Rezension über:

Dierk Hoffmann / Ulf Brunnbauer (Hgg.): Transformation als soziale Praxis. Mitteleuropa seit den 1970er Jahren (= Zeitgeschichte im Gespräch; Bd. 32), Berlin: Metropol 2020, 168 S., ISBN 978-3-86331-561-0, EUR 16,00
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Rezension von:
Marcus Böick
Jena
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Marcus Böick: Rezension von: Dierk Hoffmann / Ulf Brunnbauer (Hgg.): Transformation als soziale Praxis. Mitteleuropa seit den 1970er Jahren, Berlin: Metropol 2020, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 7/8 [15.07.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/07/36510.html


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Dierk Hoffmann / Ulf Brunnbauer (Hgg.): Transformation als soziale Praxis

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Die historische Transformationsforschung hat in Deutschland in den letzten Jahren erheblich an Fahrt aufgenommen und zugleich auch an Dynamik gewonnen. Im Gegensatz zur älteren, in aller Regel sozialwissenschaftlich oder ökonomisch ausgerichteten Forschung der 1990er-Jahre, die sich vor allem für Makroprozesse einer "Anpassung" des Ostens an den Westen - etwa in Form einer "nachholenden Modernisierung" [1] - abarbeitete, fokussieren die gegenwärtigen Studien insbesondere auf vielfältiger Quellenbasis die Mikroebene von biografischen Deutungen und individuellen Wahrnehmungen. [2] Die gegenwärtige Aufmerksamkeit für dieses zuvor lange randständige Themenfeld seit Mitte der 2010er-Jahre speist sich nicht zuletzt aus (geschichts-)politischen Interessenlagen, welche durch die Erfolge der rechtspopulistischen AfD in den gar nicht mehr so neuen Bundesländern gespeist wurde und wird. Daher stehen Diskussionen über ostdeutsche "Verlusterfahrungen" während der "Wendezeit" sowie deren langfristige Folgen seit einiger Zeit, etwa im Kontext der hitzigen Debatte um die Veröffentlichungen der damaligen sächsischen Staatsministerin Petra Köpping, wieder hoch im Kurs. [3]

In dieser neuerlichen "Welle" einer (zeit-)historischen Transformationsforschung ist auch der von Dierk Hoffmann und Ulf Brunnbauer herausgegebene Sammelband zur "Transformation als Sozialer Praxis" zu verorten, der die Ergebnisse jüngerer Forschungsvorhaben in Feldern post-industrieller Konstellationen sowie deren individuellen Wahrnehmungen wie kollektiven Bearbeitungen zusammenführen möchte. Die jeweiligen Zugriffe sollen dabei nicht nur die vermeintlich "harte" Zäsur von 1989/90 durch Rückblenden bis in die 1970er-Jahre überwinden, sondern auch bisweilen auch aus den innerdeutschen Binnendebatten ins Transnationale oder gar Globale ausbrechen. Es sind dabei vor allem oft sehr komplexe wie langfristige Wandlungs- und Umbruchsprozesse zwischen hoch- und postindustriellen Lebens- und Arbeitswelten in Ost und West, deren Vorgeschichten und Kontexten, Dynamiken und Deutungen sowie Wechsel- und Folgewirkungen die versammelten Autorinnen auf diese Weise nachgehen wollen. Transformations- und Umbruchsgeschichte sollen dabei als "Problemerzeugungsgeschichte der Gegenwart" (9) beschrieben werden. Ferner müsse eine systematische Dekonstruktion "geschichts- und erinnerungspolitischer Narrative" (ebd.) das avisierte Tableau der von den Herausgebern einleitend diskutierten Vorhaben schließlich abrunden.

