Joachim Bahlcke / Rainer Bendel (Hgg.): Migration und kirchliche Praxis. Das religiöse Leben frühneuzeitlicher Glaubensflüchtlinge in alltagsgeschichtlicher Perspektive (= Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands; Bd. 40), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, XIII + 258 S., ISBN 978-3-412-20309-2, EUR 37,90
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Rainer Bendel / Hans-Jürgen Karp: Bischof Maximilian Kaller 1880-1947. Seelsorger in den Herausforderungen des 20. Jahrhunderts. Unter Mitarbeit von Werner Christoph Brahtz, Münster: Aschendorff 2017
Rainer Bendel / Norbert Spannenberger (Hgg.): Kirchen als Integrationsfaktor für die Migranten im Südosten der Habsburgermonarchie im 18. Jahrhundert, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2010
Joachim Bahlcke / Anna Joisten (Hgg.): Wortgewalten. Hans von Held. Ein aufgeklärter Staatsdiener zwischen Preußen und Polen, Potsdam: Deutsches Kulturforum östliches Europa e.V. 2018
Der von Joachim Bahlcke und Rainer Bendel herausgegebene Tagungsband enthält zwölf Beiträge, die für die 42. Arbeitstagung des Instituts für ostdeutsche Kirchen- und Kulturgeschichte e.V. vom 26.-29. Juli 2004 im St. Wenzeslaus-Stift zu Jauernick-Buschbach bei Görlitz entstanden oder für den vorliegenden Band verfasst wurden. Interesseleitender Gesichtspunkt des Tagungsbandes ist der "Zusammenhang von Migration und kirchlicher Praxis und das religiöse Leben frühneuzeitlicher Glaubensflüchtlinge in alltagsgeschichtlicher Perspektive" (VII).
Die enge Verflechtung von Kirche und Staat und die tiefe Verankerung der kirchlichen Praxis im Leben des Einzelnen, die Joachim Bahlcke und Rainer Bendel im Vorwort für den gesamten Beobachtungszeitraum konstatieren, veranlassen die Herausgeber mit gutem Recht, den im Titel angekündigten alltagsgeschichtlichen Fokus um die Frage nach politischen Faktoren in Heimat- und Zielorten der Migranten zu ergänzen.
Die chronologische Perspektive des Bandes umfasst mit dem Zeitraum vom 15. bis zum 19. Jahrhundert eine erweiterte Frühe Neuzeit; geographisch sind mittel- und ostmitteleuropäische Gebiete berücksichtigt, wobei die meisten Territorien sowohl als Ziel- als auch als Herkunftsländer in Frage kommen. Die Migration der Schwenckfelder nach Pennsylvania erlaubt einen kurzen Blick nach Amerika.
Die Beiträge konzentrieren sich auf Migrantengruppen, die ihre Heimat auf Dauer verließen; Einzelmigranten nimmt der Band gar nicht, zeitlich begrenzte Migration oder Remigration nur am Rande in den Blick. Zwei Beiträge widmen sich musikalischen Zeugnissen im Kontext einer Migration (Raymond Dittrich) und nicht in erster Linie mobilitätsbezogenen Phänomenen (Alexander Schunka).
Andreas Rüthers Essay zu "Böhmische[n] Altgläubige[n] nach der Flucht vor den Hussiten" steht in doppelter Hinsicht quer zur Mehrheit der Beiträge. Zunächst wendet er sich dem frühen 15. Jahrhundert zu, das der Verfasser für Böhmen als "tatsächlich reformatorisch" (1) ansieht. Dazu betrachtet er, wie Alexander Schunka, eine katholische Minderheit, für die er aufgrund der Quellenlage jedoch nur über Kleriker weiterreichende Aussagen machen kann. Etwas unvermittelt schließt ein Exkurs über jüdische Gemeinschaften an.
Matthias Asches Beitrag untersucht bäuerliche Migrantengruppen, die zur Wiederbesiedlung der im Dreißigjährigen Krieg entvölkerten Mark Brandenburg ins Land gerufen worden waren und deren Integrationsprozess in nahezu vollständiger Anpassung an die preußischen Lebensverhältnisse endete. Unter den gezielt als reformierte Gruppen angeworbenen Migranten, Niederländern, Schweizerkolonisten und hugenottischen Réfugiés, spielten vor allem die privilegierten Réfugiés eine wichtige Rolle für den Prozess der Bauernbefreiung in Preußen.
Am Beispiel der mehrstufigen Migration der schlesischen Schwenckfelder nach Pennsylvania führt Horst Weigelt die Vermeidung religiösen Zwangs als eigenständiges Migrationsmotiv vor, das eine Vielzahl anderer Faktoren des alltäglichen Handlungshorizontes, letztlich auch die Attraktivität einer günstigen Rückkehroption, überwog.
Roland Gehrke zeichnet den Weg der niederländischen Mennoniten, einer pazifistischen Täufergruppe, ins preußische Gebiet der polnischen Krone nach. Im Weichseldelta bildeten sie eine autoisolationistische "bäuerlich-plebejische[n] Bekenntnisgruppe" (68). Ihre religiöse Praxis lieferte nicht nur den Migrationsgrund, sondern übte auch mehr als 200 Jahre lang eine intern Kultur stabilisierende Wirkung aus.
