Susanne Müller-Bechtel: Die Zeichnung als Forschungsinstrument. Giovanni Battista Cavalcaselle (1819-1897) und seine Zeichnungen zur Wandmalerei in Italien vor 1550, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2009, 448 S., ISBN 978-3-422-06831-5, EUR 68,00
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Susanne Müller-Bechtels Dissertation über die Zeichnungen des italienischen Kenners und Denkmalschützers Giovanni Battista Cavalcaselle (1819-97) ist einem, jedenfalls im deutschsprachigen Rahmen, wenig bekannten Studienobjekt gewidmet. Das liegt wohl in erster Linie an der konsolidierten anikonischen Tradition der weitgehend narrativ geprägten deutschsprachigen Kunstwissenschaft im 19. Jahrhundert. Als zeichnender Kenner mit soliden künstlerischen Wurzeln kann sich Cavalcaselle auf eine jahrhundertealte Tradition des Abbildens von Kunstwerken berufen und aus deren Darstellungskonventionen Kapital schlagen. Seine mit Bleistift oder Tinte ausgeführten Umrisszeichnungen stehen formalästhetisch in der Tradition der Umrissgrafik. Das synoptische Gegenüberstellen auf ein und demselben Blatt von Ansichten, Details und in einigen Fällen auch Grundrissen entlehnt er hingegen dem in Séroux d'Agincourts praktizierten Prinzip einer visuellen Detailanalyse des Kunstwerks. Andere zeichnende Kenner und Künstler, die, wie im Falle Ernst Försters und Johann Anton Ramboux', seit den frühen Dreißigerjahren systematische Kampagnen zur Aufnahme von italienischer Kunst durchführen, sind ihm zweifellos geläufig. Doch im Gegensatz zu den Letztgenannten hat Cavalcaselles Bildarchiv keinerlei kunstpädagogische Bestimmung. Die Neuheit an seinem Verfahren der zeichnerischen Aufnahme liegt nicht etwa in der Darstellungsweise, sondern vor allem in der Nutzung dieser Materialien und das betont die Autorin an mehreren Stellen ihrer Arbeit. Es handelt sich nicht um Vorzeichnungen zu Stichwerken oder Illustrationen, sondern um persönliche Notizen, die allerdings nicht nur für den Eigengebrauch bestimmt sind, sondern seinem Partner Joseph Archer Crowe als Basis zur schriftlichen Ausarbeitung der von beiden Autoren publizierten Arbeiten dienen.
Cavalcaselle und der britische Schriftsteller begegnen sich während einer Europareise im Jahr 1847 in einer Postkutsche auf dem Weg von Hamm nach Berlin. Nach dem Scheitern der republikanischen Verfassungen und der anti-österreichischen Aufstände im Revolutionsjahr 1848 verlässt der Italiener gemeinsam mit anderen Patrioten sein Heimatland. Von Paris, wo er Crowe im Sommer 1849 trifft, geht er nach London ins Exil. Dort kann er in der stetig anwachsenden italienischen Gemeinde, aber auch im arrivierten Milieu der Sammler, Händler und Konservatoren um Charles Lock Eastlake Fuß fassen und in Kontakt zu anderen Kennern wie Waagen und Passavant treten. In den Jahren seines Londoner Exils beginnt schließlich die erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Verleger Murray, für den er gemeinsam mit seinem wortgewandten Partner ein Buch über die frühniederländische Malerei herausgibt (1856). Als die österreichische Regierung Lombardo-Venetiens schließlich eine Generalamnestie zugunsten der ehemaligen "Aufrührer" verabschiedet, kann Cavalcaselle wieder in sein Heimatland reisen; diesmal im Auftrag Murrays, für den er zahlreiche Provinzen der Halbinsel durchforstet, um Materialien für eine kritische Edition der Viten Vasaris zu sammeln. Im Rahmen seiner vor Ort gemachten zahlreichen Entdeckungen zeigt sich allerdings, dass Vasaris biografische Struktur einer geografischen Feinanalyse nicht mehr gerecht werden kann. Es kommt schließlich zum Projekt der (an Luigi Lanzis Storia pittorica dell'Italia inspirierten) "New History of Painting in Italy from the second to the sixteenth century" (1864-66) und zu weiteren, ebenso erfolgreichen Arbeiten über die Malerei im Norden Italiens sowie zu den Monografien über Raffael und Tizian. [1]
