Dierk Hoffmann / Michael Schwartz (Hgg.): Sozialstaatlichkeit in der DDR. Sozialpolitische Entwicklungen im Spannungsfeld von Diktatur und Gesellschaft 1945/49-1989 (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte; Sondernummer), München: Oldenbourg 2005, 197 S., ISBN 978-3-486-57804-1, EUR 39,80
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Der Band wendet sich der vierzigjährigen Existenz der DDR zu, einem Zeitabschnitt, der trotz seiner Länge heute bisweilen als Episode oder Fußnote der deutschen Geschichte gedeutet wird. Der Blick richtet sich auf die relative Stabilität des ostdeutschen Teilstaates und wendet sich ab von seinen Anfangs- und Endpunkten, die bislang am besten erforscht wurden. Sozialpolitik war eine Art "Superpolitik" (2), eine Gesellschaftspolitik, die steuernd in die materiellen Lebensverhältnisse inklusive der Einkommen und des Konsums eingriff. Nach ihrer Etablierungsphase in den Fünfzigerjahren ging sie deutlich über die traditionelle deutsche Sozialstaatlichkeit hinaus und entwickelte eine Zuständigkeit für alle Lebensbereiche. Stärker noch als im Westen war sie dem Primat der Wirtschaft untergeordnet, sei es zunächst als "produktive Fürsorge" für ein optimales Ausschöpfen des Faktors Arbeitskraft, sei es ab den Sechzigerjahren als "sozialistische Sozialpolitik", die "das Niveau sozialer Sicherheit" an den "Stand der Produktivkräfte" (Helga Ulbricht) zu binden suchte.
Einleitend entwickelt Gerhard A. Ritter ein breites Panorama an Thesen zur Geschichte der DDR-Sozialpolitik, das den Kenntnisstand auf der Basis der Literatur eindrucksvoll zusammenfasst. Hiernach widmet sich eine kleine Schar von sechs Autoren einem Teil der aufgeführten Forschungsfragen. In ihrer Mehrzahl bemühen sich die Beiträge um eine Einordnung der Sozialpolitik in den Kontext der Wirtschafts- und Sozial- sowie der Konsumgeschichte.
Im zentralen Spannungsfeld zwischen Politik und Ökonomie geht André Steiner auf die Überdehnung der Sozialpolitik in der Phase des Zusammenbruchs ein. Ausgehend von der These, dass sich die DDR-Planwirtschaft das Sozialsystem auf Grund ihrer Wachstumsschwäche nicht leisten konnte, sucht Steiner nach einer Alternative. Ein dynamischeres Verhältnis von wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und Sozialausgaben hätte die Wachstumsentwicklung befördern können. Hierzu hätten aber größere Teile der Arbeiterlöhne an Leistungsanreize gekoppelt werden müssen. Stattdessen stiegen die nicht mit Arbeitsleistung verbundenen Teile der privaten Einkommen in der Honecker-Ära kontinuierlich. Zu den dadurch stärker expandierenden Sozialtransfers kam eine stetig wachsende Subventionierung des Wohnungsbaus und des Grundverbrauchs hinzu. Diese Kombination untergrub die Leistungsanreize und hatte am Fehlschlag der von Honecker geprägten "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" einen maßgeblichen Anteil.
Michael Schwartz betrachtet in einem Beitrag, dessen Länge den Durchschnitt der übrigen um das Doppelte übersteigt, die Bedingungen und Grenzen der DDR-Frauenpolitik. Als Primärziel des Politikfeldes arbeitet er die Arbeitsintegration heraus. Erfolgsmaßstäbe waren nicht nur sinkende Arbeitslosenzahlen, sondern die ständig steigende Frauenerwerbsquote, die international einen Spitzenrang einnahm. Jedoch waren Frauen häufig auf Arbeitsplätzen mit niedrigeren Qualifikationen anzutreffen. Ab der Mitte der Sechzigerjahre wich die Frauenarbeitspolitik, mit deutlichem Schwerpunkt auf der jüngeren Generation, einer Familienpolitik, die sich angesichts des säkularen Geburtenrückgangs immer mehr bevölkerungspolitischen Schwerpunkten zuwandte. Schwartz eröffnet in diesem Zusammenhang einen Einblick in die interessante Literaturdiskussion um die Biopolitik in der DDR. Schließlich verliert er das Thema "Sozialpolitik" aus den Augen und landet resümierend in der Debatte um Frauenemanzipation in der DDR.