Wie sieht nun aber die Praxis aus? Ulf Brunnbauer, Johanna Wolf und Eva Lütkemeyer thematisieren unterschiedliche Standorte der Werftenindustrie seit den 1970er- bzw. in den 1990er-Jahren. Brunnbauer deutet das langfristige Ringen um den Erhalt der jugoslawisch-kroatischen Werft in Pula seit den 1970er-Jahren als diffusen Prozess eines permanenten "Durchwurstelns" und beschreibt dabei eindrücklich den "Unterbau der lokalen Praxis" (36), der jedoch das Ende des Standortes langfristig - auch als Folge des kroatischen EU-Betritts im Jahr 2013 - nicht verhindern konnte. Johanna Wolf nutzt den von ihr fokussierten Bremer Schiffbau am Beispiel der Vulkan-Werft als empirisches "Paradebeispiel" zur eingehenden historischen Analyse "gesellschaftlichen Umgangs mit Krisen und Umbrüchen" in den betroffenen Küstenregionen. Auch in ihrer Analyse sticht eine weitgehende "Unfähigkeit" in Wahrnehmungen und Handlungen der beteiligten Akteure in Politik, Unternehmen und Gewerkschaften hervor, die langfristige materielle wie mentale Krisenreaktionen seit den "Strukturbrüchen" der 1970er-Jahre verhindert hätten. Einen stärker kulturhistorischen und zugleich anregenden Blick wirft schließlich Eva Lütkemeyer auf den von ihr untersuchten ostdeutschen Schiffbau nach 1990, indem sie den subjektiven Erfahrungswandel mithilfe einer in Anlehnung an Reinhart Koselleck gestalteten Trias "Erwartung" (auf neue Zukünfte im Jahr 1990), "Erfahrung" (der schweren Krise bei der Privatisierung nach 1991) und "Enttäuschung" (über das spätere Scheitern der Bemühungen) beschreibt.

Der in den letzten Jahren wieder stärker diskutierte Rolle der organisierten Arbeitnehmerinnenschaft in diesen jüngeren Umbruchsprozessen widmen sich die Beiträge von Moritz Müller, Christian Rau und Detlev Brunner. Müller macht gegenwärtige gewerkschaftliche Diskussionen um eine "zweite Transformation" durch die Digitalisierung zum Ausgangspunkt, die Rolle von neuen Technologien in innerorganisatorischen Debatten und Praktiken der 1970er- und 1980er-Jahre am Beispiel des "Aktionsprogramms Arbeit und Technik" zu beleuchten - welches ihm gleichermaßen als "Zeitdiagnose" wie auch als "Handlungsauftrag" (65) erscheint. Waren derlei technikbezogene Mobilisierungskampagnen kurzfristig weniger erfolgreich, kann er durchaus eine längerfristige Wirkmächtigkeit herauspräparieren. Um eben diese Resonanzen geht es auch Christian Rau in seinem Beitrag, der das von Zeitgenossen wie Zeitzeugen der 1990er-Jahre immer bemühte Narrativ der "gewerkschaftsfreien Räume" kritisch zu dekonstruieren sucht, indem er mithilfe verschiedener "gewerkschaftlicher Erfahrungsräume" (81) in Betrieben, Organisationen oder Protestformaten entsprechende "Agency" herauspräparieren kann. Demgegenüber arbeitet Detlev Brunner in seinem Beitrag die eher beschränkten Möglichkeiten auf dem Feld der Mitbestimmung heraus, da Gewerkschaftsvertreterinnen institutionalisierte Einflussnahmen - etwa bei der Treuhandanstalt - oft verwehrt geblieben seien. Die dramatischen sozialen Folgen des Wirtschaftsumbaus (insbesondere in Form der Arbeitslosigkeit) verknüpft er dabei mit den umfassenden Protesten im Osten, an denen auch die Gewerkschaften einen maßgeblichen Anteil hatten.

Schließlich widmet sich eine dritte und letzte Gruppe verschiedenen alternativen Räumen des wirtschaftlichen Umbruchs jenseits von Branchen, Betrieben und Gewerkschaften. In seinem anregenden Beitrag stellt Florian Peters die ab Mitte der 1980er-Jahre aufkommenden Polenmärkte als "paradigmatische Orte der Transformationszeit" (109) heraus. Er skizziert an diesem Beispiel die Verknüpfungen von Theorie und Praxis bzw. der marktaffinen Leitbilder und alltäglichen Erfahrungsräume als "Laboratorien des freien Marktes" (112) sowie zugleich als "Knotenpunkte des grenzüberschreitenden Kleinhandels" (144). Der Beitrag von Keith R. Allen erweitert die Perspektive stärker ins Inter- bzw. Transnationale hinein, indem er die Verstrebungen zwischen schweizerischer, west- und vor allem auch ostdeutscher Wirtschaft vor und dann auch nach 1990 in den Blick nimmt. Die dergestalt herausgearbeitete Komposition aus Akteuren, Wissensbeständen und Netzwerken verweist insbesondere auch auf internationale Perspektiven jenseits einer rein westdeutschen "Übernahme" des Ostens. Wie produktiv auch stadthistorisch-vergleichende Ansätze sein können, demonstriert Jörn Eiben in seinem Beitrag, der die städtischen "Erfahrungsräume" in Wilhelmshaven und Wolfsburg bei der Bewältigung fundamentaler Krisen seit Mitte der 1970er-Jahre untersucht. Sowohl für die Marine- als auch für die Autostadt konstatiert er ein abruptes Auseinanderklaffen von Erfahrungsräumen und Erwartungshorizonten, welches die beteiligten Akteure vor Ort jeweils zu Transformationsversuchen mit neuen Zukunftsentwürfen geführt hatte. Stark auf die oft vernachlässigten ländlichen Räume blickt schließlich Uta Bretschneider, die sich kritisch am verbreiteten Narrativ des "Erfolgs" der Umgestaltung der LPGen nach 1990 abarbeitet. Der eigentlich von westlicher Seite anfangs kaum gewollte ostdeutsche bzw. "genossenschaftliche" Sonderweg - der neuen "Roten Junker" - sei in der Praxis häufig mit vielfältigen und oft kaum beachteten Prozessen des Scheiterns, der Abwanderung bzw. einer weitgehend "Entbäuerlichung" einhergegangen.

