Helmut Walser Smith: The Continuities of German History. Nation, Religion, and Race across the Long Nineteenth Century, Cambridge: Cambridge University Press 2008, vii + 246 S., ISBN 978-0-521-72025-0, GBP 15,99
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Johanna M. Singer: Arme adelige Frauen im Deutschen Kaiserreich, Tübingen: Mohr Siebeck 2016
Peter Dinzelbacher (Hg.): Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum. Bd. 5: 1750-1900, hrsg. v. Michael Pammer, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2007
Nils Freytag / Diethard Sawicki (Hgg.): Wunderwelten. Religiöse Ekstase und Magie in der Moderne, München: Wilhelm Fink 2006
Der deutsche Nationalismus und das Erbe des Antisemitismus sind Themen, mit denen sich der an der Vanderbilt-University lehrende Historiker Helmut Walser Smith schon häufiger auseinander gesetzt hat. Ungewöhnlich an den vorliegenden Studien ist der weite Blick zurück in die Vergangenheit. Smith setzt mit der Zerstörung der Regensburger Synagoge im Jahr 1519 ein, um sich dann langsam bis in das 20. Jahrhundert vorzuarbeiten. Gleichzeitig sind die Beispiele für antisemitisches Denken und Handeln nicht nur aus dem Gebiet des heutigen deutschsprachigen Mitteleuropa gewählt. Stärke und Schwäche des Buches sind damit benannt: Die "longue durée" weitet den Horizont, der geographisch ausgeweitete Beobachtungsraum schwächt die Fokussierung auf den Holocaust und seine Unverständlichkeit.
Im ersten Kapitel sucht Smith nach dem Fluchtpunkt deutscher Geschichte. Er diskutiert 1933 (Friedrich Meinecke), 1914 (Fritz Fischer), die Endphase der Weimarer Republik (Karl Dietrich Bracher), er bezieht sich auf Hannah Arendt und Martin Broszat, entscheidet sich dann für den Holocaust als den Punkt, an dem lange vorher wirksame historische Linien konvergieren. Ein zweiter diachroner Schnitt geht dem deutschen Nationalismus nach. Auch hier holt Smith weit aus und setzt bei den ersten kartographischen Darstellungen Deutschlands im 16. Jahrhundert an. Die Entwicklung der deutschen Sprache und eines deutschen Patriotismus verfolgt Smith bis zu Herder und Fichte. Nationen, so sein Resümee, werden imaginiert, gesetzt und erfunden.
Im dritten Kapitel setzt Smith mit dem Dreißigjährigen Krieg ein. Dieser religiös motivierte Krieg war für den Autor auch der Beginn religiös motivierter Gewalt gegen Andersgläubige. Der Westfälische Friede basierte auf dem Vergessen der gegenseitigen Gewalt. Die Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg setzte erst wieder ein, als nationales Bewusstsein damit verbunden werden konnte. Doch aus der Solidarität des Vergessens waren die Juden ausgeschlossen. Auf den Ruinen der Synagogen wurden Kirchen errichtet. Lokale Kulte, wie die Deggendorfer Gnad, machten seit dem 14. Jahrhundert ebenso die Stigmatisierung jüdischen Lebens sichtbar wie die Benennung von Straßen und Plätzen. Smith spricht von einer doppelten Memorialpraxis: Vergessen unter Anerkennung des Anderen - Erinnerung unter Leugnung der vollen Menschlichkeit des Anderen.
Der anti-jüdischen Gewalt widmet sich Smith im vierten Kapitel. Dabei weitet er den Blick bewusst über Deutschland hinaus. Die französische Dreyfus-Affäre wird ebenso behandelt wie das Pogrom von 1903 im damals zum Russischen Reich gehörenden Kishinev. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass die meisten antijüdischen Ausschreitungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im östlichen Mitteleuropa und in Osteuropa geschahen. Gelegentliche antijüdische Gewaltausbrüche haben, so sein offensichtlicher Befund, zwar auch im Deutschen Reich stattgefunden, sind aber typischer für das Habsburgische Reich und das zaristische Russland. In Deutschland kam es erst in der Weimarer Republik zu einer Grenzüberschreitung. Bis dahin war der Tod der jüdischen Bürger nicht anvisiert. Erst die Pogromnacht vom 9. November 1938 ließ die Hemmschwellen sinken.
