Barbara Wittmann (Hg.): Spuren erzeugen. Zeichnen und Schreiben als Verfahren der Selbstaufzeichnung (= Wissen im Entwurf; Bd. 2), Berlin: Diaphanes Verlag 2009, 200 S., ISBN 978-3-03734-070-7, EUR 24,90
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Der von Barbara Wittmann herausgegebene Sammelband ist der zweite in der Reihe "Wissen im Entwurf". Während in dem von Christoph Hoffmann herausgegebenen ersten Band die Aufzeichnung 'wissenschaftlicher Daten' im Mittelpunkt steht [1], konzentriert sich in der nun vorliegenden zweiten Publikation das Interesse auf grafische "Spuren" als Resultat von Versuchen der "Selbstaufzeichnung".
Unter Verweis auf Sybille Krämer beschränken sich die Beiträger auf Spuren, die "nicht gemacht, sondern unabsichtlich hinterlassen" (7) werden. Damit rücken Aufzeichnungsformen in den Blick, denen eine "schwache Intentionalität" (13) unterstellt wird. Diese Setzung verweist vor allem auf drei Felder: Grafologie, Psychoanalyse und spezielle Bereiche und Techniken der modernen Kunst. Wittmann argumentiert, dass sich in der Schreib- oder Zeichenbewegung Geist und Körperlichkeit verbinden. Davon seien im Ergebnis Spuren zu finden, die - wenn auch verschlüsselt - Einblicke in das Selbst gewährten. Schrift oder Zeichnung werden aus dieser Perspektive zum grafischen "Symptom" (11), das Rückschlüsse auf eine dem Erzeuger der Spur nicht bewusste psychische Befindlichkeit erlaubt. Übertragen auf künstlerische Techniken, die - wie das Zeichnen mit beiden Händen oder mit geschlossenen Augen - die Intentionalität des Künstlers schwächen, wirft ein solcher Begriff der Spur zudem die Frage nach der Subjektivität künstlerischer Produktion neu auf.
Die sechs Einzelbeiträge teilen sich auf die drei genannten Themengebiete auf. Den Anfang machen Armin Schäfer und Stephan Kammer, die sich mit der Erforschung der Schrift als psychiatrischem Symptom und den technischen Hilfsmitteln der Grafologie um 1900 beschäftigen. Schäfer widmet sich in seinem Aufsatz den Experimenten des Psychiaters Emil Kraepelin mit der Schriftwaage, die den Druck bei der Schreibbewegung abbildete. Kraepelin wollte damit die "Ausdrucksbewegung" (23) des Schreibens analysierbar machen, scheiterte jedoch, so Schäfer, daran, dass er weiterhin ästhetische Bewertungskriterien benutzte und die "rückgekoppelte[n] Rückkopplungssysteme" (35), die den Schreibvorgang steuern, nicht erkannt habe. Das weitere Umfeld von Schäfers Beispiel skizziert Stephan Kammer. Er beschreibt die von ihm untersuchten Jahrzehnte (1880-1910) als besondere "Etappe der Diskursgeschichte des neuzeitlichen Schriftwissens" (39). Anstöße aus Literatur und Psychiatrie hätten die Aufmerksamkeit auf individuelle Schreibakte als "Symptome der Individualität" gelenkt. Kammer arbeitet heraus, wie die Vertreter der Grafologie die grafische Spur als situatives Symptom für die individuelle psychologische Verfassung begriffen und zu ihrer Erforschung ein reiches experimentelles und technisches Instrumentarium entwickelten. Nach der Jahrhundertwende habe jedoch wieder die Vorstellung von der Typologisierbarkeit von Schreibakten an Einfluss gewonnen. In der aufkommenden Vorstellung, man könne in der Handschrift den (devianten) Charakter eines Menschen erkennen, sieht Kammer einen Rückschritt hin zu den ganzheitlichen Ideen der Physiognomie des 18. Jahrhunderts.
