Gerrit Jasper Schenk (Hg.): Katastrophen. Vom Untergang Pompejis bis zum Klimawandel, Ostfildern: Thorbecke 2009, 271 S., ISBN 978-3-7995-0844-5, EUR 24,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Horst Förster / Julia Herzberg / Martin Zückert (Hgg.): Umweltgeschichte(n). Ostmitteleuropa von der Industrialisierung bis zum Postsozialismus, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013
Michael Farrenkopf / Peter Friedemann (Hgg.): Die Grubenkatastrophe von Courrières 1906. Aspekte transnationaler Geschichte, Bochum: Deutsches Bergbau-Museum Bochum 2008
Thomas Knopf (Hg.): Umweltverhalten in Geschichte und Gegenwart. Vergleichende Ansätze, Tübingen: Attempo Verlag 2008
Mit "Katastrophen. Vom Untergang Pompejis bis zum Klimawandel" hat der Jan Thorbecke Verlag eine Marktlücke in Deutschland geschlossen. Die historische Betrachtung von Katastrophen wird dem Leser hier fachlich fundiert und dennoch ansprechend vermittelt. Damit wandelt der Band auf den Spuren einer zunehmenden Reihe von umwelthistorischen Büchern, die es geschafft haben, ein größeres Publikum zu erreichen. Im Vergleich zu Erfolgsbüchern von Jared Diamond, David Blackbourn oder Josef Reichholf besitzt die vorliegende Veröffentlichung den Vorteil, aus dem Wissen von 13 Experten zusammengestellt worden zu sein. So wird anhaltende Sachkompetenz von antiken bis zu modernen Katastrophen, entlang von 16 Fallbeispielen, gewährleistet.
Der Herausgeber des Bandes, Gerrit Jasper Schenk, ist Leiter einer interdisziplinären Nachwuchsgruppe über "Katastrophenkulturen", der ein Großteil der Autoren angehört. In seiner Einleitung werden grundlegende Überlegungen zum Wesen der Katastrophe auf aktuellem wissenschaftlichem Stand verständlich vermittelt. Zum Phänomen von Katastrophen, die einen natürlichen Kern besitzen - gemeint sind hiermit Erdbeben, Vulkanausbrüche, Stürme, Überschwemmungen etc. - gehöre auch die menschliche Gesellschaft, die betroffen ist. Im analytischen Fokus des Buches stehen kulturelle Wahrnehmung, Deutung, Darstellung und Erinnerung von solchen Katastrophen. Darüber hinaus diskutiert Gerrit Jasper Schenk, inwieweit man aus der Geschichte lernen kann. In einem Antwortversuch geht er über das sichere Terrain des "Orientierungswissens" hinaus (14). Er stellt zur Debatte, ob Umweltgeschichte zur Bewältigung heutiger Problemlagen möglicherweise nicht konkretere Hilfestellung geben kann. [1]
Mischa Meier gesteht in dem ersten Beitrag zum Untergang von Pompeji (79 n. Chr.) offen ein, dass über zeitgenössische Wahrnehmung und Deutung der Katastrophe kaum etwas bekannt ist. Die spärliche Quellenlage zwingt den Althistoriker dazu, die persönlich kolorierten Berichte von Plinius dem Jüngeren zu fokussieren. Gleichwohl bettet er die Ereignisse in einen größeren Erzählbogen vom glücklichen Kampanien ("Campania felix") ein (20), in dem Luxus und Dekadenz durch den Vulkanausbruch bestraft wurden. Allerdings glich die Landschaft zur Zeit des Ausbruchs eher einer Baustelle als einem Land, das in Luxus schwelgte. Ein Erdbeben hatte nämlich bereits im Jahr 62 n. Chr. große Teile von Pompeji und den umliegenden Ortschaften zerstört. Vor diesem Hintergrund funktioniert die Meistererzählung vom Untergang des glücklichen Kampanien lediglich, wenn der Leser Mischa Meiers Andeutungen folgt, und das Erdbeben als zum Vulkanausbruch zugehörig einordnet.
Anhand der "Marcellusflut" an der Nordseeküste im Jahr 1219 vergegenwärtigt Gerrit Jasper Schenk mittelalterliche Erklärungen von Naturkatastrophen. Die Deutungen der verheerenden Sturmflut wurden durch Augenzeugenberichte eines gelehrten Friesen, namens Emo, rekonstruiert. Dieser führte die Katastrophe im Sinne einer straftheologischen Deutung auf die Sünden der Menschen zurück, und konkret auf die Undankbarkeit der Friesen für ihren Reichtum. Gleichwohl konstatierte er - ohne dass Gerrit Jasper Schenk diesen Widerspruch auflöst - dass Reiche und Arme gleichermaßen betroffen worden waren. Kriegsmetaphorik und die damals verbreitete Lehre von den vier Elementen leiteten darüber hinaus Emos Berichterstattung, ohne dadurch die christliche Doktrin zu missachten.
