Joachim Penzel: Der Betrachter ist im Text. Konversations- und Lesekultur in deutschen Gemäldegalerien zwischen 1700 und 1914 (= Politica et Ars. Interdisziplinäre Studien zur politischen Ideen- und Kulturgeschichte; Bd. 13), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2007, 499 S., 73 Abb., ISBN 978-3-8258-0311-7, EUR 39,90
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Seitdem sich in den 70er-Jahren die kritische Kunstwissenschaft anschickte, die "Institution Kunst" (Peter Bürger) und ihre Genese zu erforschen, sind zahlreiche Untersuchungen über die Geschichte des Sammlungswesens und der Institutionen der Kunstpräsentation und -vermittlung entstanden. In Einzelstudien und Überblickswerken hat man die studioli, Kunst- und Wunderkammern, Galerien, Sammlerkabinette und Museen behandelt, ihre architekturgeschichtlichen Aspekte, die Auswahlkriterien, Ordnung und Arrangements der in ihnen präsentierten Objekte und den historischen Kunstbegriff, der sich in ihnen manifestierte. Obwohl es sich bei solchen Sammlungsarchitekturen um für die Kunstrezeption gestaltete und diese gestaltende Räume handelt, blieb dabei eine Größe in der Regel unterbelichtet, wenn nicht gänzlich unbeachtet: das Rezeptionsverhalten der Betrachter. Wir wissen heute, dass dieses im Laufe der Geschichte gravierenden Veränderungen unterworfen war, dass, nachdem im Mittelalter Formen einer stummen, "auratischen Rezeption" (Walter Benjamin) vorgeherrscht hatten, in der Frühen Neuzeit hingegen ein geselliger, oft spielerischer Umgang mit der Kunst kultiviert wurde, bei dem die Betrachter ihre ars conversationis unter Beweis stellten, und im späten 18. Jahrhundert das moderne Leitbild einer schweigsamen, verinnerlichten Kunstrezeption aufkam. Dennoch ist die Geschichte des kommunikativen Gebrauchs von Kunstwerken, die auch insofern ein lohnendes Unterfangen wäre, da sich in ihr der Prozess der Ausdifferenzierung der Kunst fokussieren ließe, nach wie vor ein Desiderat. Das historische Publikum, so formuliert es Joachim Penzel in seiner 2007 erschienenen Dissertation "Der Betrachter ist im Text. Konversations- und Lesekultur zwischen 1700 und 1914", ist "aufgrund der bruchstückhaften Quellenlage als Spekulationsobjekt der Kunstgeschichtsschreibung, mithin als institutionsgeschichtliches Phantom zu charakterisieren." (17)
Dem versucht der Autor Abhilfe zu schaffen, indem er das Rezeptionsverhalten des Publikums als ein sowohl durch die Architektur, Ordnung und Präsentation der Sammlung als auch durch kunstvermittelnde Texte vorgeprägtes zu rekonstruieren sucht. Penzel definiert die Gemäldegalerien als "Spezialfälle eines intermedialen Verständigungsraums" und "durch Sprache definierte und [...] hauptsächlich sprachlich vermittelte Bilderräume" (16), in denen die Artefakte in einen spezifischen verbalen Kontext eingebettet sind. Diesem lassen sich nicht nur die Gespräche vor den Werken, Führungen, Bild- und Raumbeschriftungen zurechnen, sondern auch die Kataloge und Galerieführer sowie die in diese eingegangenen ästhetischen und kunsttheoretischen Diskurse der Zeit (21 f.). Denn im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde, wie der Autor überzeugend nachweist, die begleitende Lektüre zu einem festen Bestandteil des Galeriebesuchs.
