Rezension über:

Christine Poggi: Inventing Futurism. The Art and Politics of Artificial Optimism, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2009, xv + 375 S., ISBN 978-0-691-13370-6, GBP 32,50
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Rezension von:
Olaf Peters
Institut für Kunstgeschichte und Archäologien Europas, Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Olaf Peters: Rezension von: Christine Poggi: Inventing Futurism. The Art and Politics of Artificial Optimism, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2009, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 7/8 [15.07.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/07/15645.html


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Christine Poggi: Inventing Futurism

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Mit der Veröffentlichung des Manifests Le Futurisme in der französischen Tageszeitung Le Figaro am 20. Februar 1909 beginnt die Geschichte der Avantgarde als Ausdruck einer dezidiert antibürgerlichen Kunst, als Kunst und Leben intentional vereinigende, radikalisierte ästhetische Moderne. So ungefähr lautet die Standardformulierung, wenn es um die große Erzählung der modernen Kunst im 20. Jahrhundert geht, und der Zeitraum der Jahre 1909-1939 als das Zeitalter der Avantgarden und ihres Manifestatismus zum konstitutiven Mythos der Epoche verklärt wird. Den Futuristen kommt hierbei aber nicht nur als eine der frühesten, avantgardistische Praxen erkundende Künstlervereinigung eine zentrale Bedeutung zu, sondern auch, weil sie eine unheilige Allianz mit dem italienischen Faschismus eingingen. Die oft als selbstverständlich vorausgesetzte Verbindung von künstlerischer und gesellschaftlicher Moderne im Sinne einer aufgeklärt-emanzipatorischen Bewegung wurde damit von Anfang an in Frage gestellt, wenn nicht desavouiert.

Christine Poggi, die mit einer gewichtigen Studie zu dem künstlerischen Verfahren der Collage bei den Kubisten und Futuristen bekannt geworden ist [1], setzt ihre Beschäftigung mit den Futuristen in ihrem zweiten großen Buch fort, freilich unter methodisch gewandelten Vorzeichen. In Defiance of Painting konnte als gewichtiger formalistischer Beitrag zur modernen Kunstgeschichtsschreibung gewertet werden, Inventing Futurism verschiebt Perspektive und Methodik zu einem politik-, sozial- und vor allem aber geistes- und kulturgeschichtlich ausgerichteten Ansatz, der allgemeine Ausführungen mit eng geführten Werkbetrachtungen zu kombinieren versucht. Dies gelingt der Autorin über weite Strecken vorzüglich, wenngleich die Bildanalysen mitunter nicht jene Prägnanz und Deutungstiefe aufweisen, die man sich gewünscht hätte. Poggi wird aber ihrem komplexen Untersuchungsgegenstand durch diese kontextualisierende und historisierende Herangehensweise ebenso gerecht, wie sie sich gleichzeitig um eine ostentative Abkehr von einer formalistischen Kunstgeschichtsschreibung bemüht, die ihrer Ansicht nach die Ära nach 1945 in Amerika dominierte und damit eine umfangreichere wissenschaftliche Rezeption des so offenkundig politisch imprägnierten Futurismus verhindert habe.

Poggi hat ihre Studie in sieben große Kapitel unterteilt, die das ganze Spektrum von der Faszination durch die Bewegung und den Kult der Geschwindigkeit, die Auseinandersetzung mit der modernen Metropole, die künstlerische - von Fotografie und Naturwissenschaften begleitete - Abstraktion, den männlichen und schließlich hybriden Mensch/Maschinen-Körper, die Verschränkung von Liebe, Lust und Luxus sowie bis zur problematischen Allianz mit dem Faschismus entfalten. Zentral ist dabei, dass die künstlerische Avantgarde in ihrer fundamentalen Ambivalenz gegenüber den modernen Tendenzen und Signaturen der Zeit, in ihrer Brüchigkeit und Zerrissenheit erfasst und so nicht als monolithisches Konstrukt perpetuiert wird. Der Futurismus ist vielmehr in vielfacher Weise auf das 19. Jahrhundert fixiert, tut sich mitunter schwer, die forcierte Modernisierung und deren gesellschaftliche Konsequenzen in der verspäteten Nation Italien einhellig positiv nachzuvollziehen. Er erscheint in dieser Perspektive zum einen als radikalisierte Historismuskritik in der Nachfolge Friedrich Nietzsches sowie in Poggis Interpretation als sich voluntaristisch gebärdender, künstlich in die Zukunft sich entwerfender Optimismus. Von hier würde auch verständlich - worauf Poggi nicht eingeht und so die Entwicklung des Futurismus hin zum Faschismus im internationalen Kontext nicht vollständig erfasst -, warum es zu einer frühen Interpretation des Futurismus als einem "revolutionären Konservativismus" im ideologischen Kontext der antidemokratischen Rechten kommen konnte, die unter dem Sammelbegriff "Konservative Revolution" als Vorgeschichte des europäischen Faschismus zu gelten hat. [2]

