Rezension über:

Ulrike Jureit: Erinnern als Überschritt. Reinhart Kosellecks geschichtspolitische Interventionen, Göttingen: Wallstein 2023, 192 S., ISBN 978-3-8353-5435-7, EUR 24,00
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Rezension von:
Bodo Mrozek
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Bodo Mrozek: Rezension von: Ulrike Jureit: Erinnern als Überschritt. Reinhart Kosellecks geschichtspolitische Interventionen, Göttingen: Wallstein 2023, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 7/8 [15.07.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/07/38013.html


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Ulrike Jureit: Erinnern als Überschritt

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Kaum jemand hat das Formelhafte am ritualisierten Totengedenken so scharf kritisiert wie Reinhart Koselleck. Sollte eine künftige Geschichtsschreibung dereinst das Totengedenken an Koselleck selbst anlässlich seines 100. Geburtstags am 23. April 2023 analysieren, so wird sie nicht nur Formeln und Rituale vorfinden. Zwar wurden dem 2006 gestorbenen Geschichtsdenker ganzseitige Hommagen zuteil, in denen es an Superlativen nicht mangelte. Koselleck gilt mittlerweile nicht nur als "Säulenheiliger" der Begriffsgeschichte (Die Welt) und deutscher Diderot (Süddeutsche Zeitung), sondern auch als der "bedeutendste deutsche Historiker des 20. Jahrhunderts" (Die Zeit). Mitten in das ritualisierte Gedenken hinein platzten jedoch Beiträge, die eine schwelende Debatte um Biographie und Werk drastisch verschärfen. [1]

Beim Werk geht es zugespitzt um die Frage, ob sich in Kosellecks Essayistik eine verstreute oder sogar "ungeschriebene" Historik (im Sinne Gustav Droysens) ausmachen lässt oder es sich lediglich in einer Sammlung "scharfsinniger Aufsätze" und etlichen prägnanten Metaphern erschöpfe. [2] Und auch diese Begriffe selbst werden mittlerweile einer genaueren Revision unterzogen. Hier reiht sich Ulrike Jureits erste monographische Analyse zum Erinnerungs-Komplex bei Koselleck ein, der eine Schlüsselkategorie auch zu seiner frühen Biographie sei. Koselleck selbst hatte vielfach bekundet, seine Kriegszeit sei sein "Erfahrungsraum" gewesen, den er im Werk "geschichtlich auszumessen" gesucht habe (135). Die ungefähren Koordinaten dieses Erfahrungsraums sind aus der vorwiegend auf Selbstauskünfte gestützten bisherigen Exegetik bekannt: freiwillige Meldung zur HJ und an die (Ost-)Front, Lazarettaufenthalt nach Unfall, Funkdienst in Frankreich, erneuter Fronteinsatz auf ukrainischem Gebiet und schließlich Kriegsgefangenschaft in Auschwitz und Karaganda.

Während Koselleck vor allem seiner Lagerhaft einigen Raum gab, erstaunt es, dass in der umfangreichen Forschung bislang kaum moniert wurde, was die Hamburger Historikerin klar benennt: Dass man in Kosellecks beredten Auskünften "erstaunlich wenig über seine konkreten Kriegserlebnisse" erfahre (40). Aus der Aufarbeitung der Verbrechen an der Ostfront ist bekannt, dass Einheiten der Wehrmacht bei der Besetzung von Kyiv und Charkiw im Herbst 1941 Häuser niederbrannten und hunderte sogenannter Partisanen erschossen. Wie Jureit nun aufzeigt, gab Koselleck 2003 in einem Briefwechsel an, er habe erst zu diesem Zeitpunkt erfahren, "dass auch 'Infanterieregimenter meiner Division' an Judenerschießungen beteiligt waren" - zur Zeit seines eigenen Marsches durch Myrhorod, wo Erschießungen stattfanden (45-47). In einem Brief an den Literaturwissenschaftler und Spezialisten für das Vergessen, Harald Weinrich (gleichfalls ein Kriegsveteran), hatte Koselleck zuvor geäußert, er könne seinen eigenen versprachlichten Kriegserinnerungen "mir selbst zuhörend, nur noch Glauben schenken" (160). Auf konkrete eigene Erlebnisse hin befragt, wechselte er jedoch öfter von der Rolle des Zeitzeugen in die des Historikers, um sodann aus der Distanzperspektive über Krieg, Tod und Gewalt zu extemporieren. Koselleck, so Jureit, kreiste zwar um die nationalsozialistischen Verbrechen, näherte sich ihnen aber vorwiegend in abstrakten Kategorien sowie in der Lehre. Die archivbasierte Forschung vermied er und analysierte stattdessen die (Alb-)Träume Überlebender.

