Thorsten Holzhauser / Felix Lieb (Hgg.): Parteien in der "Krise". Wandel der Parteiendemokratie in den 1980er- und 1990er-Jahren (= Zeitgeschichte im Gespräch; Bd. 33), Berlin: Metropol 2021, 143 S., ISBN 978-3-86331-620-4, EUR 16,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Jens Gieseke / Andrea Bahr: Die Staatssicherheit und die Grünen. Zwischen SED-Westpolitik und Ost-West-Kontakten, Berlin: Ch. Links Verlag 2016
Hans-Gert Pöttering: Wir sind zu unserem Glück vereint. Mein europäischer Weg, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014
Norbert Bicher: Mut und Melancholie. Heinrich Böll, Willy Brandt und die SPD. Eine Beziehung in Briefen, Texten, Dokumenten, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2017
Andreas Moring: Liberale Europapolitik 1949-1989. Die Europapolitik der FDP zwischen 1949 und 1989. Mit einem Vorwort von Hans-Dietrich Genscher, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2014
Ralf Hoffrogge: Werner Scholem. Eine politische Biographie (1895-1940), Konstanz: UVK 2014
Ralf Ahrens / Boris Gehlen / Alfred Reckendrees (Hgg.): Die "Deutschland AG". Historische Annäherungen an den bundesdeutschen Kapitalismus , Essen: Klartext 2013
Johannes Ludewig: Unternehmen Wiedervereinigung. Von Planern, Machern, Visionären, Berlin: Osburg Verlag 2015
Martin Sabrow / Alexander Koch (Hgg.): Experiment Einheit. Zeithistorische Essays, Göttingen: Wallstein 2015
Thorsten Holzhauser: Die "Nachfolgepartei". Die Integration der PDS in das politische System der Bundesrepublik Deutschland 1990-2005, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2019
Thorsten Holzhauser: Demokratie, Nation, Belastung. Kollaboration und NS-Belastung als Nachkriegsdiskurs in Frankreich, Österreich und Westdeutschland, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2022
Dass Krise eigentlich immer ist, bedarf für Zeitzeuginnen des Jahres 2024 mit Blick auf die scheinbar permanente und intensiv diskursiv bearbeitete "Polykrise" [1] unserer von Konflikten, Kriegen, Klimawandel und Krankheiten geplagten Gegenwart eigentlich keiner näheren Ausführung mehr. Gleichermaßen abgehangen erscheint die hiermit eng verbundene Formel, dass Krisen jedoch immer auch (bisweilen dornige) Chancen bieten. Doch so wenig originell diese beiden Denkfiguren auch erscheinen mögen - wendet man sie konsequent zeithistoriografisch zurück in die jüngsten Vergangenheiten und folgt dabei den konzeptionellen Überlegungen einer "reflexiven" Krisenforschung, prominent vertreten von Rüdiger Graf oder Thomas Mergel, können Krisen in der Tat ungemein fruchtbar sein - als heuristisches Instrument zur Fokussierung von wandelbaren Krisendiagnosen, -wahrnehmungen und -reaktionen. [2]
Der kleine, von Thorsten Holzhauser und Felix Lieb herausgegebene Sammelband versucht nun eben einen solchen reflexiven Krisenbegriff auf einem Feld fruchtbar zu machen, in dem dieser eigentlich durch das ganze 20. Jahrhundert hindurch paradoxerweise zum Alltagsgeschäft gehörte - der (west-)deutschen Parteiendemokratie, hier insbesondere in den 1980er- und 1990er-Jahren. Anknüpfend an größere Forschungstrends einer inzwischen einigermaßen abgegriffenen (Krisen-)Geschichte "nach dem Boom" [3] sowie einer mittlerweile ebenso leicht graumelierten "Kulturgeschichte des Politischen" [4], weisen die Herausgeber völlig zu Recht auf eine einigermaßen erstaunliche Leerstelle der allerjüngsten Zeitgeschichtsforschung hin: die Geschichte der Parteien.
