Rezension über:

Michael Farrenkopf / Peter Friedemann (Hgg.): Die Grubenkatastrophe von Courrières 1906. Aspekte transnationaler Geschichte (= Schriften des Bergbau-Archivs; Nr. 20), Bochum: Deutsches Bergbau-Museum Bochum 2008, XII + 546 S., ISBN 978-3-937203-39-3, EUR 35,00
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Rezension von:
Patrick Masius
Georg-August-Universität Göttingen
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Patrick Masius: Rezension von: Michael Farrenkopf / Peter Friedemann (Hgg.): Die Grubenkatastrophe von Courrières 1906. Aspekte transnationaler Geschichte, Bochum: Deutsches Bergbau-Museum Bochum 2008, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 1 [15.01.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/01/16762.html


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Michael Farrenkopf / Peter Friedemann (Hgg.): Die Grubenkatastrophe von Courrières 1906

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Anlässlich des 100. Jahrestages der Grubenkatastrophe von Courrières hat das Deutsche Bergbau-Museums Bochum dem Unglück eine Sonderausstellung und ein Symposium gewidmet. Die Resultate wurden in dem vorliegenden, 550 Seiten umfassenden, Band festgehalten. Mit über 1000 Todesopfern gehört die Bergbaukatastrophe von Courrières zu den folgenschwersten Unglücken in der europäischen Bergbaugeschichte. In vier inhaltlichen Blöcken werden "Dimensionen des Risikos", soziale Hintergründe der Bergarbeiterschaft, sowie transnationale Solidarität und Rezeptionen der Katastrophe untersucht. Den grundlegenden deutschsprachigen Arbeiten zu dem Ereignis von Heinz-Otto Sieburg wird in dieser Konzeption prinzipiell beigepflichtet. [1] Sechzehn Autoren, aus den Bereichen Sicherheitstechnik, christliche Sozialethik, Ökonomie, Wirtschaftsgeschichte, Bergbaugeschichte, Neuere Geschichte und Sozialgeschichte, sollen den Ursachen und Folgen der Katastrophe nach gehen. Einige Beiträge stehen aber allenfalls im weiteren Kontext dieses gemeinsamen Themas. Insbesondere im zweiten Themenabschnitt "Bergarbeiterschaft an der Ruhr und im Nord/Pas-de-Calais" sowie in den anschließenden konfessionsgeschichtlichen Artikeln ist ein direkter Zusammenhang mit dem Grubenunglück von Courrières kaum mehr erkennbar. Gemäß der im Untertitel beanspruchten Leitlinie des Buches konzentriert sich die nachfolgende Diskussion auf die transnationalen Aspekte der Katastrophe; und zwar in Bezug auf Risiko, Solidarität und Erinnerung.

Nachdem in den nordfranzösischen Kohlegruben von Courrières am 10. März 1906 durch eine Kohlenstaubexplosion, bisher ungekannten Ausmaßes, unzählige Arbeiter ums Leben gekommen waren, stellte sich internationaler Wissenstransfer als eine entscheidende Größe heraus. Marie-France Conus und Jean-Louis Escuider erläutern, dass Kohlenstaub als Explosionsrisiko im Bergbau durchaus bekannt war. In Frankreich ging man aber davon aus, dass Kohlenstaub ohne sogenannte Schlagwetter [2] keine Gefahr darstelle. "Die Risiken, die von deutschen, belgischen und britischen Sachverständigen übereinstimmend gesehen wurden, fanden unter den französischen Ingenieuren keine Akzeptanz. Tatsächlich offenbarte die Katastrophe von Courriers damit die marginalisierte Stellung der französischen Bergingenieure" (29/30). 1881 hatten staatliche Bergbauingenieure bereits Versuchsgruben in Großbritannien besucht, konnten aber durch die Experimente nicht überzeugt werden, weshalb notwendige Schutzmaßnahmen nicht ergriffen wurden. Erst nach der Katastrophe wurden in Übereinstimmung mit internationaler Sichtweise die Sicherheitsstandards für nicht mit Grubengas belastete Gruben angepasst. Offen brennende Lampen und das Ein-Schacht-System wurden nun für alle Bergwerke untersagt. Uli Barth unterstreicht diese Ergebnisse aus Sicht der Sicherheitstechnik. Demnach gingen die französischen Ingenieure fälschlicherweise davon aus, "dass Kohlenstaub in Abwesenheit des Grubengases keine ernste Gefahr bietet" (38). Daran anknüpfend verfolgt der Autor die Geschichte der Verbesserung der Grubensicherheit, als einer Geschichte, die aus Fehlern lernt.

