Martin Sabrow / Alexander Koch (Hgg.): Experiment Einheit. Zeithistorische Essays, Göttingen: Wallstein 2015, 168 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-1864-9, EUR 16,00
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Das markante Coverfoto verlangt nach Beachtung: Ein blassblauer Trabant mit altem DDR-Kennzeichen hat einen vermutlich unlängst gebraucht erworbenen, knallroten Opel gerammt, der ausweislich des (neuen) Kennzeichens ebenfalls aus dem Osten stammt. Während die sommerlich gekleideten Unfallparteien zwischen den Wagen beieinanderstehen und wohl auf eine Polizeistreife warten, ragt im Hintergrund ein blaugelbes Zirkuszelt in die Höhe. Das Eingangsportal ziert der Spruch: "Willkommen im Wunderland". Letztlich lässt diese "1989/90" im Süden Sachsen-Anhalts eingefangene Aufnahme Raum für vielseitige Assoziationen: Ein innerostdeutscher Provinzstraßenunfall vor einem Zirkus als Metapher für den krisenhaften "Prozess" der "Einheit"? Erst das erhoffte Wunderland, dann aber der ärgerliche Blechschaden? Geht es um die vielzitierten "Verlierer" und "Gewinner"? Vielleicht um die expandierende Konsumgesellschaft und ihre gesellschaftlichen Konsequenzen, wie sie in den nach 1990 sprunghaft ansteigenden Verkehrsunfallzahlen zum Ausdruck kamen? [1]
Der von Martin Sabrow und Alexander Koch herausgegebene Sammelband reiht sich in eine gegenwärtige Forschungskonjunktur ein, die die Zäsur von 1989/90 nicht mehr als abschließenden End-, sondern in problemorientierter Perspektive als Ausgangspunkt und Übergangsphase zu neueren Entwicklungen begreift. [2] Als Begleitband zur Berliner Ausstellung "Alltag Einheit. Porträt einer Übergangsgesellschaft" möchte dieses Buch "unterschiedliche Perspektiven" auf die Zäsur 1989/90 in essayistischer Form versammeln. Dabei sollen "zeitgenössische Erfahrung" und "zeitgeschichtliche Distanz" miteinander verknüpft werden. (7) Als Leitmotiv steht jedoch nicht allein der "Unfall" auf dem Buchdeckel, wobei bereits Zeitgenossen eine Vorliebe für automobile (Crash)-Metaphern zur Beschreibung der postsozialistischen Verwerfungen erkennen ließen. [3] Vielmehr rückt eine der sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung entlehnte Formel in den Vordergrund: Das "Experiment". Erwartet uns also eine neuerliche Bilanz aus dem "Laboratorium Deutschland?" [4] Doch wer nun altbekannte Bilanzierungsbemühungen erwartet, wird im positiven Sinne enttäuscht - die versammelten Texte suchen vielmehr nach neuen Blickwinkeln: Martin Sabrow dechiffriert die gedenkkulturelle Nachgeschichte der "Einheit" innovativ als "kraftlosen Mythos" in einer "mythenlosen Zeit", etwa mit Blick auf die geringe Strahlkraft des 3. Oktobers als Nationalfeiertag. Die Etablierung eines neuerlichen "Mythos Einheit" sei nach 1990 letztlich nicht an der "kritischen Einrede der mythenzerstörenden Geschichtswissenschaft", sondern an der prekären "Gedenkkultur der postnationalen deutschen Nation" gescheitert, deren "Kollektivsymbole" ohnehin durch "Individualisierung" sowie "Transnationalisierung" in Erosion begriffen seien (24).
Konrad Jarausch verschränkt in seinem Beitrag über den "wundersamen Weg in die Einheit" Zeitzeugen- und Zeithistorikerperspektive und arbeitet politik- und ereignishistorisch die Zufälligkeiten heraus, die die (bald als alternativlos beschriebene) Vereinigung gegen nicht wenige Widerstände überhaupt erst ermöglicht hätten. Auch Pascale Hugues wählt eine subjektiv gefärbte Außen- bzw. Zeitzeuginnenperspektive für ihren Beitrag. Provokant mit "DDR, mon amour" überschrieben, berichtet sie von ihrer kurzen, aber heftigen Romanze mit der sterbenden DDR als einem anderen Deutschland, das sie gerade in der Mischung aus Dynamik, Widersprüchlichkeit und Andersartigkeit in einer "Zeit in der Schwebe" (54) zu verzaubern gewusst habe. Wie seine Landsfrau zieht auch Etienne François eine persönlich gefärbte Bilanz seiner Selbstversöhnung mit der Neujustierung der deutschen Nation nach 1990: Vor allem mit Blick auf die "longue durée" der nationalen Identitätsbezüge seit dem 17. Jahrhundert schien ihm deren Wiederkehr unwahrscheinlich. Die nach 1990 aufbrechenden innerdeutschen Konflikte um "Privatisierung" (der Planwirtschaft) oder "Aufarbeitung" (des SED-Regimes) hätten dann letztlich den Rahmen für eine eigentümliche Weiterentwicklung eines gesamtdeutschen Nationalgefühls zwischen Normalisierung und Spezifik gebildet.