Ulrike Jureit lässt diese spannungsvollen Befunde nebeneinanderstehen ohne voreilige Schlüsse daraus zu ziehen. Stattdessen unterzieht sie Kosellecks Annäherungen an das Erinnern einer genauen Analyse. Seine voraussetzungsreichen Begriffsschöpfungen bezog er vielfach aufeinander, deutete sie neu aus und wechselte gelegentlich die Register. So ersetzte er schleichend den Begriff Erfahrungsraum durch Erinnerungsraum, "ohne dass sich konzeptionelle Unterschiede ausmachen ließen" (163). Dabei verzichtete ausgerechnet der Begriffshistoriker weitgehend darauf, seine Adaptionen auszuweisen. Nicht nur die durchgängig Koselleck zugeschriebenen Begriffe Erfahrungsraum und Erwartungshorizont stammen tatsächlich von anderen, wie Jureit in Erinnerung ruft. [3] Es gelingt ihr zudem - durch die Auswertung von Kosellecks Rand- und Lektürenotizen - auch andere mögliche Begriffsaneignungen aufzuzeigen, darunter Möglichkeiten in der Geschichte (Hans Blumenberg), Primärerfahrung (Helmut Schelsky), Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen (Wilhelm Pinder) oder Generativität (Edmund Husserl). Dies erweitert die jüngere Koselleck-Forschung, die andere Begriffsadaptionen aufgespürt hat. [4]

Einige dieser stillen Übernahmen gingen gleichwohl mit Umdeutungen einher, etwa im Falle des (für Jureits Buch titelgebenden) Begriffs Überschritt, den Koselleck von Heidegger entlehnte, anders als dieser aber als Synonym für den Wechsel zwischen verschiedenen Zeitebenen verwendet habe. Angesichts der Menge dieser zweifellos wichtigen Ergebnisse stellt sich jedoch die Frage, wie weit die Ausforschung begrifflicher Beziehungsgeflechte künftig noch getrieben werden soll, da diese Art der fast schon philologischen Koselleckologie ironischerweise zu dem tendiert, was Koselleck in seiner Begriffsgeschichte strikt vermeiden wollte: einem rein ideengeschichtlichen Verweissystem bedeutender Gedanken großer Geister.

Sein Verhältnis zum Erinnerungs-Paradigma ist hingegen von geschichtspolitischer Bedeutung. Koselleck meldete sich bekanntlich in den 1990er Jahren im Denkmalstreit um die Neue Wache und das Holocaustmahnmal zu Wort, nicht nur in öffentlichen Beiträgen, sondern auch, wie Jureit nachweist, in Briefen unter anderem an seinen vormaligen Heidelberger Kommilitonen Helmut Kohl. Die Nichtbeachtung von Kosellecks Vorschlag eines erst noch zu konzipierenden "Negativdenkmal[s]", das Juden nicht als herausgehobene Opfergruppe priorisiere, sondern auch dem "aktive[n] Opfer" der Täter gerecht werde, trug er in zunehmend drastischer Wortwahl vor (172, 80). Seine resignierte Bemerkung, es bekämen nun "die Juden ihren sogenannten Fußballplatz" in Form des Holocaustmahnmals, führte zu einer scharfen Kontroverse mit Shlomo Avineri und Ignatz Bubis und im Resultat zu "Bitterkeit, Enttäuschung und einer gehörigen Portion Verachtung" (173f.). Hieraus resultierten laut Jureit "Missverständnisse", die in der Folge mit Kosellecks Kriegsbiografie kurzgeschlossen wurden, etwa in Gabriel Motzkins Vorwurf, Koselleck wolle "Deutsche von der Schuld entlasten", sei aber "als Soldat [...] schuldig, ganz gleich, ob er etwas wußte oder nicht" (84f.).

