Matthias Rohde: Juden in Rheinhessen. Studien zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Tönning: Der Andere Verlag 2007, XV + 367 S., 16 schw.-w. Abb., 68 schw.-w. Tab., 8 farb. Ktn im Anhang, davon 2 Faltktn, ISBN 978-3-89959-640-3, EUR 47,90
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In seiner von Michael Matheus betreuten Mainzer Dissertation lässt sich der Autor von zwei Problemstellungen leiten: 1. wie wirkte sich der insbesondere durch die rechtliche Gleichstellung seit 1798 und die Einführung der Gewerbefreiheit in der linksrheinischen hessen-darmstädtischen Provinz Rheinhessen bestimmte Wandel auf die Lebensumstände der Juden grundsätzlich und 2. im Vergleich mit den christlichen Einwohnern der Region aus?
Diese wirtschafts- und sozialgeschichtlich konzentrierten Fragen geht Rohde vor allem mit quantitativem Quellenmaterial an: Steuerverzeichnisse, Brandkataster, Inventare, insbesondere die 1817 in der Provinz einheitlich aufgestellten "Spezialmusterlisten", in der die Familienverhältnisse konskribierter potenzieller Rekruten zusammengefasst sind und die ihren besonderen Wert durch die Aufnahme des mobilen und immobilen Vermögenswertes der Familien erhalten. Trotz der annähernden Rechtsgleichheit wurden die Spezialmusterlisten für die jüdischen Familien separat angelegt und können so für die Rekonstruktion von 30 Gemeinden herangezogen werden.
Nach einer kurzen Einführung in die allgemeinen Tendenzen der rheinhessischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und einem Kapitel über die "Grundlagen jüdischen Lebens" ("Siedlungsstrukturen", Bevölkerungsentwicklung, "Rechtliche Entwicklung") vom Alten Reich bis in die hessische Zeit, wertet Rohde in einem zentralen Kapitel der Arbeit die Spezialmusterlisten für eine Momentaufnahme der Situation um 1817 aus. Die Berufsstruktur war - wenig erstaunlich - durch Handelstätigkeiten bestimmt, der annähernd zwei Drittel der Haushaltsvorstände nachgingen; unter den sieben Prozent Handwerkern überwogen die Metzger. Ein Drittel der verzeichneten Familien verfügte über Landbesitz, zum größten Teil wohl in der französischen Zeit erworben. Allerdings lässt der Besitzumfang bei zwei Dritteln der grundbesitzenden Familien vermuten, dass mit seiner Bewirtschaftung hauptsächlich der Eigenbedarf gedeckt wurde.
Die Vermögensverhältnisse der rheinhessischen Juden um 1817 sind mit denen der christlichen Bewohner der Region vergleichbar. Auch die Sozialstruktur der jüdischen Einwohnerschaft ähnelte der christlichen, indem in beiden Gruppen mehr als 70 Prozent der Unterschicht zuzurechnen waren. Lediglich im Bereich der völlig mittellosen Familien sind (prozentual) mehr Juden als Christen zu finden. In der Wohnsituation scheinen die jüdischen Einwohner zumindest in den Städten schlechter gestellt gewesen zu sein, während die Landjuden oft eigene Häuser bewohnten. Mit diesen Befunden zur überwiegend durchschnittlichen Vermögensstruktur lassen sich abwertende zeitgenössische Beschreibungen der Lage der rheinhessischen Juden hinreichend korrigieren.
An fünf Fallbeispielen, der Provinzhauptstadt Mainz, der Kleinstadt Bingen, der "Ackerbürgerstadt" Oppenheim und den beiden (mittelgroßen bis großen) Dörfern Alsheim und Osthofen, die nicht wegen strukturell differenzierter Merkmale, sondern wegen der Quellenlage ausgewählt wurden, vertieft der Autor seine Einsichten in die sozioökonomischen Verhältnisse der jüdischen Einwohner, indem er mit gleich bleibendem Analyseansatz Berufsstruktur, Grundbesitz und Vermögensverhältnisse vom 18. bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts untersucht. Dabei wird deutlich, dass sich die Gewerbefreiheit auch weiterhin kaum auf die Berufswahl auswirkte, jedoch die Vermögensverhältnisse sich insgesamt trotz lokaler Unterschiede anhaltend verbesserten und einzelne jüdische Händler zu den reichsten Einwohnern der Provinz aufstiegen. Die verbesserten Handelsbedingungen in der französischen Zeit, der Ausbau des Verkehrsnetzes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und wachsender Bedarf an Konsumgütern sind hierfür als Gründe zu benennen.
In einem "Exkurs" untersucht Rohde die materielle Ausstattung der jüdischen Familien als Gradmesser für Verbürgerlichungstendenzen mit dem Ergebnis, dass bedingt durch die höhere berufliche Mobilität städtische Einflüsse schneller zum Tragen kamen. Die Beschreibung des Aufstiegs einer Familie ländlicher Kleinhändler zu reichen städtischen Weinhändlern beschließt das Buch.
Der Wert dieser Arbeit liegt in der detaillierten Auswertung der - von Helmut Schmahl in ihrer sozialhistorischen Brisanz erkannten - "Spezialmusterlisten", mit der der wirtschaftliche Status der rheinhessischen Juden in einer Momentaufnahme exakt beschrieben werden kann, und anderer quantitativer Quellen, die stellenweise Einblicke in weiterführende Entwicklungen zulassen. Allerdings erscheint die Fragestellung insgesamt als zu eng. Sicherlich zählen die wirtschaftlichen Erfolge einiger Familien als wichtige Vorbedingung für den auch sozialen Aufstieg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der nicht zuletzt in der Partizipation am aufkommenden Vereinswesen und an lokalpolitischer Gremienarbeit seinen Ausdruck fand. Gerade deswegen wäre der Arbeit auch ein deutlicher sozialhistorischer Blick, ganz zu schweigen von neueren kulturgeschichtlichen Ansätzen, zu wünschen gewesen, der über die Frage des ökonomischen Aufstiegs hinaus zur Beschreibung der Dynamik innerhalb der jüdischen Gemeinden und innerhalb der lokalen Gesellschaften hätte führen müssen. Gewiss ergibt sich diese Bescheidung schon aus dem Untertitel und der Leser wird so in seiner Erwartung nicht enttäuscht, das 'Forschungsdesign' innovativer Arbeiten sollte allerdings anders angelegt sein.
Problematisch ist auch die Auswahl der Fallbeispiele, deren Repräsentativität nicht erklärt werden kann. Hier nur von der Quellenlage, sicher auch von der Literatursituation, auszugehen, erscheint zwar arbeitstechnisch legitim, aber wissenschaftlich nicht ganz überzeugend. Dass einige Kapitel des Buches in Methode und Befunden eng an bereits vorliegende Arbeiten angelehnt sind, ist wohl auch arbeitsökonomisch motiviert, mindert aber den Erkenntniszuwachs. Es wäre einer Dissertation angemessener gewesen, mehr neue Wissensbestände zu generieren, anstatt bereits Bekanntem einen so breiten Raum zu geben.
Gunter Mahlerwein