Florschütz (Hgg.): Architektur der Wunderkinder. Aufbruch und Verdrängung in Bayern 1945-60, Salzburg: Verlag Anton Pustet 2005, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 1 [15.01.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/01/11744.html


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Winfried Nerdinger / Inez Florschütz (Hgg.): Architektur der Wunderkinder

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Gesamtdarstellungen über die deutsche Architektur der Nachkriegszeit und der 1950er Jahre sind nach wie vor rar gesät. Trotz der inzwischen erfolgten Unterschutzstellung vieler Gebäude und ganzer Stadtviertel aus dieser Zeit ist eine stilistische Charakterisierung und Würdigung dieser einzigartigen Phase der deutschen Architektur- und Stadtbaugeschichte zwischen Zerstörung, Wiederaufbau und Neuanfang nur katalogartig an Einzelbeispielen und in Ansätzen erfolgt. [1] Die vorliegende umfangreiche Ausstellungspublikation des Münchner Architekturmuseums, herausgegeben von Winfried Nerdinger und erarbeitet von Inez Florschütz, macht hier einen wichtigen Vorstoß, da in ihr die 50er-Jahre-Architektur Bayerns exemplarisch und systematisiert aufgearbeitet wird. [2]

Es ist eben nicht nur der Wunsch, sich von jedem nationalsozialistischen Monumentalismus abzusetzen und an funktionalistische Ideale der 20er-Jahre-Architektur wieder anzuknüpfen, die die 50er-Bauten prägen. Hinzu kommt der Entwurf eigener neuer ästhetischer Modelle, die durch klare, elegante Geometrien und verspielte Kurvaturen gleichermaßen bestechen. Diese Vielfalt und planerische Vitalität in allen Aufgabenbereichen, angefangen vom Notkirchenbau über das Städtebaukonzept, den Rasterbau bis hin zur Tankstelle, verdeutlicht der ausführliche Katalog der Publikation, der rund zwei Drittel des Gesamtumfangs ausmacht. Der Leser findet hier, gegliedert in die sechs Bereiche "Amerikaner", "Notbauten", "Neuorientierung", "Aufbruch in eine neue Gesellschaft", "Anknüpfung an die Geschichte" und "Umgang mit der Architektur der 50er", zusätzlich zu den genauen Daten und Beschreibungen von rund 200 ausgewählten bayerischen Bauten jeweils einleitende Texte, die eine überregionale Einordnung ermöglichen. Die reiche Bebilderung mit hervorragenden historischen Fotos sowie die bibliografischen Angaben vervollkommnen den Katalogteil. Als einzige Kritik sei nur angemerkt, dass die Systematik des Katalogs zwar chronologisch und thematisch schlüssig erscheint, zum Nachschlagen nach einzelnen Bauwerken jedoch nicht so geeignet ist. In diesem Fall wäre eine Gliederung nach Baugattungen empfehlenswerter gewesen.

Der erste Teil der Publikation besteht aus sieben einleitenden Essays, die neben architekturhistorischen Informationen auch den kulturellen und gesellschaftspolitischen Rahmen der 1950er Jahre in Deutschland beleuchten. Winfried Nerdinger resümiert die unterschiedlichen Positionen der Nachkriegsarchitektur als "Aufbrüche" in unterschiedliche Richtungen: Den Aufbruch nach rückwärts, also zurück zur NS-Zeit; den Aufbruch der ehemaligen NS-Architekten zur Moderne; die kontinuierliche Moderne im Industriebau; den Aufbruch zu neuen Zielen als Ausdruck einer neuen Gesinnung in der modernen Architektur und den Versuch einer Rettung der Tradition als Aufbruch in eine neue Zeit (10). Spezifisch für Bayern und besonders für die Stadt München als "Wallfahrtsort der alten Nazis" (10) war die Aufrechterhaltung konservativer Strukturen für den Städtebau und die Architekturplanung. Wesentlich bezeichnender für die Wiederaufbauzeit in Deutschland ist jedoch der Tatbestand, dass sich viele der in der NS-Zeit renommierten Architekten wie Wilhelm Kreis, Konstanty Gutschow oder Helmut Hentrich sehr schnell dem modernen, "demokratisch leichten" Bauen zuwendeten. Nerdinger argumentiert mit Recht, dass dieser schnelle Wechsel weitaus symptomatischer für die Verdrängungen in dieser Zeit sei als der Hinweis auf Kontinuitäten oder "biographische Verflechtungen" (14), den Werner Durth als Erklärungsmodell einführte. [3]