Nach diesen Außenperspektiven richtet sich der Blick nach innen: Wolfgang Engler präsentiert seine bekannten Reflexionen zu den arbeitsweltlichen Umbrüchen, durch die die Ostdeutschen zu "Spezialisten des Schwunds" (77) avanciert seien: Engler hebt dabei auf die individuellen Brucherfahrungen, Entwertungen und Verunsicherungen ab, die diesen zugemutet worden seien, als sie über Nacht aus einer sozialistischen Kollektiv- in eine kapitalistische Konkurrenzgesellschaft gestoßen wurden. Demgegenüber wählt Andreas Ludwig einen konkreteren Zugang, um so den radikalen Wandel der Konsumkultur zu thematisieren: die Präsenz der "Westprodukte" in der späten DDR, die "doppelte Ökonomie" der Übergangszeit (96), die (nachholende) "Einübung" der Ostdeutschen in die westliche Warenwelt sowie das abrupte Verschwinden und das anschließende, identitätsgetriebene Revirement eines ostalgischen Konsums. Frank Bösch und Christoph Classen gehen den Wandlungen in der ostdeutschen Medienlandschaft nach: Der prekären DDR-Alltagsbalance aus offiziösen Staats- und präsenten Westmedien habe sich 1990 ein "kurzer Sommer der bunten Vielfalt" angeschlossen, der jedoch in eine neue Dominanz westdeutscher Medienunternehmen übergegangen sei, die den neuen Markt mit spezifischen Angeboten untereinander aufgeteilt hätten. Bösch und Classen deuten diese Entwicklungen als "Vorläufer" des sich bald auch im Westen vollziehenden, radikalen Medienwandels im Zeichen der Digitalisierung.
Hermann Rudolph richtet seinen Blick auf die "verschärfte Version der Einheit", als die er den "Fall" Berlin begreift (123). Berlin als geteilte Metropole bzw. Stadtgesellschaft habe diese Prozesse intensiver durchlebt: der Zusammenprall der exotisch westdeutschen "Insel-Stadt" mit der grau-verbauten "Hauptstadt der DDR" habe aus dem "Traumland des Aufbruchs" (128) schnell eine Zone von "Alpträumen" und Konflikten werden lassen; vor allem der Hauptstadtbeschluss und der Regierungsumzug hätten der Stadt jedoch neue Perspektiven eröffnet. Dorothee Wierling richtet ihren Blick auf vornehmlich ostdeutsche "Wendebiographien". Sie plädiert für Differenzierungen nach Klasse, Geschlecht, Alter und Milieu, verweist aber auch auf ein Spezifikum der erzählten Lebensberichte: Hier scheinen Unterschiede zwischen den Generationen entscheidend dafür, ob diese Zeit als individueller Auf-, Um- oder Abbruch beschrieben werde. Den Abschluss des Sammelbandes bildet ein Beitrag von Doris Müller-Toovey über die Sprache nach 1990. Sprach- und Gesellschaftswandel hätten einander bedingt, weshalb die "Wende" auch eine intensive Sprachforschung befeuert habe: "Revolution" und "Transformation" hätten nicht nur zahlreiche Neologismen hervorgebracht, sondern auch die sozialistisch gefärbte "Ostsprache" in der Arbeitswelt abrupt aussterben lassen. Den Ostdeutschen bescheinigt sie eine "enorme Anpassungs- und Integrationsleistung".
Was ist also das Resultat des "Experiments Einheit"? Ist der "Einigungsprozess" als "Crash" zu werten? Die für sich genommen durchweg interessanten Einzelbeiträge, die teils aus erfahrungsbezogener Zeitzeugen-, teils aus distanzierender Zeithistorikerperspektive präsentiert werden, bieten einen eindrucksvollen Überblick über die polarisierten Erzählweisen und verschiedenen Deutungsschichten, die sich bereits zeitgenössisch in den frühen 1990er-Jahre über die postsozialistische "Transformationszeit" gelegt haben: "Anpassungen" und "Entwertungen", "Normalisierungen" und "Exotisierungen" haben so ihren Platz in den versammelten Berichten. Am Ende enthält sich der lesenswerte Sammelband jedoch übergeordneter Reflexionen darüber, wie man in einem nächsten Schritt vom subjektiv Anekdotischen ins systematisch Analytische vordringen könnte, wenn es darum geht, die Übergangs- und Umbruchszeit in Zukunft konsequent zu historisieren.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Christian Kolmer: Nachrichten aus einer Krisenregion. Das Bild Ostdeutschlands und der DDR in den Medien 1994-2007, in: Thomas Ahbe (Hg.): Die Ostdeutschen in den Medien. Das Bild von den Anderen nach 1990. Leipzig, 181-214.
[2] Christoph Kleßmann: "Deutschland einig Vaterland"? Politische und gesellschaftliche Verwerfungen im Prozess der deutschen Einigung, in: Zeithistorische Forschungen (2009), 85-104.
[3] Exemplarisch vgl. Gerlinde Sinn / Hans-Werner Sinn: Kaltstart. Volkswirtschaftliche Aspekte der deutschen Vereinigung, 3. Aufl., München 1993.
[4] Vgl. die sozialwissenschaftliche Experimentaleuphorie bei Bernhard Giesen / Claus Leggewie: Experiment Vereinigung. Ein sozialer Großversuch, Berlin 1991 sowie die Zwischenbilanz: Stephan Weingarz: Laboratorium Deutschland? Der ostdeutsche Transformationsprozeß als Herausforderung für die deutschen Sozialwissenschaften, Münster u.a. 2003.
Marcus Böick