Diese Akteursgruppe scheint zwischen den seit den 1990er-Jahren kaskadenweise durch das Fach rollenden "cultural turns" und ihren subjektzentrierten Mikroansätzen einerseits sowie den "transnational turns" und deren globalhistorischen Makroperspektiven andererseits weitgehend durch das Aufmerksamkeits- und Antragsraster der allermeisten Historikerinnen gefallen zu sein, während zugleich eine sich an die Gepflogenheiten der internationalen, prognoseorientierten Ökonomie anlehnende Politikwissenschaft ihr einst ureigenes Interesse an der jüngeren Parteiengeschichte weitgehend verloren hat. Somit verharrt ausgerechnet die Geschichte der Parteien als intermediären Akteuren und politischen Arenen gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hierzulande in einem oftmals wenig besuchten Niemandsland.
Aus dieser Nischensituation wollen die hier versammelten Texte nun ihrerseits Profit schlagen. Die beiden Herausgeber konzipieren Krisen einleitend überzeugend als "Indikatoren gesellschaftlichen Wandels" (9), als "Motoren [des] politischen Wandels" (13) sowie als "Argument im innerparteilichen Streit". (14) Dementsprechend vielfältig navigieren in der Folge die folgenden Beiträge durch die parteiendemokratische Krisennarrativlandschaft der jüngeren Vergangenheiten. Die für ihre wegweisende Grünen-Studie [5] bekannt gewordene Silke Mende beklagt in ihrem konzeptionellen Beitrag, dass "eine genuin zeithistorische Beschäftigung mit Demokratie, Parlamentarismus oder Parteiendemokratie in den letzten Jahren keineswegs mehr im Zentrum des Faches" gestanden habe (26). Demgegenüber plädiert sie für eine erneuerte, räumlich wie zeitlich erweiterte Parteiengeschichte als Demokratie- und Gesellschaftsgeschichte im Dialog mit den Sozialwissenschaften, die bewusst Perspektiven jenseits tradierter Rechts-Links-Schemata ausloten solle.
Die folgenden Beiträge wenden sich einzelnen Parteien- und Problemkonstellationen zu, die alle durch die Klammer der Krise zusammengehalten werden: Bernhard Dietz befasst sich etwa, in Anschluss an frühere Forschungen [6], mit den Folgen des vieldiskutierten "Wertewandels" für die sich als wertkonservativ verstehende CDU und deutet dabei die teils heftigen innerparteilichen Konflikte zwischen traditionsbewussten "Konservativen" und modernisierungsfreudigen "Reformern" als ein kompetitives "Forum einer Krisenbewältigung". (43) Die Partei habe sich langsam bis Ende der 1980er-Jahre weiter in der gesellschaftlichen Mitte zu positionieren versucht, wobei der als Generationskonflikt begriffene "Wertewandel" in den Programm- und Richtungsdebatten jeweils als Chance oder Bedrohung gedeutet werden konnte. Auch Marc Meyer interessiert sich für die 1980er-Jahre, richtet sein Augenmerk allerdings stärker auf den lokalen Raum. Ähnlich wie die die Bundesregierung seit 1982 anführende CDU war auch die in die Opposition verbannte SPD nach dem Machtwechsel in eine Identitätskrise geraten, die auf allen Ebenen durchschlug. Am Beispiel der Frankfurter SPD und ihren internen Debatten und Wahlkämpfen zeichnet dieser Beitrag nun die Grundspannung zwischen traditionsbewusster Arbeiter- und fortschrittsaffiner Mitte-Partei (insbesondere im aufsteigenden "Dienstleistungsmilieu") bei der konkreten "Mobilisierungsarbeit" vor Ort nach.