Nach der Einleitung behandelt der Verfasser in drei großen Kapiteln die Gemäldegalerien in Berlin, Dresden, München und Wien in den Zeiten der fürstlichen Sammlungen des 18. Jahrhunderts (AKADEMISCHE STUDIENGALERIE UND öFFENTLICHE SCHULE DES GESCHMACKS), der Museen des 19. Jahrhunderts (BILDUNGSTEMPEL UND SEHENSWüRDIGKEIT) und der aus den Reformen des späten 19. Jahrhunderts hervorgegangenen Volksmuseen (DAS VOLKSMUSEUM ALS BILDUNGSEINRICHTUNG). Innerhalb dieser Kapitel sind jeweils zunächst die Sammlungsordnung und Präsentation der Gemälde, sodann das Publikum und sein Rezeptions-, respektive Konversations- und Leseverhalten und schließlich die Vermittlungsliteratur dargestellt, die amtlichen und für den freien Buchmarkt entstandenen Galeriepublikationen und Sammlungsführer. Auf diese Weise wird dem Leser ein differenziertes Bild der historischen Gegebenheiten vermittelt. Man erfährt, dass die fürstlichen Gemäldesammlungen, die in der Regel in Zusammenhang mit der Gründung von Kunstakademien in gesonderte Gebäude überführt und im späten 18. Jahrhundert für das allgemeine Publikum geöffnet wurden, vor allem eine Domäne der Kenner und Künstler waren, denen man gesonderte Öffnungszeiten reservierte. Das nur spärlich einkehrende Laienpublikum wurde von kundigen Galeriedienern begleitet, die ihm Rede und Antwort standen, und verständigte sich in "informelle[n] Diskussionsformate[n]" (91). War die Konversation der Besucher hier noch üblich, so kam es in den Musentempeln des 19. Jahrhunderts zu einem Verstummen des Publikums. Mit ihren vielfach der Sakralarchitektur entlehnten Würdeformen leisteten ehrfurchtgebietende Neubauten wie Schinkels "Altes Museum" dem andächtigen Schweigen der Besucher Vorschub. Wie die kopierenden Künstler wurden nun auch die Galeriediener angehalten, sich still zu verhalten, und damit zu stummen Saalwächtern degradiert (245 f.). Laut vor den Kunstwerken zu sprechen, war ein Privileg der Galeriedirektoren und -assistenten, die seit den 1830er-Jahren zu festgelegten Zeiten das monologische Ritual amtlicher Führungen vollzogen (249). Interessanterweise kam diese Praxis nach regen Anfängen in der Jahrhundertmitte zum Erliegen, als zugleich das Angebot der Vermittlungsliteratur gewaltig anstieg und sich eine "Medialisierung der Kunstvermittlung" vollzog (251 ff.): Immer mehr Besucher streiften fortan mit dem "Führer" oder "Begleiter" in der Hand durch die Sammlungen.
Aufgrund ihrer Vermittlungsdefizite hat man die Museen des 19. Jahrhunderts abfällig als "Gelehrtenmuseen" bezeichnet, die zumal mit dem Andrang eines Massenpublikums seit den 1880er-Jahren grundlegender Reformen bedurften. Diese verdankten sich vor allem Alfred Lichtwark, dem Direktor der Hamburger Kunsthalle, der 1886 in seiner Antrittsrede eine "breitenwirksame Nutzbarmachung" des Museums und einen "vielseitig anregenden Unterrichtsorganismus" forderte (350). Er richtete Übungen für Schulklassen und Lehrer sowie "Damenprogramme" ein, in deren Rahmen es auch wieder zu einer dialogischen Verständigung unter den Teilnehmern kam. Führungen und Vorträge ergänzten dieses Angebot. In der Folgezeit entstand eine alle gesellschaftlichen Schichten umfassende Museumspädagogik, die auch zu der sich weiter diversifizierenden Fach- und Vermittlungsliteratur ihren Teil beitrug.
