Anne Marno: Otto Dix' Radierzyklus Der Krieg (1924). Authentizität als Konstrukt, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2015, 271 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-7319-0129-7, EUR 49,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Sigrid Lange: Das Spätwerk von Rudolf Schlichter (1945-1955), Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2011
Jonathan Huener / Francis R. Nicosia (eds.): The Arts in Nazi Germany. Continuity, Conformity, Change, New York / Oxford: Berghahn Books 2006
Werner Hofmann: Die gespaltene Moderne. Aufsätze zur Kunst, München: C.H.Beck 2004
Der Radierzyklus Der Krieg, den Otto Dix 1924 mit seinem Händler Karl Nierendorf veröffentlicht hat, zählt fraglos zu den grundlegenden Werken im Zusammenhang mit der Darstellung des Krieges. Nicht nur mit Blick auf eine ästhetische Reflexion des von Dix selbst erlebten Fronteinsatzes im Ersten Weltkrieg ist das Werk relevant, vielmehr ist der Horror des modernen Krieges auf eine Weise veranschaulicht, die noch in der Gegenwart Aktualität beanspruchen kann. Anne Marno stellt in ihrer gerade veröffentlichten Düsseldorfer Dissertation eine grundsätzliche Frage: Inwiefern der selbst erlebte Schrecken in seiner ästhetischen Formulierung als authentisch bezeichnet werden kann. Der Untertitel beantwortet die Frage, indem Authentizität als Konstruktion vorgestellt wird. Direkt am Anfang heißt es, dass Dix' Darstellungen "ein Konstrukt, das Ergebnis einer synthetisierenden Gestaltungsweise des Künstlers" seien (9). Nun überrascht dieses Ergebnis kaum, stand es doch von vorne herein fest und ist in der von der Autorin nur selektiv benutzten Dix-Literatur auch schon mehrfach festgehalten und ausgeführt worden. [1] Worin also besteht der Erkenntnisfortschritt der vorgelegten Studie?
Zunächst wird davon ausgegangen, dass eine methodische Synthese von kulturwissenschaftlich-ikonologischem Ansatz, rezeptionsästhetischer Untersuchung und wahrnehmungspsychologischer Analyse einen Erkenntnisfortschritt generieren könnte. Kursorische Rückgriffe auf Begriffsdiskussionen zu Authentizität und Topos sollen weiterhin als methodisch-theoretisches Rüstzeug fungieren, wobei der beleghafte Charakter im Rahmen eines Promotionsvorhabens dominiert und der Nutzen für die Analyse undeutlich oder gering bleibt. Der Aufbau der Arbeit irritiert zudem, wenn etwa erst ab Seite 104 (von 165 Textseiten) die Struktur der gesamten Mappe angedeutet wird und dann unmittelbar folgend Einzelblätter der Analyse unterzogen werden. Der gegebene und weiter zu erklärende Zusammenhang zum Gemälde Schützengraben, das Dix erst 1923 in Düsseldorf malte und zu dem der grafische Zyklus gleichsam als erweiterndes Komplementär erscheint, wird vorschnell ausgeblendet. Dass veristische Authentizität hier bereits als kunsthistorisch fundiert und konstruiert wahrgenommen wurde, hätte der Blick auf zeitgenössischen Besprechungen verdeutlicht.
Die 50 Grafiken suchten von vorne herein auf ganz unterschiedliche Weise und in differenzierten Stilmodi das Ereignis des Krieges zu fassen. Allein das verdeutlicht, dass Dix gar nicht eine authentische, sondern eine offenkundig ästhetisch vermittelte Sicht auf das selbst erlebte und insofern als authentisch erfahrene Kriegsereignis vor Augen stellte - deshalb verfängt die Analogie zu den synästhetischen Strategien in Gottfried Benns Morgue auch nicht (siehe 104), zumal sie angesichts des Gemäldes Schützengraben tragfähiger wäre - und bleibt die an Paul Fox angelehnte Behauptung eines traumatische Erfahrungen widerspiegelnden "performativen Elements" der Bildfolge behauptet und nicht belegt. Der für Dix' Ansatz zentrale Begriff einer Ästhetik des Grotesken, der die gesamte Folge formal und inhaltlich fundiert, wird von Marno gar nicht thematisiert. Durch den Auftakt der Mappe mit einem Soldatengrab und das Schlussblatt Tote vor der Stellung bei Tahure, das nicht nur auf Dix' Katakomben-Studien zurückzuführen ist (siehe 44), sondern seine endgültige Formulierung als sinistre Gesprächssituation den beiden Alten in Goyas "schwarzen Bildern" verdankt, wird diese groteske Ästhetik programmatisch kenntlich gemacht. Solche Aspekte werden nicht erkannt.