So ist es konsequent, wenn Smith das fünfte Kapitel seines Buches mit "Eliminationist Racism" überschreibt. Es ist ein Durchgang durch wichtige Stationen der Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts, die allesamt als Beispiele antisemitischen Denkens bezeichnet werden können. Treitschke, Dühring, de Lagarde, der Berliner Antisemitismusstreit und andere werden genannt. Smith bezieht in seine Analyse auch die ethnologischen Überlegenheitsdiskurse Friedrich Ratzels mit ein, die im Zusammenhang des Kolonialismus entstanden. Auch rassenhygienische Gedanken, wie sie Alfred Ploetz vortrug, stehen für ihn in der Reihe, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer Veränderung der Denkweise führte. Dafür zieht Smith den Deutschbalten Paul Rohrbach heran, der während seiner Tätigkeit in Südwestafrika zur Meinung gelangte, den Afrikanern die Kulturfähigkeit überhaupt absprechen zu können, weshalb er ihn als einen geistigen Begleiter des Völkermords an den Herero kennzeichnen kann. Rohrbachs Werk "Der Deutsche Gedanke in der Welt" von 1912 und Heinrich Class' "Wenn ich der Kaiser wär" stellen für Smith dann am Vorabend des Ersten Weltkriegs den geistesgeschichtlichen Endpunkt einer Entwicklung dar, der mit Fichtes "Reden an die deutsche Nation" begonnen und in der religiösen Verbrämung des übersteigerten Nationalismus bis zur gedanklichen Möglichkeit der Vernichtung ganzer Völker geführt hatte.
Die Kontinuitätslinien, die Smith in dem langen Durchgang vom Beginn der Neuzeit bis in die Zeit des Dritten Reichs aufzeigte, sind jedoch, wie er selbst in der Schlussfolgerung ausführt, keineswegs geradlinig. Massenmord und Genozid implizieren die Existenz eines Staates. So ist die Kontinuität antisemitischen Gedankenguts auch nicht auslösender Faktor für den Holocaust. Er bedarf der Unterstützung durch einen nationalistisch überhöhten Staat. Dieser Nationalismus war im 19. Jahrhundert hoch gezüchtet worden. In der Absetzung von einer slawischen und einer jüdischen Kultur gelangte er in den ersten Jahren des Dritten Reichs zu dem Punkt, der dann den Holocaust ermöglichte.
Smiths Argumentation geht von der Kontinuität historischen Denkens aus. Und auch wenn es ihm um deutsche Geschichte zu tun ist, wird der Seitenblick auf Europa, vor allem Osteuropa, immer wieder gewagt. Ob er die Frage klären kann, warum es ausgerechnet in Deutschland, das sich in den Jahrhunderten zuvor zwar durch antijüdische Ressentiments, aber nicht durch einen ähnlich radikalen Antisemitismus wie in Osteuropa ausgezeichnet hat, zum Ausrottungsplan gekommen ist, mag bezweifelt werden. Erhellend ist in jedem Fall die Beziehung zwischen Religion, Nation und Rasse im Verlauf der Frühen Neuzeit. Vielleicht hat es auch mit der "Verspätung" der Nationwerdung zu tun, dass Rassismus in der radikalen Form entstehen konnte. Und vielleicht kann man auch die religiöse Übersteigerung der Nation zu Ungunsten der ethischen Implikationen der jüdisch-christlichen Religion heranziehen, um die ihrerseits zum Götzen gewordene Dominanz der Rasse zu erklären. Als Quintessenz formuliert: Es bedarf aller drei Faktoren - Nation, Religion und Rasse -, damit ein Gleichgewicht herrscht. Die Leugnung der jüdisch-christlichen Botschaft von der Gottebenbildlichkeit aller Menschen, unabhängig von Rasse und Nation, hat fatale Folgen - auch das gehört zu den Kontinuitäten deutscher Geschichte.
Joachim Schmiedl