Insgesamt ist Jureits konzise Studie, die mögliche Zusammenhänge zwischen Biographie, Werk und Politik aufzeigt, eine sehr kritische, aber ebenso genaue Lektüre etlicher Kernbegriffe Kosellecks. Indem sie so akribisch mit ihnen ringt, wird sie dem "großartigen Historiker" Koselleck und dessen eigenen Ansprüchen durchaus gerecht (176). Ihr ernüchternder Befund, dieser habe "keine ausgearbeitete Erinnerungstheorie" im Speziellen hinterlassen (12), deckt sich partiell mit dem allgemeinen Stefan-Ludwig Hoffmanns, es handele sich bei Kosellecks Werk eben "nicht einfach um Methoden für den Werkzeugkasten der Historiker". [5] Davon kann nur enttäuscht sein, wer ein monolithisches, widerspruchsloses, von Weiterentwicklungen, Korrekturen und Kehrtwenden freies Lebenswerk erwartet, wie es realistischerweise wohl nirgends zu finden ist. Oder wer der Illusion anhängt, es sei möglich, in einigen Aufsätzen und Zettelkästen die umfassende Theorie einer Gesamtgeschichte zu entwickeln, die sich universal zitieren lässt, weil man zu bequem zum Selberdenken ist - oder zu vorsichtig zum Selberscheitern.


Anmerkungen:

[1] Treffend, aber spätere Positionsänderungen nicht reflektierend: Sidonie Kellerer: Kosellecks Latenzzeit, in: Philosophie Magazin, 21.4.2023; https://www.philomag.de/artikel/kosellecks-latenzzeit [28.06.2023]; vgl. die Debatten-Zusammenfassung, in: Perlentaucher, 27.4.2023; https://www.perlentaucher.de/9punkt/2023-04-27.html?highlight=Reinhart+Koselleck#a91687 [28.06.2023].

[2] Erstere Position vertritt Stefan-Ludwig Hoffmann: Riss in der Zeit. Kosellecks ungeschriebene Historik, Berlin 2023, 15 und 368; letztere Wolfgang Schieder: Werner Conze und Reinhart Koselleck. Zwei begriffsgeschichtliche Konzeptionen in den Geschichtlichen Grundbegriffen, in: Reinhart Koselleck als Historiker. Zu den Bedingungen möglicher Geschichten, hgg. von Manfred Hettling / Wolfgang Schieder, Göttingen 2021, 149-170, hier 167.

[3] Sie lassen sich auf Karl Mannheim u.a. zurückführen. Vgl. Reinhard Laube: Karl Mannheim und die Krise des Historismus. Historismus als wissenssoziologischer Perspektivismus, Göttingen 2004, 290, Anm. 356.

[4] Vgl. Hoffmann: Riss in der Zeit, 85-87 und 139; Chris Lorenz: Probing the Limits of Metaphor: On the Stratigraphic Model in History and Geology, in: Historical Understanding. Past, Present and Future, hgg. von Zoltán Boldizsár Simon / Lars Deile, London 2021, 203-216; Jan Eike Dunkhase: Glühende Lava. Zu einer Metapher von Reinhart Koselleck, in: Die Vergangenheit im Begriff. Von der Erfahrung der Geschichte zur Geschichtstheorie bei Reinhart Koselleck, hgg. von Jeffrey Andrew Barash / Christophe Bouton / Servanne Jollivet, Freiburg / München 2021, 155-164.

[5] Hoffmann: Riss in der Zeit, 325.

Bodo Mrozek