Einer konsequenzenreichen Krisendiagnose anderer Art geht Moritz Fischer in seinem Text nach, indem er die Gründungsgeschichte der Partei "Die Republikaner" in den Jahren 1983 bis 1985 rekapituliert. Ursprünglich hätte vor allem die Enttäuschung über ein ersehntes Ausbleiben der "geistig-moralischen Wende" der von Helmut Kohl geführten Bundesregierung konservative Unionsmitglieder zum Aus- bzw. Übertritt veranlasst, bevor sich die Partei unter der Ägide Franz Schönhubers zunehmend politisch radikalisiert und an Nationalismus und Rassismus als neuen programmatischen Fixsternen orientiert hätte. Die soziokulturellen Folgewirkungen von "1968", das Aufkommen der "Neuen Sozialen Bewegungen" sowie die Etablierung der Partei der "Grünen" mobilisierte dabei nicht nur auf der (äußersten) Rechten; auch die linke Mitte musste sich neu sortieren, wie Felix Lieb in seinem Beitrag über die sozialdemokratische Umweltpolitik argumentiert. Die nunmehr allgegenwärtige Grundspannung zwischen materialistischer "Ökonomie" sowie post-materialistischer "Ökologie" habe die innerparteilichen Umwelt-, Sozial- und Energie-Debatten in den 1980er-Jahren bestimmt. In den von den Umbrüchen in der DDR und Osteuropa überlagerten Wahlkämpfen des Jahres 1990 habe SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine für eine "sozial-ökologische Marktwirtschaft" geworben - und habe eine historische Niederlage gegen den "Einheitskanzler" Helmut Kohl einstecken müssen, die letztlich der Schröder'schen "Marktsozialdemokratie" der späten 1990er-Jahre den Weg ebnen sollte.
Damit ist das Blickfeld auf die Geschichte der 1990er-Jahre geöffnet, in der die folgenden Beiträge von Florian Schikowski und Thorsten Holzhauser angesiedelt sind. Nach 1990 befanden sich die bundesdeutschen Grünen, die in den vorherigen Beiträgen noch als krisenauslösende Faktoren aufgetaucht waren, selbst in einer unverhofften Krise. Der Zusammenbruch des Realsozialismus und die deutsche Einigung hätten, wie Schikowski zeigen kann, der zuvor vielbeachteten "Anti-Parteien-Partei" zunächst den Wind aus den Segeln genommen - und erst im durchaus schwierigen Zusammengehen mit dem ostdeutschen Bündnis 90 habe man die immanente Grundspannung zwischen basisdemokratischer "Bewegung" und parlamentarisch-professionalisierter "Partei" ab Mitte der 1990er-Jahre wieder besser austarieren und sich mithin ins gesamtdeutsche Parteiensystem voll integrieren können. Eine parteipolitische "Identitätskrise" an den Rändern eben dieses bundesrepublikanischen Systems durchlebte zur gleichen Zeit die zur PDS gewandelte SED, wie Holzhauser in seinem Beitrag hervorhebt: Die vormalige Staatspartei habe sich - nach dem ersten Schock des Machtverlusts - unter der Führung Gregor Gysis in eine veritable "Krisengemeinschaft" verwandelt, die zunächst den einstmaligen Parteimitgliedern und DDR-Funktionären sowie später auch durch den Transformationsprozess infolge von Abwicklung und Arbeitslosigkeit frustrierten Ostdeutschen eine neue bzw. im Grunde: alte "Heimat" geboten habe. Die von der PDS vollführte "Symbiose ideologischer, identitätspolitischer, emotionaler und populistischer Kommunikationsformen" (121) sollte sich langfristig - mit Blick auf die AfD - als durchaus stilbildend erweisen und die Rede vom "postideologischen Zeitalter", so Holzhausers überzeugendes Resümee, Lügen strafen.
