Marcus Müller: Geschichte-Kunst-Nation. Die sprachliche Konstituierung einer 'deutschen' Kunstgeschichte aus diskursanalytischer Sicht (= Studia Linguistica Germanica; 90), Berlin: De Gruyter 2007, 403 S., ISBN 978-3-11-019642-9, EUR 118,00
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Diese Arbeit hat es in sich und ist keine leichte Kost. Es handelt sich um keine kunsthistorische, sondern um eine neuphilologische Dissertation, die den Ansatz der Diskursanalyse auf den Bereich der nationalen Kunstgeschichtsschreibung anwendet. Von Geschichte als Text und Diskurs, von Kommunikationsräumen und Perspektivierungen der Wissensbereiche oder deren syntaktischer Integration ist die Rede. Aber der Durchgang durch die vielleicht ungewohnt scheinende Terminologie birgt Gewinn. Ausgangspunkt ist die Prämisse, den Kunstwissenschaftler als Sonderfall des Historikers anzusehen, der aufgrund von rekonstruierten Fakten - aber eben nicht nur - eine Geschichte erzählt, die selbst immer schon von sprachlichen Orientierungsmustern abhängig, durch Erkenntnissinteressen und -absichten perspektiviert ist. Müller hat alle Darstellungen einer deutschen Kunst der letzten 150 Jahre in den Blick genommen, mit dem Ziel darzustellen, wie so etwas wie die "deutsche Kunst" im Verständnis der Leser deutscher Kunstgeschichten als Geschichte, als "perspektivisch geprägter Wissenskomplex" (3) überhaupt erst entsteht. Geschichte, Kunst und Nation sind dabei Zentralbegriffe, die einerseits als 'eingliedrige Ausdrücke Totalität implementieren' und andererseits zueinander in Bezug gesetzt und entfaltet werden. Diese "diskurskonstitutiven Wissensbereiche" werden im vierten, den Hauptteil bildenden Kapitel der Studie dargestellt.
Die vorangestellten ersten drei Kapitel klären die geschichtstheoretischen Prämissen des Unternehmens, die weltanschaulichen Ausgangsbedingungen des nationalen kunstgeschichtlichen Diskurses und schließlich die sprachtheoretischen Grundannahmen der Untersuchung. Dies geschieht in dem sichtbaren Bemühen, eine lesbare Arbeit zu verfassen. Vor dem Hintergrund der methodologischen Überlegungen Jörn Rüsens, der selbst eine Historik zu formulieren versucht hat und nach Müller die Konstitution historischen Sinns als wichtigste Aufgabe des Historikers bestimmte, und Karlheinz Stierles, der in "der Vermittlung von Wissen und Erfahrung [...] den Grundcharakter der Historiographie" sah (17), skizziert Müller sein Diskursmodell im Zusammenwirken von erzählen, beschreiben und argumentieren. Dabei werde Geschichte als Idee immer im Medium einer Geschichte als Text fortgeschrieben und ist nur auf der Ebene des Diskurses rekonstruierbar. Im direkten Blick auf die Geschichte der Kunstgeschichte liefert der Autor im zweiten Kapitel einen kursorischen Abriss der zentralen Positionen der Genese eines vormodern/modernen kunsthistorischen Geschichtsverständnisses (Vasari, Winckelmann, Hegel), die entscheidend dazu beigetragen haben, Kunstgeschichte als Genese, Blüte und Verfall von Kunststilen, als Lebenszyklus zu begreifen. Eine Auffassung, die mit der new art history in Frage gestellt wurde. Parallel zu diesem Zentralgedanken entwickelt sich seit dem späten 18. Jahrhundert eine nationale Perspektive auf die Kunst, die Müller insbesondere am Gotikverständnis seit Goethes epochalem, anonym veröffentlichtem Text Von deutscher Baukunst (1772) festmacht. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts werden im Zusammenhang mit der universitären Etablierung des Fachs bis ca. 1950 nationale Kunstgeschichten geschrieben, die den Korpus der Untersuchung bilden (Vgl. dazu auch 83ff. - es handelt sich um 20 Gesamttexte = 46 Einzelbände bzw. ca. 17.500 Seiten, die untersucht wurden). Leider gerät ihm der jüngste Versuch eines Überblicks über die deutsche Kunst nicht mehr in den Blick [1], stellt er doch andernorts fest: "Nationale Kunstgeschichten entstehen immer dann, wenn ein Bedürfnis nach nationaler Sinnstiftung vorliegt." (84) Angesichts der heute parallel im Raume stehenden Forderung nach der Etablierung einer deutschen akademischen "Weltkunstgeschichte", die die Anschlussfähigkeit an internationale Entwicklungen garantieren soll [2], ist das ein zugleich wenig überraschender wie bemerkenswerter Satz, der das weitere Auseinanderdriften der sich in Schubladen einrichtenden, damit vielleicht auch weiter professionalisierenden Fachvertreter und -vertreterinnen illustrieren kann.
