Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880-1937. Fünfter Band: 1880-1937. Hrsg. v. Günter Riederer und Ulrich Ott (= Veröffentlichungen der Deutschen Schillergesellschaft; Bd. 50.5), Stuttgart: Klett-Cotta 2008, 820 S., ISBN 978-3-7681-9815-8, EUR 63,00
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Die am Deutschen Literaturarchiv unternommene vollständige Edition der Tagebücher des Essayisten, Mäzens und Weltbürgers Harry Graf von Kessler (1868-1937) schreitet voran. Der vorliegende Band behandelt Kesslers Dienstzeit als Reserveoffizier im Ersten Weltkrieg vom Kriegsbeginn im August 1914 bis Anfang September 1916. Die zweite Kriegshälfte, die Kessler als Kulturpropagandist in Bern und als Diplomat in Warschau zubrachte, ist in dem 2006 erschienenen sechsten Band bereits dargestellt worden. [1] Die umgekehrte Reihenfolge der Edition machte es dem Leser nicht immer ganz einfach, denn manche der Einlassungen und Charakterisierungen des Diaristen ließen sich nur aus der Kenntnis der vorangegangenen Ereignisse von 1914-16 erschließen. Mit dem jetzt vorliegenden fünften Band liegt nun also Kesslers komplettes Kriegstagebuch vor. Die Edition ist sorgfältig, aber knapp gehalten; der 820 Seiten starke Band enthält ein Namensregister sowie drei Karten.
Mit der Mobilmachung rückte Graf Kessler als Rittmeister der Reserve in das 3. Garde-Ulanen-Regiment ein. Er führte zunächst eine Munitionskolonne nach Belgien. Schon im September 1914 wurde seine Einheit im Rahmen des Garde-Reservekorps nach Ostpreußen verlegt. Noch im selben Monat rochierte der Verband nach Schlesien, um von dort im Herbst 1914 am Angriff auf das südliche Russisch-Polen teilzunehmen. Anfang des Jahres 1915 finden wir Kessler, mittlerweile als Ordonanzoffizier im XXIV. Reservekorps, in improvisierten und entscheidungslosen Winterkämpfen in den Karpaten, bevor die deutschen und österreichisch-ungarischen Truppen im Frühjahr 1915 eine erfolgreiche Offensive nach Galizien einleiteten. Nach diesem Intermezzo im Bewegungskrieg ging auch die Front in Russland in den Stellungskrieg über. Auch wenn die Industrialisierung des Krieges im Osten mit der zeitgleichen Entwicklung in Frankreich nicht vergleichbar ist, so waren die Kämpfe dort nicht minder anstrengend und blutig. Namentlich die Darstellung der Kämpfe am Styr im Herbst 1915 wurde wenigstens in den literarischen Quellen zum Weltkrieg bislang so nicht beschrieben. Im Frühjahr 1916 verlegte das Korps nach Frankreich, wo der Rittmeister noch einen kurzen Eindruck der Kämpfe um Verdun aufnahm, bevor er ab Mitte Mai nach Berlin abreiste und dort seine Versetzung in den diplomatischen Dienst vorbereitete.
Kesslers Biografie stellt unsere Erwartungen gleich in zweierlei Hinsicht in Frage: Erstens stand sein verhältnismäßig niedriger militärischer Rang im deutlichen Widerspruch zu den gesellschaftlichen Sphären, in denen sich der Graf im Zivilleben bewegte. Führer einer Munitionskolonne - hier springt natürlich die biografische Analogie zu dem Maler Franz Marc ins Auge - stellte zweifelsohne eine verdienstvolle Verwendung in der preußischen Armee dar. Einen adligen Rittmeister der Garde-Ulanen hätte man gleichwohl in einer heroischeren, vielleicht kavalleristischen Verwendung gewähnt. Die Versetzung in den Stab des XXIV. Reservekorps stellte vor diesem Hintergrund geradezu eine System stabilisierende Notwendigkeit dar. Als Ordonanzoffizier arbeitete Kessler von nun ab in örtlicher Nähe zur Schaumweinversorgung und zu interessanten Gesprächspartnern. Aufmerksam beobachtete er Land und Leute und suchte mitunter gezielt Einblicke in die Zone des Todes und der Zerstörung.