Die wichtige Rolle der Medien in diesem Lernprozess hebt Helmuth Trischler hervor. In demokratischen Regimen, wo Sicherheit zum öffentlichen Gut wird, werden Katastrophen zum Katalysator für soziale und technologische Innovationen. Courrières war eines der ersten Ereignisse, das in kürzester Zeit eine nahezu weltweite Verbreitung durch die Kommunikationsmedien fand. Die Presse hatte einen Großteil der Deutungsmacht des Unglücks inne, stellt Nicolai Hannig fest. Im Hinblick auf die deutsch-französischen Beziehungen habe nach der unerwarteten Beteiligung deutscher Bergleute aus Herne und Gelsenkirchen an den Rettungsaktionen eine medial aufbereitete Legendenbildung eingesetzt. Als "Helden von Courrières" wurden die Bergleute zur Stärkung nationaler Identität politisch instrumentalisiert. Eine "pompös inszenierte Ordensverleihung" durch Wilhelm II. wurde von den Medien bereitwillig an die Öffentlichkeit weitergegeben. In diesem Zusammenhang wird auch die technische Überlegenheit deutscher Rettungsgerätschaften hervorgehoben. Von Seiten der Arbeiterbewegung wurde versucht die Hilfsmaßnahmen zu einem Ausdruck internationaler (Arbeiter-)Solidarität zu stilisieren. Peter Friedemann analysiert wie eine Arbeiterzeitung in der Rettungsaktion eine Kundgebung sieht, die "nationale Gegensätze und nationalistische Vorurteile" durch "menschliche Solidarität" besiegen kann (138). Die politischen Instrumentalisierungen und medial geförderte Legendenbildung im Hinblick auf die deutsche Rettungsaktion fand in einem Klima statt, das durch den Krieg von 1870/71 und internationale Spannungen geprägt war. In den diesbezüglichen Artikeln fehlt allerdings eine Gegenüberstellung mit den tatsächlichen Geschehnissen, die durch die persönliche Initiative des Dortmunder Bergmeister Engels maßgeblich beeinflusst worden waren. [3] Es wird lediglich knapp auf die Initiative einzelner Personen verwiesen (siehe 136).

In dem Film von Georg Wilhelm Pabst "Kameradschaft" (1931) wurde ein Stück "Legendenbildung proletarischer Solidarität" zum 25. Jahrestag von Courrières fortgesetzt, erklärt Barbara Stambolius (226). Die Legendenbildung nach Courrières konnte die deutsch-französische Feindschaft letztlich aber nicht aus der Welt schaffen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Ereignis im Sinne der Völkerverständigung wieder aufgegriffen. Die 1955 geschlossene Städtepartnerschaft zwischen Herne und Hénin-Liétard, die bis heute Bestand hat, wird als Zeugnis dieser Wandlung von Courrières zum deutsch-französischen Erinnerungsort gewertet. Martin Hildebrandt beschreibt in seinem Artikel die engen Beziehungen zwischen dem Ort, aus dem die deutsche Rettungsmannschaft kam, und dem Ort, an dem 1906 das Unglück statt fand, im Einzelnen. Von allgemeinem Interesse ist in dem Zusammenhang die von Barbara Stambolis festgestellte Bedeutungsoffenheit von Symbolen, die im Lichte anderer Zeiten ein neues Gesicht erhalten können. Zwar konnte Courrières zwei Kriege zwischen Deutschland und Frankreich nicht verhindern, es konnte aber dazu beitragen, dass man sich anschließend wieder leichter die Hand geben konnte: zumindest in Herne und Hénin-Liétard.

Im Anschluss an den inhaltlichen Teil haben die Herausgeber, Michael Farrenkopf und Peter Friedemann, einen extensiven und übersichtlich editierten Quellenkorpus angefügt (288-519). Darin finden sich ausgesuchte Artikel der Tages- und Wochenpresse, aus Deutschland, England und Frankreich, aber auch wissenschaftliche Gutachten, Fachartikel und politische Verhandlungen. Darüber hinaus wurde eine "Bibliographie Courrières" angefertigt, in der die gesamte Primär- und Sekundärliteratur zur Katastrophe zusammengestellt ist.

Rein äußerlich betrachtet besticht der Band durch wertiges Hochglanzpapier, farbige Abbildungen und Diagramme, und in roten Lettern abgesetzte Überschriften. Das Kompendium der Beiträge lässt aber insofern zu wünschen übrig, dass einzelne Artikel keine Anknüpfungspunkte an das Grubenunglück aufweisen, andere themenbezogene Artikel sich dafür in vielen Punkten überschneiden. So fragt es sich, ob Hintergrundberichte zum Leben der Bergarbeiter oder eine Analyse des Erdbebens von Messina (1908) nicht besser an anderer Stelle hätten publiziert werden sollen. Beschränkt man die Lektüre auf die relevanten Artikel und ignoriert vorkommende Redundanzen so lässt sich konstatieren, dass der Forschungsstand zu Courrières für den deutschsprachigen Raum erheblich erweitert und differenziert wurde. Metaphorisch gesprochen könnte man feststellen, dass das Denkmal von Courrières, das Sieburg 1967 geschaffen hat, restauriert wurde und damit eine Erinnerungskultur erfolgreich aufrecht erhalten worden ist.


Anmerkungen:

[1] Z.B. sein Grundlagenwerk: Heinz-Otto Sieburg: Die Grubenkatastrophe von Courrières 1906. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Dritten Republik und zum deutsch-französischen Verhältnis um die Jahrhundertwende, Stuttgart 1967.

[2] Entzündliche bzw. explosive Grubengase.

[3] Sieburg, Kap.3.

Patrick Masius