Räumlich wie zeitlich aus dem Rahmen fällt der abschließende Beitrag von Zoé Kergomard - allerdings im positiven Sinne: vor allem in kritischer Auseinandersetzung mit politikwissenschaftlichen Verdrossenheitsdiagnosen kann sie zeigen, wie die Partei- bzw. Staatskrisendebatten unter den direkt-demokratischen Bedingungen der Schweiz bereits seit den 1960er-Jahren geführt wurden. Die enorm späte Einführung des Frauenwahlrechts im Jahr 1971 sowie die generelle gesellschaftliche Öffnung nach 1968 habe derlei Diskussionen weiter forciert, wobei das in der Schweiz verhandelte "Wissen über Demokratie" (127) von einer spezifischen Spannung zwischen mythisch verklärten "Milizpolitikern" einerseits sowie professionalisierten Parteiorganisationen auf der anderen Seite bestimmt gewesen sei. Auch hier entpuppte sich also der Krisendiskurs auch als produktive Selbstverständigungsdebatte für die Parteien selbst.
Also doch: (Parteien-)Krise als Chance? Die Befunde bleiben eher - eingedenk der an sich begrüßenswerten Kompaktheit der Beiträge - zurückhaltend. Natürlich eröffnen sich vielfältige Anknüpfungspunkte für weitere Diskussionen: Wie könnte man etwa Parteien konzeptionell noch stärker als historische wie umstrittene Organisationen ernst nehmen, die ihrerseits in komplexe gesellschaftliche Umwelten eingebunden sind? [7] Auch wenn die konsequente Historisierung der politikwissenschaftlichen (Fach-)Diskurse (etwa zur omnipräsenten "Politikverdrossenheit") rundheraus begrüßenswert erscheint, so sehr würde die Rolle (kritischer) Medien(-beobachtung) sicher stärkere Aufmerksamkeit verdienen. Die empirische Kleinteiligkeit regt dabei zudem zu Nachfragen zur gemeinsamen erzählerischen Klammer sowie der Anknüpfung an größere Narrative der Bonner bzw. Berliner Republik an. Diese ließen sich perspektivisch auch als Parteiensystemgeschichte oder eben, beispielsweise in Anknüpfung an teils vieldiskutierte Arbeiten von Claudia Gatzka, Christina Morina oder Hedwig Richter, als Demokratie- oder Gesellschaftsgeschichte erzählen. [8] Dass wir uns dabei nicht mehr vorwiegend an der vermeintlich heilen bundesrepublikanischen Parteienlandschaft der 1950er- und 1960er-Jahre mit ihren "Volksparteien" der Boom-Zeit als gegebenem "Normalnull" abzuarbeiten haben - dies haben die anregenden Interventionen dieses Sammelbandes in jedem Falle überzeugend herausarbeiten können.
Anmerkungen:
[1] Andreas Häckermann / Frank Ettrich: Soziologie in Zeiten der Polykrise, in: Berliner Journal für Soziologie 33 (2023), 351-355.
[2] Rüdiger Graf: Zwischen Handlungsmotivation und Ohnmachtserfahrung. Der Wandel des Krisenbegriffs im 20. Jahrhundert, in: Handbuch Krisenforschung, Wiesbaden 2019, hg. von Frank Bösch u.a., 17-38; Thomas Mergel (Hg.): Krisen verstehen. Historische und kulturwissenschaftliche Annäherungen, Frankfurt am Main 2012.
[3] Vgl. als (erste) Bilanz: Christian Marx / Morten Reitmayer (Hgg.): Gewinner und Verlierer nach dem Boom. Perspektiven auf die westeuropäische Zeitgeschichte, Göttingen 2020.
[4] Exemplarisch: Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.): Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005.
[5] Silke Mende: Nicht rechts, nicht links, sondern vorn. Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011.
[6] Bernhard Dietz / Christopher Neumaier / Andreas Rödder (Hgg.): Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, Göttingen 2013; Isabell Heinemann: Wertewandel, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 22.10.2012.
[7] Marcus Böick / Marcel Schmeer (Hgg.): Im Kreuzfeuer der Kritik. Umstrittene Organisationen im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main u.a. 2020.
[8] Christina Morina: Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er-Jahren, München 2023; Claudia Gatzka: Die Demokratie der Wähler. Stadtgesellschaft und politische Kommunikation in Italien und der Bundesrepublik 1944-1979, Düsseldorf 2019; Hedwig Richter: Demokratie. Eine deutsche Affäre. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2021.
Marcus Böick