Ein weiteres disziplinäres Feld von Selbstaufzeichnungen eröffnet Markus Klammer, der sich der Freud'schen Psychoanalyse widmet. Unter Verwendung von Derridas Metapher der "Archivmaschine" (71) ordnet Klammer der von Freud publizierten Darstellung des Wolfstraumes seines Patienten Pankejeff mehrere argumentative Ebenen zu: Von dieser 'Urszene' aus werden die Entstehung der Psychoanalyse als Wissenschaft, Freud als ihr (umstrittener) Begründer, die Konzeption des Ursprungs des Subjekts und das Verhältnis zwischen Text und Bild in der psychoanalytischen Traumdarstellung thematisiert. Klammer zieht dabei zahlreiche weitere Metaphern heran, darunter sogar die der 'Metapher' als "Über-Tragung" (77) selbst. Sein Beitrag ist, da sich diese zahlreichen Ebenen von Bildlichkeit stetig überlagern, stellenweise nur mühevoll erschließbar. Er bietet aber durchaus vielschichtige Erkenntnisse über Ursprungserzählungen der Psychoanalyse und ihre konkreten grafischen Repräsentationsmöglichkeiten. Barbara Wittmann bezieht sich in ihrem Aufsatz zur "Drawing cure" ebenfalls auf Derrida, verbindet den metaphorischen Ansatz jedoch recht konkret mit der Idee, gerade die nicht-sprachliche Seite der Psychoanalyse zu untersuchen. Sie stellt die "tatsächlich hervorgebrachten Inskriptionen" (109) in den Mittelpunkt, die psychoanalytischen Sitzungen von Melanie Klein und Donald W. Winnicott mit Kindern entstammen. Dabei arbeitet sie heraus, wie die Zeichnung als "schwach strukturiertes Instrument" (143) einen offenen Ausgangspunkt für die Unterhaltung zwischen Therapeut und Patient und zugleich den Fokus für die Arbeit an der Veränderung psychischer Strukturen bildet.
Im ersten der beiden kunsthistorischen Beiträge untersucht Richard Shiff Zeichnungen und Gemälde von Willem de Kooning aus den 1960er-Jahren. De Kooning bemühte sich, so Shiff, der Konventionalität bildlicher Darstellung zu entkommen, indem er die visuelle Kontrolle über das Zeichnen untergrub. Mit geschlossenen Augen oder beim Fernsehen zeichnend habe de Kooning seinen Linien oder den dargestellten (Frauen-)Körpern eine besondere Verdrehung gegeben, die Shiff mehrdeutig als "twist" (148) thematisiert. Shiff betont, dass sich de Kooning durch seine spezielle Technik die eigene Körperlichkeit beim Malen und Zeichnen bewusst gemacht habe. Das visuelle Ergebnis seiner Arbeit sei so für ihn selbst zur überraschenden Spur, zur Selbstaufzeichnung geworden. Spontanität scheint zunächst auch die "Hotelzeichnungen" (169) des deutschen Künstlers Martin Kippenberger zu kennzeichnen, die Jutta Voorhoeve betrachtet. Seit Mitte der 80er-Jahre zeichnete Kippenberger auf Hotelbriefpapier und ließ sich dabei von den Vorgaben des Materials inspirieren. Voorhoeve verdeutlicht jedoch, dass die bedruckten Bögen keineswegs auf aktuelle Aufenthaltsorte und spontane Einfälle Kippenbergers hinweisen. Vielmehr habe der Künstler immer wieder sein eigenes Werk zitiert, Spontanes und Geplantes vermischt und so eine Selbstaufzeichnung "im Modus der Sekundarität" (194) geschaffen. Das aufgezeichnete Selbst Kippenbergers liege demnach in der unendlichen Spiegelung und Weiterverarbeitung seines eigenen künstlerischen Schaffens.
Im Bezug auf die Thematik des Sammelbandes wirft gerade der letzte Beitrag die Frage auf, ob die Selbstaufzeichnung in der Postmoderne nicht nur noch ein Spiel mit Materialien ist, hinter dem kein Subjekt mehr auszumachen ist. Mit dieser Frage wird einer der Grenzbereiche berührt, bis zu denen sich die neueste Wissenschaftsgeschichte vorwagt. In ihren Kontext ist die Reihe "Wissen im Entwurf" einzuordnen. Insgesamt bietet der Sammelband "Spuren erzeugen" einen faszinierenden, innovativen Einblick in das Überschneidungsfeld von Selbstaufzeichnung, Wissenschaft und Kunst. Durch den gemeinsamen Bezug auf das Konzept "Spur" gewinnen die Beiträge aus den unterschiedlichen Disziplinen an Anschlussfähigkeit für jede Beschäftigung mit der Praxis der Wissensgenerierung. Im Rahmen der Publikationsreihe und des Gesamtprojekts könnte man sich jedoch eine noch weiter gefasste Perspektive auf das Schreiben als Selbstaufzeichnung vorstellen. Inwieweit sind z.B. auch die Aufzeichnung von Ideen oder Ergebnissen im Forschungsprozess oder die Gestaltung einer wissenschaftlichen Veröffentlichung als Selbstaufzeichnung zu verstehen? Der Sammelband "Spuren erzeugen" eröffnet hier einen wichtigen Einstieg.
Anmerkung:
[1] Christoph Hoffmann (Hg.): Daten sichern. Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung (= Wissen im Entwurf; 1), Zürich / Berlin 2008.
Anke Fischer-Kattner