Die zweite in Frage gestellte Erwartung ist die in eine a priori pazifistische Grundorientierung einer Persönlichkeit vom Schlage Kesslers. Tatsächlich ist er von der Sinnhaftigkeit des Krieges durchaus überzeugt, wobei es sich bei ihm nicht um ein quasireligiöses "Augusterlebnis" oder um bellizistisches Draufgängertum handelt. Der Krieg ist für ihn ohnehin nur Teil einer größeren, kulturellen Auseinandersetzung. Dies wird deutlich, wenn er im April 1915 davon spricht, dass "Frankreichs geistige Waffen" für Deutschland viel gefährlicher seien als seine militärischen: "Das Furchtbare an diesem Kriege ist, dass er durch den Sieg auf dem Schlachtfelde nicht beendet, ja nicht entschieden wird. Wir müssen unsere Feinde, Frankreich, England, Russland, auch geistig niederringen, unsere Kultur über die ihrige heraus erheben [...]." (271)
Die verhältnismäßig seltene Kombination aus militärischer Vorbildung und künstlerischer Beobachtungsgabe macht den Zeitzeugen zu einer wertvollen Quelle für die Militärgeschichte. So wurde Kessler im Sommer 1914 interessanterweise nacheinander Zeuge sowohl der mit dem deutschen Einmarsch in Belgien verbundenen Übergriffe und Kriegsverbrechen als auch der Folgen der in der deutschen Propaganda als "Russengräuel" apostrophierten Ereignisse in Ostpreußen (96f., 115f.). Lesenswert sind auch die Teile, in denen er Alltag und Arbeit eines Stabes der mittleren Führungsebene beschreibt. Dass viele deutsche Offiziere von den militärischen Fähigkeiten der k. u. k. Bundesgenossen keine hohe Meinung hatten, ist ein Topos in deren Egodokumenten. Kessler schildert die Verhältnisse aus eigener Anschauung, mitunter voller Entrüstung und daher sehr lesenswert: "[Bethusy] sagt, das Unglück der Österreicher seien der übertriebene Fleiß und die übertriebene Don Quixoterie. Sie äffen den preußischen Generalstab äußerlich bis zum Grotesken nach, so zeichne ein österr. Generalstabs Offizier auf dem Schlachtfeld noch um 4 Uhr eine Skizze der Lage um 2, die schon längst überholt sei, oder man verliere die kostbarste Zeit mit dem Umstilisieren von Meldungen. Diese Pedanterie hemme und verlangsame alle Entschlüsse. Der österr. Offizier opfere sein Leben ganz unnötig, nur um seinen Schneid zu zeigen." (152) Das Lachen bleibt dem Leser allerdings im Halse stecken, wenn sich Kessler einmal nicht gerade auf Zwischenstation in Budapest Kunstwerke aus dem Depot der Gemäldegalerie zeigen lässt oder in Berlin junge Maisspitzen und Kaviar goutiert (241, 245), sondern wenn er die Kämpfe an der Ostfront schildert: So beobachtet er in Polen alte Soldaten des Landwehrkorps schwerfällig "wie Ackergäule in den Tod" gehen (175). Seine Eintragungen zu den Wald- und Sumpfkämpfen in Wolhynien eröffnen den Blick auf die brutale Realität des Krieges (315). Ende 1915 beschreibt Kessler die Genese eines neuen Typus von jungen Frontoffizieren, wobei diese Beobachtung, stärker als bei Ernst Jünger, eine deutlich homoerotische Konnotation aufweist (498, 504-506).
