Rezension über:

Michael Gagarin: Writing Greek Law, Cambridge: Cambridge University Press 2008, xi + 282 S., ISBN 978-0-521-88661-1, GBP 55,00
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Rezension von:
Karl-Wilhelm Welwei
Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Mischa Meier
Empfohlene Zitierweise:
Karl-Wilhelm Welwei: Rezension von: Michael Gagarin: Writing Greek Law, Cambridge: Cambridge University Press 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 3 [15.03.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/03/14903.html


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Michael Gagarin: Writing Greek Law

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Der Verfasser, einer der besten Kenner der Rechtsgeschichte im antiken Griechenland, verweist bereits in der Einleitung zu diesem Buch auf seine Hauptthese, wonach durch schriftliche Fixierung von Gesetzen das Recht möglichst großen Bevölkerungssegmenten zugänglich gemacht werden sollte, während im Verlauf der gerichtlichen Verfahren aber die Schrift nur minimal genutzt wurde. Hierdurch sei verhindert worden, dass die Rechtspflege Experten vorbehalten blieb. Gagarin betont selbstverständlich, dass auch in schriftlosen Gesellschaften 'Recht' existierte, das in Streitfällen und nach kriminellen Handlungen 'herausgefunden' werden musste. Er erläutert hier zudem, dass kein einheitliches griechisches Recht entstehen konnte, da jede Polis ihre eigenen Gesetze hatte, die immer auch ein Spiegel der jeweiligen Gesellschaftsstruktur waren. Das Recht von Gortyn enthielt zum Beispiel Regelungen zur Rechtsstellung der woikees, die es in Athen gar nicht gab.

Im Mittelpunkt des ersten Kapitels steht das Recht in der Lebenswelt der homerischen Epen und der Dichtung Hesiods. Der wichtigste Text ist natürlich die 'Gerichtsszene' in der Ilias (18,497-508). Die Dichter beschreiben hier Verhältnisse in einer noch vorstaatlichen Gesellschaft. Gagarin vertritt die Auffassung, dass die Verwandten eines Getöteten nicht eine Bestrafung des Täters zu erreichen suchten. Vielmehr seien die 'Kläger' und der Täter bestrebt gewesen, irgendwie eine Lösung ohne neues Blutvergießen zu finden. Er verweist dazu auf ähnliche Prozeduren bei den Tiv, einem Volk im nördlichen Nigeria, auf Formen der Streitbeendigung bei Homer und Hesiod, auf die Figur des Deiokes [1] bei Herodot (1,96-101,1) und auf Regelungen im mittelalterlichen Island. Sein Fazit lautet, dass Streitbeilegung im mündlichen Verfahren im archaischen Hellas nirgendwo in Gesetzen ihren Ausdruck gefunden habe. Eine Verbindungslinie zwischen der homerischen Gerichtsszene und dem durch Linear B-Tafeln aus Pylos belegten Verfahren im Streit einer Priesterin mit dem da-mo bestreitet Gagarin, während Gerhard Thür die genannten mykenischen Belege als älteste Quellen zum griechischen Prozessrecht bezeichnet. [2]

In den folgenden Kapiteln erörtert Gagarin die Fragen, weshalb Gesetze in archaischer Zeit niedergeschrieben wurden und welche Personengruppen die Texte schreiben und lesen konnten. Er stellt fest, dass im Zuge der Verbreitung des alphabetischen griechischen Schriftsystems Personen aus allen sozialen Schichten sich bemühten, die Schreibkunst zu erlernen, aber etwa ein Jahrhundert nach der Übernahme und Modifizierung des phoinikischen Alphabets verging, bis öffentliche Dokumente schriftlich fixiert wurden.

Ein schwieriges Problem ist die Frage nach dem Umfang archaischer Gesetzestexte. Karl-Joachim Hölkeskamp hat mehrfach betont, dass frühe Gesetzestexte durchweg Regelungen für bestimmte Einzelfälle enthalten. [3] Nach Auffassung Gagarins schließt indes ein Defizit an erhaltenen größeren Komplexen gesetzlicher Regelungen eine frühe Tendenz zur Abfassung umfangreicherer Satzungen nicht aus. Der große Code von Gortyn sei keine creatio ex nihilo. Gagarin verweist zudem auf eine Gruppe von acht Inschriften aus Dreros, die öffentliche Angelegenheiten regelten, aber kaum vor Mitte des 7. Jahrhunderts verfasst wurden. In einem Fall handelte es sich um eine Bilingue, die wohl den Eteokretern in Dreros die Lektüre erleichtern sollte. Zweifellos verbreitete sich schnell die Praxis der Veröffentlichung von Gesetzen, die wohl auch das Gemeinschaftsbewusstsein der Bürger stärkten, wie Gagarin ausführt (86-89).

Problematisch ist Gagarins Vermutung (93), dass Drakon eine Reihe von Gesetzen formuliert habe. Erhalten sind nur Teile seines nomos peri phonou, und zwar die Regelungen zum Verfahren nach unvorsätzlicher Tötung eines Bürgers. Gagarin bezweifelt die häufig vertretene Forschungsthese, dieses Gesetz sei eine Reaktion auf Ereignisse nach dem gescheiterten Putschversuch Kylons. Nach seiner Auffassung war Drakons Gesetz nicht geeignet, die damaligen Konflikte zu entschärfen und zu beenden. Eine Streitbeilegung sei vielmehr durch das Bevölkerungswachstum komplizierter geworden, so dass detaillierte Regelungen erforderlich geworden seien. Gagarins Argumentation ist hier zweifellos plausibel.

Die abschließenden Kapitel enthalten einen Überblick über die Gesetzgebung in Gortyn und im klassischen Athen im Vergleich zur Rechtspflege in anderen Poleis. Abschließend erläutert Gagarin die Situation im Rechtswesen hellenistischer Städte, die ihre bis dahin übliche Praxis in der Rechtspflege beibehielten, soweit dies in Monarchien möglich war. Eine Koiné im griechischen Recht der hellenistischen Zeit wird von ihm bestritten. Wohl aber sei das athenische Recht eine gewisse Orientierungsmarke geworden.

Insgesamt gesehen bietet das Buch nicht nur viele Informationen zur Geschichte des altgriechischen Rechts. Der Leser erhält auch immer wieder neue Anregungen durch weiterführende Stellungnahmen des Verfassers zu offenen Fragen.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Mischa Meier / Barbara Patzek / Uwe Walter / Josef Wiesehöfer: Deiokes, König der Meder. Eine Herodot-Episode in ihren Kontexten, Stuttgart 2004.

[2] Gerhard Thür: Der Reinigungseid im archaischen griechischen Rechtsstreit und seine Parallelen im Alten Orient, in: Robert Rollinger / Heinz Barta (Hgg.): Rechtsgeschichte und Interkulturalität. Zum Verhältnis des östlichen Mittelmeerraumes und "Europas" im Altertum, Wiesbaden 2007, 179-195, hier 191.

[3] Vgl. etwa Karl-Joachim Hölkeskamp: Schiedsrichter, Gesetzgeber und Gesetzgebung im archaischen Griechenland, Stuttgart 1999, 273-280.

Karl-Wilhelm Welwei