Das dritte Kapitel klärt die linguistischen Prämissen und Methoden der Diskursanalyse Müllers, der lexikalische Analysen, die Herausarbeitung syntaktischer Muster und die Analyse ganzer Textpassagen betreibt und sein Vorgehen dabei explizit von der Begriffsgeschichte abgrenzt (47). Nochmals werden die Begriffe Diskurs, Perspektivität, Wissen, sprachliches Handeln, Konzept erläutert und der Autor wahrt einen selbstkritischen Blick, wenn er beispielsweise konzediert, dass bei der intertextuellen Diskursanalyse der Blick auf den individuellen Text zu kurz kommen mag. Mittels der Analyse integrativer Nominalphrasen (z.B. "der Verfall der deutschen Plastik") und Prädikationsgefüge (z.B. "Dürers Malerei ist deutsch"), also von Wortfeldern arbeitet Müller heraus, wie diese Kunstgeschichten intern diskursiv konfiguriert wurden. Es geht um die sprachliche Modellierung von Wissen, um "sprachliche Imagearbeit" im Wechselspiel von voraussetzungsreicher Teilhabe am Diskurs bei gleichzeitiger Tradierung desselben. Der Anhang des Buches dokumentiert auf knapp 75 Seiten "alle exzerpierten Fügungen." (329-403)
Die Kapitel vier bis sechs lösen die konkrete Analyse ein, wenn zunächst die einzelnen nominalen Begriffe des Diskurses in ihrer lexikalischen und textstrategischen Perspektivierung untersucht und Geschichte etwa als Individuum, Ort oder Veränderung, Kunst als Einheitsprinzip oder Lebenswelt sowie Nation (Deutschland) als biologisches Gebilde begriffen werden. Im folgenden Kapitel werden die syntaktischen Integrationen der Wissensbereiche analysiert, also die mannigfaltigen Kombinationen von Kunst + Geschichte, Kunst + Nation sowie Geschichte + Kunst + Nation untersucht. Wilhelm Lübke sprach 1890 anhand von vorzeitlichen Schmuckbeigaben in Gräbern von "ersten Regungen eines germanischen Kunstgeistes", wobei Müller immer wieder auf die zeitliche Reichweite solcher Formulierungen hinweist, die in diesem Falle auf den älteren und mittleren Diskurs begrenzt seien. Von zentraler Bedeutung ist das sechste Kapitel, das anhand von Beschreiben, Erzählen und Argumentieren die thematische Entfaltung von Sachverhalten anhand von Textpassagen in den Blick nimmt. Dabei wird etwa an Martin Warnkes Beschreibung der Albrechtsburg in Meißen gezeigt, wie durch "das Alterieren zwischen unpersönlicher Konstruktion und agentivierender Handlungsevokation" "einerseits die kunstsoziologische Perspektive des Gesamttextes aufrechterhalten, anderseits [...] der Eindruck einer großen Dynamik des beschriebenen Kunstwerks" hervorgebracht wird (207). Klar wird, dass es keine unschuldige Beschreibung gibt, sondern die Beschreibung dem Leser Vorgaben macht, 'einordnet, wertet und interpretiert' (223). Wichtiger aber ist das Resümee des Autors, dass "das ekphrastische Prinzip" das "textstrukturelle Muster" der deutschen Kunstgeschichte sei, insofern die selben Muster bei der Beschreibung konkreter Kunstwerke wie auch abstrakter Konstellationen verwendet werden (eher Ereignisevokationen bei Architekturbeschreibungen, eher Produktionsnachvollzug bei einer Kunstgeschichte als Sozialgeschichte) (224). Demgegenüber wird in der Erzählung durch die Verschaltung von Ereignissen ein Handlungsraum oder ein Handlungssubjekt konstruiert, wobei nicht nur Einzelfiguren oder Gruppen, sondern auch Nationen oder Epochen zu Handelnden avancieren können. Für den Bereich der Nation als Agens macht Müller ein "nationalpädagogisches Potenzial" aus, das sich selbst bei Heinrich Klotz in den 1990er Jahren noch ausweisen lässt (vgl. 244ff.). Die Nation steht auch bei der Argumentation im Vordergrund, nicht zuletzt wenn Autoritäten bemüht werden, um die Akzeptanz des nationalen Diskurses sicherzustellen. Schließlich vereinige der Verfasser jeder deutschen Kunst drei Figuren in sich: Den Kunstwissenschaftler, den Historiker und den Patrioten, heute in der Doppelfigur des Kunst- wie Verfassungspatrioten.
Die spezifische Textform der nationalen, deutschen Kunstgeschichte entsteht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor dem Hintergrund des nationalgeschichtlichen Paradigmas und erfährt in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg eine nationalpädagogische Zuspitzung, bevor die Form nach 1945 vor der Folie des gründlich zerstörten Nationalismus wieder aufgegriffen wird. Trotz dieser phasenartigen zeitlichen Gliederung des Diskurses fungiert Kunstgeschichte in allen Beispielen immer als Vehikel nationaler Identitätsstiftung. Wir verdanken Marcus Müller die Analyse der rhetorischen Mittel, die eine Verschränkung der unterschiedlichen Bereiche Nation und Kunst miteinander ermöglichen. [3] Die praktische Diskursanalyse liefert ein Handbuch, eine wichtige Studie für alle, die sich mit der Geschichte der deutschsprachigen Kunstgeschichte kunsthistoriografisch beschäftigen und für diejenigen, die den Begriff Diskursanalyse bei der methodischen Selbstverortung im Munde führen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. die achtbändige, im Prestel-Verlag erscheinende Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland, die zwar eine "europäische Sichtweise" zu kultivieren versucht, gleichwohl laut Verlag eine "Neubestimmung der Kunstwerke, die zum Kanon der bildenden Kunst in Deutschland zählen" vornimmt. Die Sehnsucht nach dem Kanon und die Vergewisserung der eigenen Identität gehen dabei wieder eine publikumswirksame Synthese ein.
[2] Vgl. Damian Dombrowski: Komparatistik jetzt! Für einen Studiengang "Weltkunst", in: SZ, 5.12.2008, Nr. 283, 13.
[3] Vorangegangen ist ihm mit Blick auf die NS-Zeit Dina Kashapova: Kunst, Diskurs und Nationalsozialismus. Semantische und pragmatische Studien, Tübingen 2006.
Olaf Peters