Henry Rousso: Vichy. Frankreich unter deutscher Besatzung 1940-1944. Übersetzt von Matthias Grässlin (= Beck'sche Reihe; 1910), München: C.H.Beck 2009, 148 S., 1 Karte, ISBN 978-3-406-58454-1, EUR 11,95
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Der Band ist eine Übersetzung des 2007 bei den Presses Universitaires de France in der Reihe "Que sais-je?" erschienenen Buchs "Le régime de Vichy". Er bietet einen Überblick zur Geschichte des besetzten Frankreich und behandelt folgende Schwerpunkte: die Etablierung des sog. État Français, die Strategie der Kollaboration, ideologische Aspekte unter dem Schlagwort "das neue Frankreich", die Gewaltpraxis des Staates, die Einbeziehung Frankreichs in die NS-Kriegsführung sowie die gesellschaftliche Entwicklung unter der NS-Herrschaft. Rousso bezeichnet die Etablierung des Vichy-Regimes als "ein teilweise überraschendes Ereignis" (9), das der militärischen Niederlage Frankreichs und dem Zusammenbruch des Landes folgte. Es brachte "Seilschaften" an die Macht, die den Sturz der Republik wünschten und daher auf eine Beendigung des Krieges drängten.
Es etablierte sich, "ganz ohne Einmischung der deutschen Besatzer" (10), eine charismatische Diktatur. Auch wenn deutsche Kontrolle sicherlich nicht völlig fehlte, lenkt Rousso die Aufmerksamkeit zu Recht auf einen meist vernachlässigten Aspekt: die Machtübernahme der Vichy-Regierung stand weniger unter deutschem Druck, als dies frühere Forschungen postulierten. Rousso betont, dass die kollaborationswilligen Akteure auf französischer Seite selbst um die Aufnahme von Kontakten baten. Dies kam den deutschen Interessen aber wohl mehr entgegen, als es der Autor annimmt, denn die Kollaboration erlaubte der Besatzungsmacht, ihre Truppen- und Verwaltungsstärke auf einem sehr niedrigen Niveau zu belassen. Ohne Zweifel war Vichy das einzige Regime im NS-Machtbereich, das vor allem im nicht besetzten französischen Süden bis Ende 1942 eine beträchtliche Autonomie bewahren konnte.
Die sogenannte Nationale Revolution sorgte dafür, dass sich Frankreich ideologisch an das 'Dritte Reich' anlehnte. Das Parlament schaltete sich selbst aus, indem es seine Souveränität durch eine Art Ermächtigungsgesetz an die Regierung abgab. Institutionell passte sich das "neue Frankreich" den Erfordernissen an: Mit der Charta der Arbeit (Charte du travail) entstand ein rechtlicher Kodex, der die sozialen und betrieblichen Beziehungen neu gestaltete. Moralisch wirkte die Propaganda vor allem auf die Jugendpolitik ein. Die Zensur traf als Erstes jüdische Autoren, wie sich überhaupt das Vichy-Regime durch seine aktive Rolle bei der Verfolgung des Judentums hervortat. In einem System, das von Beginn an auf eine Terrorherrschaft zurückgriff, dehnte sich die Repression auf Kommunisten, Freimaurer und sogenannte Gaullisten aus. Die Nationale Revolution und die Nationalsozialisten hatten dieselben Feinde.
Die Kollaboration manövrierte sich jedoch in eine Sackgasse. Nach dem Scheitern der Pariser Verträge und weiteren Verhandlungsfehlschlägen versuchte Staatschef Pétain im April 1942, den Dialog durch den Rückruf Pierre Lavals in die Regierung wieder in Gang zu setzen. Dieser mustergültige Kollaborateur überschritt auch bald eine "entscheidende Schwelle", indem er am 22. Juni 1942 Deutschland den Kriegssieg wünschte. Je mehr man in der Folge deutschen Interessen entgegenkam, etwa beim Aufbau des Zwangsarbeitsdienstes (Service du travail obligatoire, STO), desto mehr verriet man die Anfangsziele der Kollaboration. Schließlich wirkten führende Vichy-Politiker auch maßgeblich an der Durchführung des Genozids mit.
Ausklingen lässt Rousso seine Darstellung mit dem Gang der französischen Regierung ins Exil. Seit August 1944 warteten die Protagonisten der Kollaboration als Schattenregierung im Sigmaringer Schloss auf das Ende des Krieges. Ein erster Teil des Ausblicks richtet sich auf die Säuberung nach dem Krieg durch die französische Justiz. Während sich die vorgenannten Punkte auf ältere Forschungen Roussos beziehen, lässt er zum zweiten seine Arbeitsergebnisse zur Erinnerungspolitik in den Schlussabschnitt einfließen. Hier werden Fragen wie die Verantwortung Vichys für den innerfranzösischen Bürgerkrieg behandelt. Der Konflikt zwischen Petainismus, Gaullismus und der Résistance wurde nur in Teilen offen ausgetragen, prägte aber auch das befreite Frankreich noch maßgeblich. Als müßig erachtet Rousso die Diskussion, ob Vichy in die Riege der faschistischen Regime gehörte, für entscheidend hält er hingegen, dass es den deutschen Interessen in nahezu allen wichtigen Punkten folgte. Er gewichtet zudem die Frage der französischen Verantwortung neu und erteilt älteren Interpretationen, die auf den allgegenwärtigen Zwang insistieren, eine klare Absage.
Rousso liefert nicht nur eine konzise Darstellung der französischen Gesellschaft im Zweiten Weltkrieg, sondern vermag in vielerlei Hinsicht eigene Akzente zu setzen. Sein Werk bewegt sich - trotz gewisser Defizite bei der Betrachtung der Entscheidungsprozesse der Besatzungsmacht - auf dem Stand der neuesten Literatur und bietet damit einen gelungenen Einstieg in diese dunkle Periode der Geschichte Frankreichs.
Marcel Boldorf