Frank Metasch beschäftigt sich mit der religiösen Integration Böhmischer Exilanten im Kursachen des 17. und 18. Jahrhunderts. Das Hauptmotiv der Flüchtlinge erkennt er in ihrem Streben nach freier Religionsausübung, während die sächsische Aufnahmepolitik weniger von religiöser Toleranz als von regulierendem und administrativem Interesse geleitet war. Etwas verwunderlich ist die Angabe des Verfassers (67, Anm. 1), nach der sein Beitrag auf einem Kenntnisstand von 2004 basiere. Für weiterführende Erkenntnisse verweist er auf seine 2006 erschienene Dissertation.
Ebenfalls am Beispiel böhmischer Exilanten zeigt Matthias Noller, dass die alltägliche religiöse Kulturpraxis der Migranten ein wirksames Integrationshindernis darstellen konnte. Eingliederungsprobleme in bestehende Kirchentümer des Zielortes führt er daneben auf eine eigenständige Theologie der Migranten zurück, die er mit Heinz Schillings Begriff als "Exulantentheologie" (98) bezeichnet, aber leider nicht näher qualifiziert.
Der durch Alexander Schunka zur Beschreibung des Verhaltens von Kryptokatholiken in Sachsen vor der Konversion Augusts des Starken (1697) eingebrachte, aus der Ethnologie [1] entlehnte Begriff der (konfessionellen) Liminalität bestärkt eine etatische Sicht der Konfessionalisierung. Schunka wendet ihn weniger auf Glaubensflüchtlinge als auf das Alltagsleben nicht migrierender Bevölkerungsteile an. Damit fällt sein Aufsatz ein wenig aus dem Rahmen der übrigen Beiträge, bereichert aber den Blick auf die Lebenswelt der Glaubensflüchtlinge um eine weiterführende Perspektive.
Eine durchweg positive und normative religiöse Deutung der Migration führt Martin Rothkegel an der Täufergruppe der Hutterischen Brüder vor, die im 16. Jahrhundert aus wirtschaftlichen Gründen vom böhmischen Adel protegiert wurden. Rothkegel zeigt, wie der Fortbestand dieser Gruppe von einem stetigen Zuwachs an Mitgliedern und Kapital abhing, so dass sie auf umfangreiche missionarische Tätigkeiten angewiesen waren. Offen bleibt hier die Frage nach dem Zusammenhang von religiös motivierter Mobilität, deren theologischer Deutung und wirtschaftlichen Motiven.
Der Beitrag von Raymond Dittrich bietet eine Bestandsaufnahme zu Typologie und Gestalt von Liedgut im Kontext der Salzburger Emigration von 1732. Das faszinierende Material regt zu weitergehenden Fragen an: So wäre eine Funktionsanalyse der Liedtexte im Migrations- und Integrationsprozess der Glaubensflüchtlinge wünschenswert gewesen, wie sie für den Bereich der Katechismus- und Bekenntnislieder anklingt. Es stellt sich die Frage, was die Texte der Lieder zur zeitgenössischen Identitätsbildung beitrugen.
Joachim Bahlcke nimmt soziale und religiöse Integrationserfahrungen einer Gruppe von Zillertaler Protestanten, die sich zu Anfang des 19. Jahrhunderts im preußischen Teil Schlesiens ansiedeln ließen, im Spannungsfeld zwischen Preußischer Union (1817) und Formierung der schlesischen Erweckungsbewegung in den Blick.
Wulf Wäntig zeichnet ein facettenreiches Bild der Verquickung von (Mikro-)Mobilität und kirchlicher Praxis im böhmisch-sächsisch-oberlausitzischen Grenzraum des 17. Jahrhunderts. Er macht deutlich, wie stabil sich der durch die Alltagskultur seiner Bewohner konstituierte Handlungsraum der Grenzgesellschaft gegenüber Einflüssen behaupten konnte, die als extrinsisch wahrgenommen wurden.
Unter dem Stichwort "Konflikterfahrung" (223) betrachtet Ulrich Niggemann die Konstituierung französischer Réfugiés-Gemeinden im Herzogtum Magdeburg am Ende des 17. Jahrhunderts. Er führt vor allem wirtschaftliche Gründe für Streitigkeiten an, die durch ihre gemeindeinterne Austragung bedeutsam für den Aufbau eines eigenständigen Kirchenlebens wurden.
Ein wichtiges Verdienst des Bandes besteht darin, die Bedeutung der alltagsgeschichtlichen Perspektive für die Migrationsforschung erwiesen zu haben. Die meisten Beiträge lassen die stabilisierende Kraft der Alltagskultur erkennen, die Migrations- und Anpassungsprozesse prägte, teilweise für beide erst ein Movens lieferte.
Das vielfältige Bild der Migrantengruppen bleibt aber disparat, auch wenn die vorgestellten Einzelstudien bemerkenswerte Gemeinsamkeiten zwischen den untersuchten Phänomenen erkennen lassen. Neben den in der Einleitung genannten politischen Faktoren, wären besonders wirtschaftliche Interessen als handlungsentscheidende Motivation von Migranten und Mitgliedern der Aufnahmegesellschaften geeignet, die alltagsgeschichtliche Perspektive des Bandes zu erweitern.
Anmerkung:
[1] Arnold van Gennep: Les rites de passage, 1909. Schunka verweist auf Shail Mayaram: Rethinking Mao Identity. Cultural Faultline, Syncretism, Hybridity or Liminality?, in: Comparative Studies of South Asia, Africa, and the Middle East 17/2 (1997), 35-44; sowie Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt am Main/New York 1989 (engl. 1969).
Vera von der Osten-Sacken