Mario Keßler: Westemigranten. Deutsche Kommunisten zwischen USA-Exil und DDR (= Zeithistorische Studien; Bd. 60), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2019, 576 S., ISBN 978-3-412-50044-3, EUR 65,00
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Wenn vom kommunistischen Exil die Rede ist, richtet sich der Blick zumeist sofort auf Tausende von KPD-Funktionären und einfachen Kommunisten, die nach 1933 in die Sowjetunion - und damit in das "Vaterland aller Werktätigen" - emigrierten. Der zweite Blick verortet exilierte Kommunisten zeitweilig und in größerer Zahl in der Tschechoslowakei, in Frankreich, Spanien, Großbritannien oder Skandinavien. Auch Mexiko ist als Aufnahmeland einer überschaubaren Gruppe von Kommunisten zumindest Experten bekannt. Anders verhält es sich mit den USA, die bekanntlich keine größere politische Nähe zu dieser Gruppe deutscher Verfolgter aufwiesen. Und doch "überwinterten" mindestens 50 von ihnen dort. Mario Keßler hat sich dieser Gruppe in einer größeren Studie genähert. Wie kein zweiter erscheint der Autor für dieses Unterfangen prädestiniert: Keßler ist Spezialist für Emigrationsgeschichte mit Schwerpunkt Kommunismus und SBZ/DDR und auch lebensgeschichtlich mit beiden Welten verbunden - als Mitarbeiter am ZZF Potsdam und als Gastprofessor an der Yeshiva University in New York. Er hat bereits zwei Biographien von KPD-Funktionären vorgelegt, die ganz oder zeitweise in die USA emigriert waren - zu Albert Schreiner und zur vormaligen KPD-Vorsitzenden Ruth Fischer.
Methodisch lässt sich Keßler von politik- und ideengeschichtlichen Ansätzen leiten und bezieht eine "intellektuell-kulturgeschichtliche Analyseebene" (11) in seine Betrachtungen ein. Konkret fragt er nach der Arbeitssituation der Emigranten, nach deren Entwürfen für ein Nachkriegsdeutschland und was sich davon in der DDR erfüllte, und er thematisiert das "kulturelle Gepäck" (11) der Rückkehrer. Obwohl Keßler einzelne Personen stärker in den Fokus rückt (etwa Stefan Heym), handelt es sich um eine kollektivbiographische Studie, die Kommunisten mit und ohne Parteibuch einbezieht, was sich als sinnvoll erweist. Trotz der überschaubaren Gruppe von 49 Protagonisten darf der kollektivbiographische Ansatz aufgrund der starken Gruppenheterogenität als Herausforderung gelten: Die Spannbreite reichte von den Künstlern und Intellektuellen (wie Bert Brecht und Ernst Bloch) über Journalisten und Schriftsteller (wie Stefan Heym und Hans Marschwitza) und Naturwissenschaftler (wie Julius Lips und Hans Katzenstein) bis zu den Parteifunktionären (wie Albert Norden, Jakob Walcher und Albert Schreiner).
Bereits die formale Anlage des Bandes verdeutlicht, dass Keßler den selbst gestellten Anspruch, Exil und Rückkehr gleichermaßen abzuhandeln, durchweg einzulösen vermag. Beide Teile sind erstaunlich gut austariert: Der Band gliedert sich in acht Kapitel, genau die Hälfte thematisiert die Jahre des Exils, die andere Hälfte die Jahre in der SBZ/DDR. Ein am Schluss platzierter, 45 Seiten umfassender biographischer Teil präsentiert alle im Band behandelten 49 Personen. Gerade diese Übersicht trägt ganz wesentlich zum enzyklopädischen Charakter des Werkes bei, das überdies von neu erschlossenen Quellen in den USA (z. B. von einschlägigen FBI-Akten) und von einer breiten deutschen Quellenbasis profitiert.