Dierk Hoffmann behandelt das von ihm bereits mehrfach untersuchte Thema des Ausbaus der Arbeitsgesellschaft. In längeren Passagen erläutert er die Umgestaltung des Arbeitsrechts, die Beschäftigungs- und Lohnpolitik sowie die Entwicklung von Sozialversicherung und -fürsorge. Vor allem der letzte Abschnitt macht deutlich, dass die Nicht-Arbeitsfähigen zu den Verlierern der DDR-Arbeitsgesellschaft gehörten. Dieser bei heutigen Rückblicken gerne vergessene Aspekt der DDR-Sozialpolitik [1] wirft ein anderes Licht auf das Scheitern der hochgesteckten Ansprüche des Regimes. Gerade in dem von Hoffmann betrachteten Bereich setzten sich Kontinuitätslinien deutscher Sozialstaatlichkeit in besonderem Maße fort. Allerdings macht er z. B. in der Sozialversicherung den Wandel vom früheren gegliederten System zu einer einheitlichen Staatsbürgerversorgung deutlich.
Der sozialpolitische Konflikt zwischen staatlichem Zentralisierungsanspruch und betrieblicher Eigenständigkeit steht bei Peter Hübner im Mittelpunkt. Obwohl die Betriebe in eine Hierarchie eingebettet waren, eröffneten sich für sie in begrenztem Rahmen Partizipationsmöglichkeiten. Jedoch gab es keinen Raum für ein offenes Austragen von Interessenkonflikten. Die zuweilen mangelhaft ausgeprägte Zentralität erklärte sich durch das Fehlen einer zusammenfassenden sozialpolitischen Instanz, etwa eines Über-Ministeriums, was aber in der Kontinuität deutscher Sozialstaatlichkeit stand. Relative Sonderkonditionen, die Betriebe ihren Belegschaften anbieten konnten, lassen sich vor allem auf die Freizügigkeit des Arbeitsmarktes zurückführen. Branchenspezifisch boten sie Lohnzuschläge und Prämien, Sozialleistungen und -einrichtungen an, um in der Konkurrenz um den knapp bemessenen Faktor Arbeitskraft besondere Konditionen bieten zu können. Die egalitäre Betriebsorientierung sei als Resultat einer Entbürgerlichung und "Verarbeiterlichung" der DDR-Gesellschaft zu interpretieren.
Judd Stietziel knüpft in gewisser Weise an den letztgenannten Gedanken Hübners an, indem er die Schwierigkeiten betont, die in der DDR die Implementierung von Luxusbedürfnissen bereitete. Sie stand im Widerspruch zum subventionsgestützten "normalen" Konsum, der der Idee einer egalitären Befriedigung von Grundbedürfnissen entsprach. Nach dem Mauerbau erlebten die Exquisitläden ihren Durchbruch; die Zahl erhöhte sich von drei Dutzend (1962) auf 442 (1985). Ihre Existenz offenbarte die staatliche Anerkennung sozialer Distinktion und lief damit, so Stietziel, sozialpolitischen Versprechen zuwider. Insgesamt neigt der Autor zur Überschätzung der Gleichheitsrhetorik der SED, denn Sozialpolitik war in der DDR von Beginn an auf die Stimulierung von Anreizen, somit auf Differenzierung und das letztliche Ziel der Produktivitätssteigerung ausgelegt.
Christoph Boyer bezieht sich abschließend, in einer internationalen Perspektive, auf die Begrenztheit der sozialpolitischen Zusammenarbeit innerhalb des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Um eine solche voranzutreiben, fehlten wesentliche wirtschaftliche Triebkräfte, die im Zuge der Konkurrenz kapitalistischer Nationalstaaten auftraten. Ein marktwirtschaftliches Gefüge konnte solche Effekte durch suprastaatliche Homogenisierung in einen Regulierungswettbewerb überführen. Diese idealtypische Sichtweise kam jedoch auch bei der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) kaum zum Tragen, denn dem westlichen Bündnis fehlte es ebenfalls an sozialpolitischer Integrationskraft. Im Ostblock trat eine solche Konkurrenzsituation erst gar nicht auf, sodass die sozialistische Internationalisierung ein Lippenbekenntnis blieb. Allein in Bereichen wie der Effektivierung nationalstaatlicher Steuerung existierte eine für alle Seiten zuträgliche Kooperation durch Wissenstransfer. Eine Abgabe von Kompetenzen an übergeordnete Instanzen entfiel hingegen, obwohl in Moskau und andernorts RGW-Koordinationsbüros eingerichtet wurden.
Der Sammelband bietet eine Reihe neuer Sichtweisen auf die Gesamtgeschichte der DDR-Sozialpolitik. Es wird deutlich, dass das Modell der Sowjetunion eine untergeordnete Rolle spielte, denn die östliche Hegemonialmacht stellte kaum übertragbare Konzepte bereit. Die DDR beschritt einen eigenen sozialstaatlichen Weg, dessen erster Teil durchaus noch in Pfadabhängigkeit zur deutschen Sozialstaatstradition verlief. Dennoch gab es markante Brüche und Prioritätenverschiebungen, und seit den Sechzigerjahren führte eine immer stärkere Expansion der Sozialpolitik zu einem Abschied von diesem Erbe.
Anmerkung:
[1] Günter Manz / Ekkehard Sachse / Gunnar Winkler (Hg.): Sozialpolitik in der DDR. Ziele und Wirklichkeit, Berlin 2001.
Marcel Boldorf