Alles das und vieles mehr hat der Verfasser auf 425 Seiten Text behandelt, die durch einen umfangreichen Anhang mit statistischen Daten ergänzt werden. Penzels schlüssig konzipierte, gut lesbare Studie, die er selbst als "Fußwanderung in engem Kontakt zu den überlieferten Quellen" bezeichnet (31), weist eine enorme Informationsfülle auf, darunter vieles, was der Autor in Archiven und entlegener Literatur ermittelt hat. Gleichwohl gibt es auch Kritisches anzumerken. So vermisst man in den Ausführungen über das Publikumsverhalten im späten 18. Jahrhundert Hinweise auf die grundlegende Problematisierung des Sprechens über Kunst in dieser Zeit, in der die höfische Konversationsrhetorik, die bis dahin die Kunstrezeption bestimmt hatte, als oberflächlich und unaufrichtig diskreditiert wurde, Lessing kategorisch die Differenz von Wort und Bild betonte und damit den alten Leitsatz des "ut pictura poesis" in Frage stellte, und Winckelmann im Bewusstsein der Unzulänglichkeit der Versprachlichung Bildender Kunst seine subjektiv-einfühlsamen Werkbeschreibungen verfasste. Diese gravierenden Veränderungen kommen bei Penzel kaum zur Sprache, der, auf die museumsgeschichtlichen Quellen fixiert, denn auch Walter Grasskamps Diagnose eines "Verfall(s) der Konversationsgepflogenheiten" in dieser Zeit als "kulturpessimistisch" abtut (91) und über Chodowieckis Radierungen zum Thema "Kunstkenntnis" aus dem Bilder-Knigge "Natur und Affektation" - eine Kritik an den überkommenen geselligen Rezeptionsformen, denen hier das neue Leitbild sittsam schweigender Betrachter kontrastiert - mit der Bemerkung hinweg geht, diese "Monatsbildchen" hätten mit der historischen Wirklichkeit wenig gemein und ließen keine Rückschlüsse auf "reale Rezeptionsformen" zu (90, Anm. 189). [1]
Zu dem gewählten Zeitraum und der Gliederung seines historischen Überblicks erklärt der Autor, er habe mit ihnen eine "in der Institutionsgeschichte der Kunstmuseen seit Beginn des 20. Jahrhunderts etablierte Zeiteinteilung" aufgegriffen (30). Diese geht zurück auf Gustav Pauli, der 1919 in der Schrift "Das Kunstmuseum und das deutsche Volk" die Geschichte des deutschen Kunstmuseums in dieselben Phasen des "Fürsten-", "Gelehrten-" und "Volksmuseums" unterteilt hat (196). Penzel hat also ein altes Narrativ und die Perspektive eines Autors übernommen, dem sich die Museen der 1910er-Jahre als eine erfolgreiche Institution darstellten, die unlängst eine schwere Krise überwunden hatte. Manche Zeitgenossen Paulis haben dies freilich ganz anders beurteilt - man denke nur an die radikale Museumskritik der Futuristen und Dadaisten. 1909 hat bekanntlich Marinetti die Museen als "öffentliche Schlafsäle" und "Friedhöfe der Kunstwerke" bezeichnet und zu ihrer Zerstörung aufgerufen - und er war nicht der letzte Kritiker dieser Institution. Umso mehr vermisst man am Ende der Arbeit, deren finaler Abschnitt "Die Entstehung des modernen Sammlungsführers" als "Abschluss einer zweihundertjährigen Entwicklung" feiert (423-429), eine Zusammenfassung mit einem historischen Ausblick. Denn vieles spricht dafür, dass die schweigsame Rezeption und die Asymmetrie der Kommunikation im Museum, die in jüngerer Zeit mit den Audio-Guides eine neue Qualität bekommen hat, nicht nur ein Phänomen der "Gelehrten-Museen" des 19. Jahrhunderts waren, sondern konstitutiv für das Zeitalter der Institutionalisierung der Kunst. Gleichwohl ist Penzels Dissertation eine profunde museums- und publikumsgeschichtliche Untersuchung, von der anzunehmen ist, dass sie für weitere Studien in diesem Bereich zu einem wichtigen Referenzwerk wird.
Anmerkung:
[1] Siehe hierzu auch Wolfgang Kemp: Die Kunst des Schweigens, in: Laokoon und kein Ende. Der Wettstreit der Künste, hg. von Thomas Koebner, München 1989, 96-119; Wolfgang Ullrich: Vor dem Fürsten. Über die Moralisierung von Kunstrezeption, in: Neue Rundschau 110 (1999), Heft 1, 131-145; Wolfgang Brassat: Schweigen ist Gold? Die moderne Ästhetik der Stille im Blickfeld einer Geschichte des kommunikativen Gebrauchs von Kunstwerken, in: MARTa schweigt. Garde le silence, le silence te gardera. Die Kunst der Stille von Duchamp bis heute. Ausst.-Kat. Herford 2007, 14-57.
Wolfgang Brassat