Keßler beschreibt zuerst die politischen Voraussetzungen des kommunistischen Exils in "Roosevelts Amerika". Er thematisiert die sprachlichen Probleme, die auch generationen- und geschlechterabhängig waren, und die enormen Herausforderungen, die eine komplette Neuorganisierung des eigenen Lebens mit sich brachte. Während sich Naturwissenschaftler viel eher integrieren konnten, war das bei Parteikadern weit weniger der Fall. Ausführlich widmet sich Keßler der keineswegs nur inferioren Mitarbeit von Kommunisten im Council for a Democratic Germany und dessen Organ "The German American". Das von Gerhart Eisler, Norden und Schreiner veröffentlichte Werk "The Lesson of Germany" (1945) deutet er als mäßig selbstkritisch und eher selbstreferentiell. Keßlers Diktum, dass die Kommunisten weder im Council noch in "The Lesson" Forderungen nach Errichtung eines Einparteiregimes in Deutschland erhoben hätten, bedarf jedoch insofern der Ergänzung, als die kommunistischen Parteien nach 1935 einen Volksfrontkurs befolgten, der eben dieses KP-Spezifikum (vorübergehend) ausschloss. Die enorme Distanz zwischen dem offiziellen USA und seinen Behörden einerseits und der Gruppe der Kommunisten andererseits kommt in Keßlers Werk dort am stärksten zum Tragen, wo es um die engmaschige FBI-Überwachung von KPD-Funktionären, aber auch von KP-nahen Künstlern wie Bertolt Brecht geht. Ohne die reale Bedrohung durch KP-Netzwerke kleinzureden, spricht der Autor im Ganzen gesehen von "Verschwörungsphantasien" (271) des FBI. Ausführlich widmet er sich dabei auch dem Einfluss der Eisler-Schwester und KPD-Renegatin Ruth Fischer, die als eine Art Kronzeugin des FBI agierte. Die intensive Schilderung dieser Familientragödie gehört zweifellos zu den Stärken des Buches.
Die kommunistischen Naturwissenschaftler hatten nicht nur in den USA die besseren Berufschancen. Zurückgekehrt in die SBZ/DDER erhielten sie in der Regel Lehrstühle an Universitäten und konnten ihre anerkannte Forschungsarbeit fortsetzen. Problematischer verlief der Weg der Geisteswissenschaftler und Parteikader. Während ein Teil der ersteren zeitweilig an Universitäten in Leipzig und Berlin reüssieren konnte (etwa Ernst Bloch und Alfred Kantorowicz), später aber wegen kritischer Einlassungen in die Bundesrepublik floh, fielen Spitzenkader der KPD/SED (Norden, Eisler, Walcher) "Säuberungen" in der SBZ/DDR zum Opfer: Funktionäre wie Walcher wurden ihrer Funktionen enthoben, ja zeitweilig aus der Partei geworfen oder an ihrem Aufstieg vorübergehend gehindert (Eisler, Norden); Verhaftungen aber blieben aus. Diese "Säuberungen" hätten jedenfalls erreicht, dass "jeder Gedanke an eine demokratisch-pluralistische Ordnung, die ihnen im Exil noch vorgeschwebt haben mag[,] verbannt" worden sei (341). Doch setzt eine solche Zuschreibung voraus, dass die "West"-Kader der KPD wenigstens (ansatzweise) über einen "westlichen" Gedankenhaushalt verfügt haben könnten.
Dass das "kulturelle Gepäck" der Rückkehrer durchaus differenziert ausfiel, vermag Keßler mit seinen Tiefenbohrungen über die von US-Remigranten herausgegebenen DDR-Zeitschriften "USA in Wort und Bild" (1950-1954) und "Das Magazin" beeindruckend dicht nachzuzeichnen: Während das kurzlebige USA-Periodikum vor allem Propaganda produzierte, neigten im "Magazin" verschiedene US-Remigranten zu deutlich differenzierteren Einsichten. Überhaupt zeigt die Analyse der autobiographischen Werke von Rückkehrern, dass gerade die vormals weniger integrierten parteikommunistischen Kader zu einem primitiven linken Antiamerikanismus neigten. Über entsprechende Einlassungen des KP-Schriftstellers Hans Marschwitza urteilt Keßler: "Wie viel an Erfahrung musste man verdrängt haben, um so über ein Land zu schreiben, dem man das eigene Überleben verdankte?" (458)
Im Ganzen gesehen hat Keßler ein ebenso voluminöses wie differenziertes Werk über eine kleine, äußerst heterogene, dafür aber in Teilen intellektuell besonders anregende Gruppe vorgelegt. Dass diese Gruppe - vor allem deren Parteikader - nach der Rückkehr keine prägende (politische) Kraft entfalten konnte, versteht sich von selbst. Sie mussten sich bedingungslos den Moskau-Kadern der KPD unterwerfen, die den Weg in eine neue Diktatur bestimmten. Doch zeigt Keßlers Studie eben auch, dass die Rückkehrer über ein eigenes "kulturelles Gepäck" verfügten - und das reichte von Stefan Heyms Prosa bis zur Publizistik einer Hilde Eisler ("Das Magazin").
Mike Schmeitzner