Immer wieder besticht die Studie Poggis durch detaillierte Rekonstruktionen der Genese wichtiger Werke, so etwa des großformatigen frühen Hauptwerks Die Stadt erhebt sich von Umberto Boccioni aus dem Zeitraum 1910/11 (Kapitel 3). Dabei werden vergleichbare Arbeiten ebenso herangezogen wie spezifische vorbereitende Werkstudien, und doch lässt eine solche detaillierte Analyse unbefriedigt, wenn z.B. der auffällige Stilpluralismus im Werk um 1910 nicht erläutert wird; genannte Vergleichsbeispiele wie Antonio Sant'Elias große Zeichnung Neue Stadt von 1914 - die mehr mit den Veduten des Präzisionismus und der Neuen Sachlichkeit der 1920er-Jahre als mit Boccioni zu tun hat - sollten interpretatorische Konsequenzen haben und werfen nicht zuletzt die Frage nach einer vielleicht noch gar nicht vorhandenen adäquaten Ästhetik der frühen Futuristen auf. Boccionis Kombinatorik von vitalistischer Formauflösung bei Mensch und Tier und realistischer Gegenstandswiedergabe bei Straßenbahn und Neubau eines Kraftwerks verweist auf die ungelöste Problematik, letztlich unanschauliche Industriekomplexe ins Bild setzen zu wollen.

Christine Poggis breit angelegtes Buch über den Futurismus wir zukünftig ohne Zweifel zur Grundlagenliteratur zählen, wenn man sich mit einzelnen Vertretern der Richtung und ihren Hauptwerken befassen will. Es kann und wird die grundlegenden Arbeiten von Christa Bergmann und Hansgeorg Schmidt-Bergmann - und im englischsprachigen Bereich von Marjorie Perloff - jedoch nicht ersetzen, auf die man im Zweifelsfall eher zurückgreift und die man mit Blick auf eine umfassende Orientierung auch eher konsultieren sollte. [3] Aber Poggi sorgt für eine notwendige Differenzierung und beleuchtet die heute immer deutlicher werdenden Ambivalenzen der Avantgarde in einer detailreichen, fundierten Studie. Zudem hat sie als Mitherausgeberin eine 600 Seiten umfassende Anthologie zum Futurismus publiziert, die die sehr spezifischen Fallstudien in Inventing Modernism flankiert und für das englischsprachige Publikum schon jetzt ebenfalls unverzichtbar ist. [4]


Anmerkungen:

[1] Vgl. Christine Poggi: In Defiance of Painting. Cubism, Futurism, and the Invention of the Collage, New Haven / London 1992.

[2] Vgl. Peter Demetz: Worte in Freiheit. Der italienische Futurismus und die deutsche literarische Avantgarde 1912-1934, München 1990, 32-41.

[3] Vgl. Christa Baumgart: Geschichte des Futurismus, Reinbek bei Hamburg 1966; Hansgeorg Schmidt-Bergmann: Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Reinbek bei Hamburg 1993 und Marjorie Perloff: The Futurist Movement. Avant-Garde, Avant Guerre, and the Language of Rupture, Chicago and London 1986.

[4] Lawrence Rainey / Christine Poggi / Laura Wittman (eds.): Futurism: an anthology, New Haven 2009.

Olaf Peters