Bettina Severin-Barboutie: Französische Herrschaftspolitik und Modernisierung. Verwaltungs- und Verfassungsreformen im Großherzogtum Berg (1806-1813) (= Pariser Historische Studien; Bd. 85), München: Oldenbourg 2008, VII + 410 S., ISBN 978-3-486-58294-9, EUR 49,80
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In den vergangenen Jahren war es still geworden um die Rheinbundforschung. Blieben die wegweisenden Studien von Elisabeth Fehrenbach, Helmut Berding, Barbara Vogel und Hans-Peter Ullmann in den 1970er und frühen 1980er Jahren noch umstritten, hat sich inzwischen längst die Auffassung der Gleichwertigkeit von rheinbündischen und preußischen Reformen durchgesetzt. Doch seither erlahmte das Interesse an den Fernwirkungen der napoleonischen Epoche in Deutschland, unterbrochen lediglich von vereinzelten Publikationen und der inzwischen auf sieben dickleibige Bände angewachsenen, noch viel zu wenig beachteten Quellenedition zur Reformpolitik der Rheinbundstaaten. [1]
Erst das Bicentenaire der einschneidenden Ereignisse zu Beginn des 19. Jahrhunderts scheint die historische Neugier wieder zu beflügeln (und zeigt nebenbei, dass auch - oder gerade - Historiker den Mechanismen der Erinnerungskonjunkturen unterliegen). Neben Arbeiten zur Säkularisation, Mediatisierung und zum Ende des Alten Reiches gerät in jüngster Zeit erneut die rheinbündische Epoche in den Blick. Von München bis Kassel gedachten Ausstellungen und Tagungen der Gründung der deutschen Mittelstaaten in der napoleonischen Ära und auch die Debatte um die napoleonische Modernisierungspolitik in Europa erlebt eine erneute Renaissance.
In diesen Trend reiht sich auch der hier anzuzeigende Band von Bettina Severin-Barboutie ein. Hatte die Autorin schon vor rund zehn Jahren einen instruktiven Aufsatz zum Vergleich der Modellstaatspolitik in Westfalen, Berg und Frankfurt vorgelegt [2], beschäftigt sich die bei Helmut Berding entstandene Dissertation nun ausschließlich mit dem in der Forschung bislang eher stiefmütterlich behandelten Großherzogtum Berg. In der Tradition der älteren Rheinbundforschung stehend, untersucht Severin-Barboutie die Durchsetzung der Reformpolitik mittels Verwaltungsreformen und das Ausgreifen der modernen Staatlichkeit in dem aus einer Vielzahl unterschiedlicher Territorien zusammengesetzten neuen Herrschaftsgebilde. Die komplexe Ausgangslage in den einzelnen Territorien detailliert nachgezeichnet zu haben, ist schon allein ein großes Verdienst. Darüber hinaus widmet sich Severin-Barboutie mit stupender Quellenkenntnis den Verwaltungsreformen und der Behördenreorganisation sowie der Neuordnung von Gewerbe und Justiz. Mit Blick auf die konstitutionelle Entwicklung und das Spannungsfeld von Modellstaatsabsichten und Herrschaftspolitik kann die Autorin gleich mit zwei Vorurteilen aufräumen. Im Einklang mit der neueren Forschung widerlegt sie ältere Auffassungen vom "Scheinkonstitutionalismus" der napoleonischen Verfassungsideen und wartet zugleich mit neuen Quellenfunden auf, die untermauern, wie stark sich entgegen landläufiger Meinung der erste Regent des Großherzogtums, Napoleons Schwager Joachim Murat, in der Reformpolitik engagierte.
Erfreulicherweise bleibt die Arbeit beim Etatismus der älteren Rheinbundforschung nicht stehen, sondern nimmt - geschult an Konzepten wie der "Herrschaft vor Ort" - auch die praktische Umsetzung der Reformpolitik auf der mittleren und unteren Behördenebene in den Blick. Unter "Staat" werden nicht länger nur der Regent und allenfalls die Behördenspitzen verstanden, sondern die ganze Vielzahl unterschiedlicher Kräftefelder, die an der Exekutive beteiligt waren und eine Rolle in den Gesetzgebungsverfahren spielten. Gezielt lenkt Severin-Barboutie daher den Blick auf Interessenvertretungen und nicht institutionalisierte Partizipationsformen im Vorfeld von Gesetzesentscheidungen. Darüber hinaus erörtert die Autorin am Beispiel der Kommunalreform die Schwierigkeiten bei der Implementierung und Anwendung von Reformvorgaben und macht deutlich, mit welchen Problemen die mittleren und unteren Verwaltungsebenen bei der Umsetzung der neuen Vorgaben zu kämpfen hatten. Anspruch und Wirklichkeit der Reformpolitik stimmten nur selten überein, hatte das Verwaltungshandeln vor Ort doch Rücksicht auf die bestehenden lokalen und personellen Verhältnisse zu nehmen. Die Übernahme der französischen Vorgaben hatte nur dort eine Chance, wo sie die örtlichen Ausgangsbedingungen einbezog. Gleichzeitig aber führte eben diese Anpassung an die vorgefundenen Verhältnisse immer wieder zu einer Modifikation oder sogar zur Konterkarierung der Reformvorgaben. Das zeigte sich etwa dann, wenn Verwaltungspositionen entsprechend dem französischen Vorbild nicht mehr nach Herkunft, sondern nach persönlicher Eignung vergeben werden sollten, während man in der Praxis aber vor allem den regionalen Adel mit diesen Funktionen betraute, um die alten Eliten für die französische Herrschaft zu gewinnen.
Es sind Einblicke wie diese, welche die Lektüre dieser "neuen Verwaltungsgeschichte" so gewinnbringend machen. Konflikte, auch das macht Severin-Barboutie deutlich, entzündeten sich weniger an einer grundsätzlichen Opposition gegen Frankreich als vielmehr im Spannungsfeld zwischen traditioneller Mentalität, aktuellen Stimmungslagen und der Opposition gegen Belastungen durch die immer stärkere staatliche Durchdringung vorher obrigkeitsferner Räume. Derlei Beobachtungen über die Reaktion der Bevölkerung auf die Reformpolitik des Großherzogtums hätte man mehr lesen mögen. Doch in dieser Hinsicht ist die Aussagekraft der hier verwendeten Regierungsakten begrenzt. Für eine politische Kulturgeschichte der napoleonischen Herrschaft bleibt - nicht nur im Großherzogtum Berg - noch viel zu tun.
Anmerkungen:
[1] Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten. Herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften durch Karl Otmar von Aretin und Eberhard Weis, München 1991ff.
[2] Bettina Severin: Modellstaatspolitik im rheinbündischen Deutschland, Berg, Westfalen und Frankfurt im Vergleich, in: Francia 24 (1997), 2, 181-203.
Ute Planert