Land und Leute im ungarischen Galizien, in Russisch-Polen und Wolhynien bilden einen bedeutenden Teil der Beschreibung. Die Einlassungen zur jüdischen Bevölkerungsgruppe in Polen sind von einer Häufigkeit und Schärfe, die die Herausgeber in der Einleitung in arge Bedrängnis bringt. So schreibt Kessler kurz nach dem Einmarsch in Záwiercie: "Die polnische u. die jüdische Bevölkerung vegetieren hier in einem gemeinsamen Schmutz; sonst sind sie einander im Innersten fremd. Aber der Schmutz überkrustet sie mit einer gemeinschaftlichen Nationalfarbe, unter deren Deckmantel der Jude den Polen ausnimmt." (117). Seine Polenwahrnehmung ist weit komplexer. Der gelebte Katholizismus, Piłsudskis Legionäre und der gegenüber der Russifizierung immune polnische Adel finden seine Hochachtung, wie er überhaupt den polnischen Nationalgedanken als einen wichtigen Faktor bei allen Nachkriegsüberlegungen in Rechnung stellt. Letztere betreibt er im großen Stil und kommuniziert diese auch in Briefen nach Berlin. Kesslers Erwartungen an die Nachkriegsordnung ist ein von Russland wie von Österreich unabhängiges Nationalpolen, das - durch deutsch-polnischen Bevölkerungsaustausch und Belassung einer beschränkten Selbstverwaltung saturiert - unter deutscher Oberhoheit existiert. Zusammen mit dem Ausbau einer Wehrbesiedlung des baltischen Raumes gegen Russland entstünde so eine imperiale frontier im Osten: "Die baltischen Barone verschwinden in diesem grossen Bilde. Sie werden sich den neuen Verhältnissen anpassen oder wie die nordamerikanischen Häuptlinge untergehen." (416).
Seine militärische Verwendung bringt es mit sich, dass die künstlerische Seite Kesslers weniger stark zur Geltung kommt als dies in dem Tagebuchband zu 1916-1918 der Fall ist. Gleichwohl bleibt Kessler selbst in den wolhynischen Sümpfen der Mann, der alle kennt und den alle kennen. So kritisiert Max Reinhardt im Februar 1915 die Kriegsgegnerschaft von Persönlichkeiten wie Richard Strauss und Carl Sternheim als Ausdruck gekränkten Selbstwertgefühls (244: "Sie können es nicht ertragen, dass ihre Produktion, ihre Werke und Premieren, nicht mehr im Mittelpunkt der Welt seien, um den sich Alles drehe"). Den schwedischen Schriftsteller Sven Hedin führt Kessler bei einem Frontbesuch (285) und den suizidgefährdeten, morphinsüchtigen Schriftstellerkollegen Johannes R. Becher rettet er mit einem Stipendium (529). Seine internationalen Verbindungen ins nunmehr feindliche Ausland sind ihm allerdings weitgehend verloren gegangen. Auf den intellektuellen Austausch innerhalb Deutschlands und Österreichs beschränkt, erscheint dieser Kessler mitunter fast geistig amputiert und daran leidend.
Wer an der militärischen Geschichte des Weltkrieges, namentlich im mittelosteuropäischen Raum Interesse hat, wird in Graf Kessler einen aufmerksamen Beobachter, einen pointierten Kommentator und einen intellektuellen Soldaten entdecken. Wer nur auf der Suche nach dem Kessler der Salons und Separees ist, für den werden die sehr umfangreichen Schilderungen militärischen Inhalts wohl zu einer anstrengenden Leseerfahrung. Beide Tagebuchbände zusammen erschließen eine faszinierende europäische Persönlichkeit, die sich zwischen allen Welten bewegt.
Anmerkung:
[1] Siehe meine Besprechung: Harry Graf Kessler. Das Tagebuch. Sechster Band: 1916-1918. Hg. von Günter Riederer unter Mitarbeit von Christoph Hilse, Stuttgart: Klett-Cotta 2006, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 11, URL: http://www.sehepunkte.de/2006/11/9984.html (27.07.2009)
Markus Pöhlmann