Peter Stachel / Philipp Ther (Hgg.): Wie europäisch ist die Oper? Die Geschichte des Musiktheaters als Zugang zu einer kulturellen Topographie Europas (= Musikkulturen europäischer Metropolen im 19. und 20. Jahrhundert; Bd. 3), München: Oldenbourg 2009, 226 S., ISBN 978-3-486-58800-2, EUR 39,80
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Nur wenige Monate nach Band 2 [1] ist von Mitgliedern des Forschungsprojekts "Oper im Wandel der Gesellschaft. Musikkulturen europäischer Metropolen im 'langen' 19. Jahrhundert" das dritte Buch der projekteigenen Reihe herausgegeben worden. Es basiert auf einer Tagung, die im Jahr 2007 in Zusammenarbeit mit der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien stattfand.
Wieder widmen sich die Autorinnen und Autoren einem aktuellen Feld geschichtswissenschaftlicher Forschung - dieses Mal dem Konzept des Kulturtransfers. Die Untersuchung der "von konkreten Akteuren getragene[n] Aneignung und Adaption von importierten Kulturformen" (7) soll die Frage klären, inwieweit die Oper eine europäische Kunstform war und ist. Strukturelle Elemente des Musiktheaters stehen hier ebenso im Mittelpunkt des Interesses wie die Ebene der Wahrnehmung. Der zeitliche Schwerpunkt des Bandes liegt auf dem 19. Jahrhundert, insgesamt erstrecken sich die Beiträge jedoch von den Anfängen der Oper im 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart, für die sich Peter Stachel mit der EU-Kulturpolitik beschäftigt. Geografisch ist es den Herausgebern besonders wichtig, "auch die östliche Hälfte des Kontinents und mithin das gesamte Europa" (7) einzubeziehen, was sich in den Beiträgen auch sehr stark niederschlägt.
Wegweisend ist gleich zu Beginn des Buches der Beitrag von Michael Walter, der sich der Oper als europäischer Gattung im 17. und 18. Jahrhundert widmet. Walter verdeutlicht hier, wie vor allem mit der Ausbreitung der italienischen Oper ein "europäisches Bewusstsein" (17) der Höfe entstand, wie hierdurch ein gemeinsamer kultureller Raum geschaffen wurde. Nicht allein die Aufführung von Opern - unter Einsatz bestimmter musikalischer Mittel -, sondern auch der Diskurs über sie transportierte jenes europäische Bewusstsein. Besonders interessant wird es jedoch gerade dann, wenn Walter beschreibt, wie sich in der Oper "musikalische Metaphern für das Nicht-Europäische" (23) herausbildeten - eine Entwicklung, die in den "Türkenopern" der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihren Höhepunkt fand.
Da Walter bereits die Spannung andeutet, die für das 19. Jahrhundert aus der Frage nach der Europäisierung in Hinblick auf die Herausbildung nationaler Opernstile entsteht, vermutet man zunächst, dass sich die folgenden Beiträge aufgrund ihrer zeitlichen Schwerpunktsetzung auf diese Problematik konzentrieren. Dezidiert tut dies allerdings nur Philipp Ther mit seinem Beitrag unter der Leitfrage "Wie national war die Oper? ", der als ein Höhepunkt des Bandes zu bezeichnen ist. Denn Ther erhebt mit seinen Ausführungen zu Recht noch weit größere Ansprüche, als jene Frage zu beantworten: Er will durch den Blick auf die Oper die Konstruktion und den Austausch nationaler Kulturen verständlich machen. Dazu erläutert er überzeugend das Paradoxon, wie die Nationalisierung der Oper zugleich einen "Prozess der Differenzierung" darstellen und als europaweites Phänomen "ein Element der Konvergenz" (107) sein konnte.
Gegenüber diesen differenzierten Ausführungen scheinen sich andere Beiträge etwas zu sehr auf den bloßen Nachweis der Tatsache zu konzentrieren, dass die Europäisierung der Oper im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer mehr zunahm. Nichtsdestotrotz warten sie mit spannenden Erkenntnissen zu verschiedenen Detailaspekten, wie dem Hörverhalten (Sven Oliver Müller), dem Bühnenbild (Gesa von Nieden) oder der Inszenierungspraxis (Arne Langer), auf. In einer weiteren Gruppe von Beiträgen schließlich werden verschiedene "konkrete Fallbeispiele eines Ansatzes zur Erstellung einer kulturellen Topographie Europas" (8) präsentiert. Sie beschäftigen sich mit der Rezeption der Verdi- und der Wagner-Oper in Europa, insbesondere in Ungarn und Kroatien, oder fragen nach Einflüssen der griechischen Antike und des Osmanischen Reiches auf die europäische Opernkultur.
Gerade für diese letzte Gruppe von Aufsätzen vermisst man jedoch die gemeinsamen Schlussfolgerungen. Diese wie überhaupt die Bündelung der so verschiedenen Ergebnisse bleiben wie bei so manchem Sammelband allein dem Leser vorbehalten. So hat man am Ende zweifelsohne viel gelernt über die Oper und ihre Entwicklung im Verlauf des langen 19. Jahrhunderts. Besonders, wie europäisch die Oper war und welche Vielzahl an Kulturtransfers in diesem Bereich beobachtet werden kann, zeigen die verschiedenen Beiträge sehr anschaulich auf. Es bleiben jedoch auch zentrale Fragen offen: Warum eignete sich die Oper so gut zum europäischen Phänomen? Wie lässt sich die Tendenz der Europäisierung bei der Oper zu anderen kulturellen Phänomenen in Beziehung setzen? Auch das Thema Europabewusstsein durch das Medium Musiktheater kommt insgesamt sehr kurz. Einige dieser Fragen konnten sicherlich auf der Abschlusstagung des Forschungsprojektes, die mittlerweile stattgefunden hat, beantwortet werden - es ist zu hoffen, dass auch diese Ergebnisse bald der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Anmerkung:
[1] Bühnen der Politik. Die Oper in europäischen Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Sven Oliver Müller / Jutta Toelle, Wien 2008 (= Die Gesellschaft der Oper. Musikkultur europäischer Metropolen im 19. und 20. Jahrhundert; Bd. 2), vgl. http://sehepunkte.de/2009/03/14093.html. Die Reihe wurde eröffnet durch den Band von Philipp Ther: In der Mitte der Gesellschaft. Operntheater in Zentraleuropa 1815-1914, München 2006.
Eva Maria Werner