Insgesamt wird man sagen können, dass die exemplarischen Blicke auf die Praxis- bzw. Mikroebenen der Transformation (bzw. ihrer Vorzeit) zwar sehr heterogen ausfallen, aber durchaus interessante Ein- und Seitenblicke sowie räumliche und zeitliche Erweiterungen bereithalten. Gerade in den Beiträgen, in denen theoretische Überlegungen mit empirischen Befunden reflektiert zusammengedacht werden - etwa bei Florian Peters oder Eva Lütkemeyer - offenbaren sich die erheblichen Potenziale einer solchen "langen" bzw. Mikrogeschichte der Wende von unten, gerade auch in der möglichen Anlehnung an die wegweisenden Beiträge Alf Lüdtkes, dessen bahnbrechende Arbeiten bemerkenswerterweise in diesem Band so gut wie unsichtbar bleiben. [4] Ein solcher Ansatz müsste sich aber künftig noch stärker für weitergehende zeithistoriografische Problemlagen öffnen, die im vorliegenden Band noch kaum adressiert werden - etwa die Rolle von gewandelten Geschlechterverhältnissen, politisch-kulturelle Dimensionen von Gewalt und Extremismus oder individuell-biografischen Selbstdeutungen innerhalb größerer gesellschaftlicher Dynamiken.

Etwas irritiert lässt den Rezensenten schließlich die Einleitung zurück. Hoffmann und Brunnbauer kontrastieren dort eine heterogene Reihe ostdeutscher Autor*innen (darunter auch der Verfasser dieser Rezension) mit einem vorgeblich versachlichten empirischen Forschungsprogramm, das im exklusiven Rückgriff auf etablierte westdeutsche Fachvertreter entwickelt wird. Das verwundert dann doch: die (ostdeutsch?) subjektiv-biografisch-betroffene Welt der "Gefühle" und Emotionen hier, die (westdeutsch?) sachlich-wissenschaftlich-differenzierende Sphäre der "Fakten" aus den "Akten" dort? Derlei über diffuse Ost-West-Gegensätze gebürstete Strategien - die ironischerweise stark an den Gestus zeitgenössischer Frontstellungen und Asymmetrien der 1990er-Jahre erinnern - wirken im gegebenen Zusammenhang zumindest problematisch. Zumal in einem Sammelband, der sich programmatisch einer differenzierenden Historisierung von Mikroperspektiven auf die Transformations- und Wendezeit widmen möchte. Glücklicherweise sind die allermeisten Beiträgerinnen in ihren lesenswerten Fallstudien gerade nicht diesem Strickmuster gefolgt.


Anmerkungen:

[1] Vgl. etwa: Wolfgang Schluchter / Peter Quint / Rainer M. Lepsius (Hgg.): Der Vereinigungsschock. Vergleichende Betrachtungen zehn Jahre danach, Weilerswist 2001.

[2] Kerstin Brückweh / Clemens Villinger / Kathrin Zöller (Hgg.): Die lange Geschichte der "Wende". Geschichtswissenschaft im Dialog, Berlin 2020; Alexander Leistner / Monika Wohlrab-Sahr (Hgg.): Das umstrittene Erbe von 1989. Zur Gegenwart eines Gesellschaftszusammenbruchs, Köln u.a. 2022.

[3] Dazu: Petra Köpping: Integriert doch erst mal uns! Eine Streitschrift für den Osten, Berlin 2018; Norbert F. Pötzl: Der Treuhand-Komplex. Legenden. Fakten. Emotionen, Hamburg 2019.

[4] Alf Lüdtke (Hg.): Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt a.M. 1989.

Marcus Böick