Den zweiten architekturspezifischen Essay liefert Kai Kappel mit einer Darstellung über den Umgang mit sowie die Bewertung von Ruinen und Trümmersteinen im Nachkriegsdeutschland. Er führt vor Augen, dass die Trümmerlandschaften für einige Zeit Deutschlands "Stadtansichten" prägten und die nachfolgende doch recht schnelle Entschuttung gar nicht unbedingt zuerst angedacht war. Genauso gut gab es Überlegungen, die städtischen Trümmerfelder als "Freilichtmuseen" einzurichten und daneben die neuen Städte zu planen und zu bauen (25). In Ermangelung von Baumaterial wie Stahl und Beton wurden die Trümmersteine natürlich auch zum Wiederaufbau genutzt. Über diese rein materielle Funktion hinaus erhielten sie jedoch eine Symbolik, die sie fast den Wert von Spolien oder Reliquien erreichen ließ. Nachkriegsarchitekten wie Hans Döllgast in München oder Hans Schilling in Köln integrierten Sichtmauerwerk aus Trümmersteinen in ihre Wohnhausbauten, um an die historische Tradition des Ortes und an die Kriegserinnerung anzuknüpfen (27). Besonders als Bausubstanz im Sakralbau erhielt das Material kriegszerstörter Bauten, wie z.B. auch von Bunkern oder Konzentrationslagern, eine bedeutungsstarke Relevanz: Kai Kappel spricht in diesem Zusammenhang von der "Verwandlung durch 'Sakralisierung'", die einen wichtigen Aspekt der Vergangenheitsbewältigung darstellt (30).

Im Anschluss an die Essays finden sich sechs aussagekräftige Porträts von bayerischen Nachkriegsarchitekten wie z.B. Kurt Ackermann, Fred Angerer oder Werner Wirsing, die ausgehend von den drei Fragen nach ihren damaligen architektonischen Zielen und Vorbildern sowie ihrem Umgang mit der vorangegangenen Epoche interessante und vor allem teilweise völlig divergente Antworten bieten.

Der vorliegende Band ist auf jeden Fall ein wichtiger Beitrag zur Forschung und Aufarbeitung der Nachkriegs- und 50er-Jahre-Architektur, einmal für die Region Bayern, dann aber darüber hinaus für den gesamtdeutschen Kontext. Er beinhaltet eine große Dichte an historischem Material, das durch die perfekte Aufarbeitung und Systematisierung an Leben gewinnt und uns die 50er-Jahre-Architektur als auch heute noch gültige Grundbasis vieler deutscher Städte besser verstehen lässt.


Anmerkungen:

[1] Werner Durth / Nils Gutschow: Träume in Trümmern. Planungen zum Wiederaufbau zerstörter Städte im Westen Deutschlands 1940-50, 2 Bde., Braunschweig / Wiesbaden 1988.

[2] Inzwischen ist eine ähnliche Ausstellungspublikation für die Stadt Köln erschienen: Stefanie Lieb / Petra Sophia Zimmermann: Die Dynamik der 50er Jahre - Architektur und Städtebau in Köln, Petersberg 2007.

[3] Werner Durth: Deutsche Architekten. Biografische Verflechtungen 1900-1970, München 1992.

Stefanie Lieb