Müller-Bechtels Arbeit ist folgendermaßen gegliedert: Nach der Einführung und einer biografischen Skizze, in der sie Cavalcaselles Rolle beim Aufbau des italienischen Denkmalschutzsystems schildert, beschreibt sie ausführlich den in London und Venedig liegenden, nach wie vor unpublizierten Nachlass des Kunsthistorikers. In dem daran anschließenden Kapitel über Cavalcaselles Sicht auf Wandmalerei und deren zeichnerische Wiedergabe liegt zweifellos der Kern der Arbeit. Müller-Bechtel charakterisiert mit großer Detailkenntnis die darstellerischen Prioritäten, die Stärken und vermeintlichen Schwächen von Cavalcaselles Sichtweise. Sie spricht von der Figur als eigentlichem Sinnträger der Zeichnungen, vom "additivem Verfahren", mit dem Cavalcaselle die großflächigen Wandmalereien visuell abtastet, bemerkt dabei, dass seine Zeichnungen aufgrund dieser Konzentration auf das Figurengefüge zuweilen die realen Proportionen der Malereien verfälscht wiedergeben. Hier zeigt sich in der Tat die Sichtweise eines gelernten Figuren- oder Historienmalers, dem in letzter Instanz das Interesse am Bildraum und -kontext, vor allem aber am Ornament zu mangeln scheint. Überhaupt erinnern die von der Autorin beobachteten Prioritäten in der zeichnerischen Wiedergabe - Köpfe, Hände, Gewand und Hintergrundarchitektur - und dazu noch die Marginalisierung der Landschaft an Künstlerlektüren wie Pietro Selvaticos Handbuch "Sull'educazione del pittore storico odierno italiano" (1842), in dem er neben den Grundzügen einer "puristischen" Ästhetik diverse praktische Anregungen, insbesondere den Rat zur Reisetätigkeit und zeichnerischen Dokumentation von Kunstdenkmälern findet. Cavalcaselle steht also anderen, ebenso kunsthistorisch denkenden puristischen Malern wie Adeodato Malatesta und Carlo Della Porta sehr viel näher als angenommen. Vor allem aber unterscheidet dieses "figürliche" Denken den gelernten Historienmaler von seinem Kollegen und Rivalen Morelli, der im unbewussten Detail, nicht in der Mimik und Gebärdensprache der handelnden Gestalten, die Sinnträger und Identifikationselemente des Individualstils ausmacht.
Ein Schwachpunkt der Arbeit liegt in der Einschränkung des Forschungsgegenstandes auf Zeichnungen nach Wandmalerei, denn im Gegensatz zu der chronologischen Grenze, die geschmacksgeschichtlich motiviert ist und in der Natur der Arbeitsmaterialien liegt, hat Cavalcaselle keinesfalls nur nach Wandmalereien gezeichnet. Wahrscheinlich musste die Autorin aus Gründen der Arbeitsökonomie eine klare Trennlinie ziehen. Deshalb hat sie sich, wie sie selbst betont, auf den ihren persönlichen Interessen und kunsthistorischen Kompetenzen entgegenkommenden Teil des reichhaltigen Nachlasses beschränkt (7). Trotzdem stellt sich die Frage, ob sie mit dieser Entscheidung Cavalcaselles "anschaulichem Denken" wirklich gerecht wird: Gerade im Hinblick auf seine intensive Beschäftigung mit der venezianischen Malerei fragt sich der Leser, mit welchen Mitteln er Licht- und Farbeffekte grafisch übersetzt und in letzter Instanz auch stilkritisch reflektiert. Dass Cavalcaselle nicht auf die in der Heraldik gängige Praxis der konventionellen Schraffuren zurückgreift, sondern Farbtöne ganz einfach verbal annotiert, entspricht ebenso der bereits erwähnten Vorgehensweise von Figurenmalern, die in Kompositionsskizzen und Studien nach anderen Meistern die Farbtöne schriftlich angeben.
Jedenfalls bietet dieser Band neben einem vergleichenden Blick auf zeichnende Kunsthistoriker im 19. Jahrhundert eine angemessene kritische Würdigung der italienischen Kunstwissenschaft, die neben dem mondänen Weltbürger Morelli andere, augenscheinlich minder geniale, aber ebenso begabte Stilkritiker wie Cavalcaselle und Adolfo Venturi vorzuweisen hat.
Anmerkung:
[1] Siehe dazu das von Müller-Bechtel häufig zitierte Standardwerk von Donata Levi: Cavalcaselle. Il pioniere della conservazione dell'arte italiana, Turin 1988.
Alexander Auf der Heyde