Hier knüpft Marie Luisa Allemeyer mit der Untersuchung der Burchardi Flut (1634) an. Besonders schlimm hatte die Sturmflut die Insel Nordstrand getroffen. Zwei Drittel der Bevölkerung verloren in der Flut ihr Leben. Häuser, Kirchen und Windmühlen wurden zerstört. Die bestehenden Deiche boten keinen ausreichenden Schutz gegen eine so außergewöhnliche Flut. Man hatte sie nur so hoch gebaut wie das Wasser bei der letzten Sturmflut gestiegen war. Um das unglaubliche Leid erklärbar zu machen, wurde die Flut als Akt Gottes gegen die sündigen Menschen gedeutet. Die Überlebenden dagegen sollten sich Gottes Barmherzigkeit dankbar zeigen. Auf diesem Wege wurde der Glaube in Gottes Gerechtigkeit durch die Katastrophe sogar bestärkt. Erst Ende des 18. Jahrhunderts führte ein Priester unter dem Einfluss der Aufklärung das Unglück auf den "elenden Zustand der Deiche" zurück (105). Als regelmäßige Ereignisse werden Sturmfluten und der damit verbundene Deichbau bei Marie Luisa Allemeyer wie auch bei Gerrit Jasper Schenk für Landnutzung sowie kulturelle und politische Organisation an der Nordseeküste als prägend beschrieben.
Das so genannte Kanto-Erdbeben in Japan von 1923 wird von Andreas Dix vor dem Hintergrund von zunehmender Urbanisierung, Weltwirtschaftskrisen und imperialistischen Bestrebungen untersucht. Die Millionenstadt Tokio wurde neben vielen anderen Orten von dem Erdbeben und den damit verbundenen Feuern heimgesucht. Etwa ein Drittel aller Menschen in der Region waren unmittelbar betroffen. Es wurde das Kriegsrecht ausgerufen, um Plünderungen und Gewalttaten einzudämmen. Die soziale Minderheit der Koreaner wurde vielfach zum Sündenbock abgestempelt und von bewaffneten Gruppen verfolgt und auch getötet. Sogar der Staat nutzte das Chaos, um unliebsame Gegner auszuschalten. Bis heute gedenkt man dem Tag des Erdbebens am 1. September durch Notfallübungen.
In ähnlicher Weise lässt Jens Ivo Engels durch den Auslöser der Hamburger Sturmflut (1962) ein Zeitportrait deutscher Geschichte entstehen. Hinter der dünnen Fassade des Wirtschaftswunderlandes tauchten Not und Elend in überfluteten Barackensiedlungen auf. Ehemalige Kriegsflüchtlinge lebten in den verwundbaren Laubensiedlungen und hatten keine Chance dem Wasser zu entkommen. Der Hochwasserschutz war hier vernachlässigt worden. Neben dieser sozialen Komponente analysiert Jens Ivo Engels die weltanschaulichen Deutungsmuster der Sturmflut, die die politisch-kulturellen Strukturen der Zeit reflektieren.
In "Szenen und Szenarien" beleuchtet schließlich Franz Mauelshagen die Dimensionen einer möglichen Klimakatastrophe. Dabei changiert seine Perspektive zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sowie zwischen Science Fiction und "Science Fact" (212). Er veranschaulicht die Problematik der Klimakatastrophe durch den Hollywood Blockbuster "The Day after Tomorrow" und gleicht dessen Erzählmuster mit wissenschaftlicher Logik ab. Was der Film im Zeitraffer zeige, sei ein plötzlicher Klimaumschwung, den Paläoklimatologen für die Jüngere Dryas (vor etwa 14.500 Jahren) rekonstruiert haben. Durch das Studium des Klimas in der Vergangenheit sollten wahrscheinliche Rückschlüsse auf das Klima der Zukunft möglich werden. Dies funktioniere aber nur, so Mauelshagen, insoweit das Klima sich ohne Sprünge und Wendepunkte linear entwickelt. Andernfalls blieben der Politik als Entscheidungshilfe nur Worst-Case-Zukunftsszenarien.
Die einzelnen Artikel sind kurzweilig geschrieben und soweit als möglich mit einem Erzählfaden versehen. Aktuelle Bezugspunkte werden für den Leser immer wieder hergestellt, so dass nicht nur der wissenschaftliche Neuling einen vorzüglichen Einstieg in die Thematik erhält, sondern auch der interessierte Laie. Einzig die Auswahl der Katastrophen erscheint diskussionswürdig. Sie orientiert sich an den Spezialgebieten der verschiedenen Beiträger, weshalb einige bedeutende Katastrophen nicht behandelt werden. Derweil aber berühmte Ereignisse wie das Erdbeben von Lissabon (1755), das Erdbeben von San Francisco (1906), oder der Ausbruch des Krakatoa (1883) bereits in anderen wissenschaftlichen und weniger wissenschaftlichen Publikationen zur Genüge behandelt wurden, stellt ihre Absenz hier keinen wirklichen Mangel dar.
Anmerkung:
[1] Einige relevante Überlegungen zu dieser Frage waren zur Zeit der Abfassung von Gerrit Jasper Schenks Artikel noch nicht veröffentlicht: siehe P. Masius / J. Sprenger / O. Sparenberg (Hgg): Umweltgeschichte und Umweltzukunft: Zur Relevanz einer jungen Disziplin (Universitätsverlag Göttingen 2009); und darin insbesondere der Beitrag von Manfred Jakubowski-Tiessen: "Naturkatastrophen. Wurde aus ihnen gelernt? "
Patrick Masius