Albrecht Classen (ed.): Sexuality in the Middle Ages and Early Modern Times. New Approaches to a Fundamental Cultural-Historical and Literary-Anthropological Theme (= Fundamentals of Medieval and Early Modern Culture; Vol. 3), Berlin: De Gruyter 2008, VIII + 903 S., ISBN 978-3-11-020574-9, EUR 119,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Johannes Giessauf / Andrea Penz / Peter Wiesflecker (Hgg.): Im Bett mit der Macht. Kulturgeschichtliche Blicke in die Schlafzimmer der Herrschenden, Wien: Böhlau 2011
Tobias Kämpf: Das Revaler Ratsurteilsbuch. Grundsätze und Regeln des Prozessverfahrens in der frühneuzeitlichen Hansestadt, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2013
Martin Kintzinger / Frank Rexroth / Jörg Rogge (Hgg.): Gewalt und Widerstand in der politischen Kultur des späten Mittelalters, Ostfildern: Thorbecke 2015
Albrecht Classen (ed.): Mental Health, Spirituality, and Religion in the Middle Ages and Early Modern Age, Berlin: De Gruyter 2014
Albrecht Classen (ed.): Magic and Magicians in the Middle Ages and the Early Modern Time. The Occult in Pre-Modern Sciences, Medicine, Literature, Religion, and Astrology, Berlin: De Gruyter 2017
Albrecht Classen (ed.): Bodily and Spiritual Hygiene in Medieval and Early Modern Literature. Explorations of Textual Presentations of Filth and Water, Berlin: De Gruyter 2017
Was hier mit ziemlich globalem Ober- und ziemlich sperrigem Untertitel daherkommt, ist ein im wahrsten Wortsinne gewichtiges Florilegium neuerer Forschungen zu einem Themenfeld, das in den letzten Jahren stetigen Interessenzuwachs verzeichnen konnte. Wohl auch zu Recht. In seiner monografischen Einleitung von beinahe 150 Seiten legt der Herausgeber mit vielen Beispielen, wenn auch nicht immer konzise, so aber doch überzeugend und manchmal erfrischend unorthodox die "cultural significance" vormoderner Sexualität dar. Das ist allemal sehr lesenswert, auch wenn mancher dem Verfasser nicht in jeder seiner Deutungen und Stellungnahmen, beispielsweise zur Elias-Dürr-Debatte, zustimmen und wenn mancher Historiker bedauern wird, dass die zahlreichen literarischen Beispiele auf Kosten beispielsweise sozialhistorischer Arbeiten gehen, von denen viele neuere Studien nicht berücksichtigt werden.
Die insgesamt 28 - mit Ausnahme dreier deutscher Titel durchweg in englischer Sprache verfassten - Beiträge selbst sind von recht schwankendem Anspruch und entsprechend auch schwankender Qualität; eine Einteilung in Sektionen oder Themenschwerpunkte wird nicht vorgenommen. Alle Beiträge sollen und können hier gar nicht im Einzelnen vorgestellt werden. Es lassen sich aber durchaus gewisse Schwerpunkte formulieren.
Die große Mehrzahl wählt literaturwissenschaftliche Zugänge, wobei neben anglistischen und germanistischen auch romanische Literaturen sehr stark, eigentlich erstaunlicherweise aber die mittellateinische Philologie gar nicht vertreten ist. Das Fragespektrum reicht von Nacktheit über Obszönität hin zu sexuellen Praktiken, was so unkonventionelle Fragen einschließt wie "Oral Sex in the Songs of Oswald von Wolkenstein: Did It Really Happen?" (Rasma Lazda-Cazers, 579-598). Immer wieder werden auch Lieder thematisiert, allerdings nur in Julia Wingo Shinnicks Beitrag über sexuelle Anspielungen in französischen Troubardour- und Trouvère-Liedern (293-323) auch konsequent musikhistorisch behandelt.
Eher sozialhistorische Perspektiven nehmen etwa der lesenswerte Beitrag von Andrew Holt über "Feminine Sexuality and the Crusades" (449-470) oder Sara McDougalls Untersuchung sexueller Devianz im nordfranzösischen Troyes (691-714) ein. In diesen Beiträgen und auch sonst liest man vor allem über die Verbindung von Sexualität und Sündenkonzepten - zum Beispiel bei Roswitha von Gandersheim (Eva Parra Membrives, 217-240) oder in explizit monastischen Kontexten. An einer Verknüpfung ganz unterschiedlicher Quellengattungen zwischen Theologie, Historiografie und Literatur arbeitet Peter Dinzelbacher in seinem Beitrag über "Gruppensex im Untergrund" (405-428), um der sexuellen Stigmatisierung von Ketzern nachzuforschen. Hier wäre noch der ältere einschlägige Beitrag von Michael Goodich zu ergänzen [1], der Dinzelbachers Ergebnisse aber nur unterstreicht.
Während die Kunstgeschichte zumindest mit zwei Beiträgen vertreten ist [2], stellt die medizinhistorische Erforschung der Sexualität eine erstaunliche Leerstelle in dem Band dar. [3] Das verweist aber nur auf dessen Entstehungsumstände und deren Kontingenzen. Mit dem Beitrag von Allison P. Coudert über die "Eclipse of the Female Libido in Early Modern Art, Literature, and Philosophy" (837-878) findet das Buch allerdings einen gelungenen, die Interdisziplinarität des Unternehmens, die ansonsten nicht immer im Blick behalten wird, virtuos aufnehmenden Abschluss.
Erschlossen wird der Band leider lediglich durch ein vergleichsweise schmales Namens- und Werkregister. Das ist schade, denn so entgeht manchem Leser, der auf Suche nach gezielten Schwerpunkten ist, sicher einiges zwischen den ja immerhin fast tausend Seiten des Bandes.
Anmerkungen:
[1] Michael Goodich: Sexual deviation as heresy in the XII-XIVth centuries, in: Modernité et non-conformisme en France à travers les âges (= Studies in the history of Christian thought; 28), hg. von Myriam Yardeni, Leiden et al. 1983, 14-22.
[2] 325-382: Christina Weising über die regionalen Differenzierungen der südwesteuropäischen Corbels; 535-563: Alexa Sand über den alttestamentlichen Bilderzyklus aus M. 638 der Pierpont Morgan Library, New York, und zwei dazu gehörige Einzelblätter.
[3] Ana Simon Mittman und Susan M. Kim freilich behandeln mit dem "gendering" der sagenhaften "Blemmye" körpertheoretische Fragen (171-215).
Hiram Kümper