Der zweite Hauptteil der Arbeit widmet sich ausgewählten Blättern der Kriegs-Mappe. Dabei stört etwas der forcierte Versuch der Behauptung von Authentizität - so wird der Überfall einer Schleichpatrouille gar mit einem fotografischen Schnappschuss verglichen -, die dann in den Resümees regelmäßig dementiert wird. Das ist hinsichtlich der Vorgehensweise für den Leser undankbar, da vorausschaubar. Das von Anfang an klare Ergebnis der Studie, das jedem bewussten Betrachter von Dix' Werk zuvor vor Augen stand, wie dieser auch niemals auf den Gedanken käme, die immer höchst artifiziellen Grafiken mit Fotografien zu verwechseln, wird beständig wiederholt. Die Hinweise auf die metrischen Bildkonstruktionen verdeutlichen einmal mehr, wie umsichtig Dix seine Bilder kompositorisch angelegt hat, diese Befunde werden aber zu wenig für die genuin künstlerischen Aussagen der Blätter fruchtbar gemacht. Stattdessen heißt es so - oder an anderen Stellen ähnlich -: "Die Darstellung steht im offensichtlichen Gegensatz zur medizinhistorischen Realität des Gastods. Von der Wirkung des Gases zeigt die Graphik [Die Schlafenden von Fort Vaux (Gas-Tote)] nichts: Die Qualen, die innere Zersetzung der Lungen, die unerträglichen Schmerzen, die diese Gase verursacht haben, das oft langsame, qualvolle Sterben - all dies ist nicht einmal erahnbar." (118) Marno legt der von ihr als "verharmlosend" bezeichneten Grafik dann in der Intention von Dix die Absicht eines "Bedeutungsumschlags" zugrunde und den Rekurs auf die topische Vorstellung vom Tod als Schlaf. Letzterem kann man folgen, der genuine Charakter des Blatts bleibt aber unscharf.
Man merkt der Verfasserin das intensive Bemühen um einen spezifischen Zugang zum umfangreichen Mappen-Werk von Dix an. Gleichwohl bleibt ein ambivalenter Eindruck, scheint der idiosynkratische medizinhistorische Ansatz kaum befriedigend, leidet die Darstellung an mangelndem Fluss und retardierenden Momenten, etwa wenn Kapitelüberschriften regelmäßig durch Einleitungssätze teilweise wörtlich wiederholt werden. Ohne Zweifel finden Leser, die sich intensiv mit Dix beschäftigen - unvorbereitete Leser werden mit der Lektüre des sperrig konstruierten Textes Probleme haben -, in dem Band weiterführende Ansätze, Beobachtungen und Perspektiven. Eine umfassende Darstellung - die trotz reichlicher Beschäftigung mit dem Thema weiter begrüßt werden müsste - wäre freilich methodisch und inhaltlich (etwa mit breiterem Blick auf die zeitgenössische Weltkriegs-Literatur - hier werden wieder nur Barbusse und Jünger rezipiert -, Fotografie und Film) anders zu konzipieren, um dem Anspruch einer umfassenden Analyse und Interpretation zu genügen. Gerade die Konzentration auf knapp ein Drittel der 50 Blätter umfassenden Folge führt den Mangel der vorgelegten Studie drastisch vor Augen und vermittelt nur unzureichend ein Gesamtbild von diesem grafischen Jahrhundertwerk. Von einer neuen Monografie muss man genau das aber erwarten.
Anmerkung:
[1] Von der jüngsten Literatur werden nicht beachtet: Dietrich Schubert: Künstler im Trommelfeuer des Krieges 1914-18, Heidelberg 2013; und Ausst.-Kat. Otto Dix - Der Krieg. Das Dresdner Triptychon, hgg. v. Birgit Dalbajewa / Simone Fleischer / Olaf Peters, Staatliche Kunstsammlungen Dresden 2014 - beide Publikationen wären jedoch auch mit Blick auf Marnos eingegrenzte Fragestellung zentral und lagen spätestens im Frühjahr 2014 vor. Dass die Autorin ohne den Rückgriff auf die grundlegenden zeitgenössischen Aufsätze von Carl Einstein, Ernst Kàllai und Willi Wolfradt auszukommen meint, belegt die mangelhafte Fundierung der Studie weiter, denn gerade diese Autoren haben bereits als Zeitgenossen von Dix den "konstruierten Charakter" des scheinbar authentischen Verismus klarsichtig thematisiert.
Olaf Peters