Rezension über:

Barbara Wittmann: Bedeutungsvolle Kritzeleien. Eine Kultur- und Wissensgeschichte der Kinderzeichnung, 1500-1900, Berlin: Diaphanes Verlag 2018, 417 S., ISBN 978-3-0358-0084-5, EUR 39,95
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Rezension von:
Veronica Peselmann
Historische Bildwissenschaft-Kunstgeschichte, Universität Bielefeld
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Veronica Peselmann: Rezension von: Barbara Wittmann: Bedeutungsvolle Kritzeleien. Eine Kultur- und Wissensgeschichte der Kinderzeichnung, 1500-1900, Berlin: Diaphanes Verlag 2018, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 4 [15.04.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/04/35499.html


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Barbara Wittmann: Bedeutungsvolle Kritzeleien

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Die Erforschung der Kinderzeichnung als wissenschaftliches Objekt ist der Anspruch Barbara Wittmanns 2018 erschienener Monographie. In ihrer umfassenden Studie verbindet sie unterschiedliche disziplinäre Ansätze zu einer überzeugenden "Kultur- und Wissensgeschichte der Kinderzeichnung", die sie basierend auf einer breiten Quellensichtung und an Beispielen aus der Renaissancezeit bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts belegt. Der Einsatz ihrer Arbeit besteht darin zu zeigen, unter welchen wissenschaftlichen Prämissen sich Kinderzeichnungen aus der Kategorisierung einer "ästhetischen Umweltverschmutzung" (20) zu einer eigenständigen Objektgruppe etablierten.

Wittmann berücksichtigt dabei kunst- und kulturwissenschaftliche, kunstpädagogische und psychologische Auseinandersetzungen mit Kinderzeichnungen. Während beispielsweise kunsthistorische Perspektiven Kinderzeichnungen vermehrt aus stilgeschichtlicher Warte oder in Zusammenhang mit den Avantgarden und Primitivismus diskutieren, fokussieren etwa wissenschafts- und kulturhistorische Ansätze unterschiedliche Zeichengeräte oder psychologische Experimente als Bedingung von Wissen und Wissensproduktion. Als synthetisierende Herangehensweise plädiert Barbara Wittmann dafür, die Frage nach der Bedeutung der Kinderzeichnung an ihrer Relevanz als Instrument auszurichten und diesen Instrument-Charakter analytisch zu berücksichtigen. Entsprechend argumentiert sie, Kinderzeichnungen nicht nur als Gegenstand human- und geisteswissenschaftlicher Analysen zu fassen, sondern auch als Mittel, die selbst Wissen prägen und konstituieren. Sie legt dabei einen gewichtigen Schwerpunkt auf den bedeutungsgenerierenden Status dieser Objektgruppe, indem sie nicht nur das finale Resultat, sondern auch dessen Entstehungsprozess mit unterschiedlichen Trägermaterialien und Zeichenstiften interpretativ einbindet. Die besondere Stärke der Studie liegt darin, dass Wittmann einen umfassenden Einblick in die zentralen historischen Protagonistinnen und Protagonisten sowie deren jeweiligen Experimente mit Kinderzeichnungen eröffnet. Dabei perspektiviert sie das gesichtete Material mit innovativen Fragen und diskutiert in der Kunstgeschichte bisher weniger berücksichtigte Aspekte, wie etwa machtpolitische Ausmaße der Kinderzeichnung.

Die Arbeit ist in acht Hauptkapitel unterteilt. Im ersten Kapitel referiert die Autorin die Diskursivierung der Kinderzeichnung in der Frühen Neuzeit in Italien und den Niederlanden. Ein wichtiges Moment für die spätere Sichtbarkeit der Kinderzeichnung als eigenständige Werkgruppe liege, so Wittmann, mitunter in der materialen Veränderung von Kinderzeichnungen. Eine breitere Zugänglichkeit zu Papier und Zeichenstiften führte nicht nur zu verstärkter zeichnerischer Produktivität, sondern auch zu einer veränderten Wahrnehmung von Kinderzeichnungen: Das Zeichnen auf Papier verringerte Kritzeleien auf Wänden, Böden oder Baumrinden - Orte, an denen die kindlichen Werke vornehmlich als ärgerliche Verschmutzung angesehen wurden (30). Gleichwohl sind es explizit diese scheinbar beiläufigen Kritzeleien, etwa auf Rückseiten von Gemälden, Wänden in Künstlerwerkstätten und Studienblättern etablierter Renaissance-Künstler, an denen Wittmann eine Verbindung von Kinderzeichnung und Hochkunst herausarbeitet: Deren konzeptuelle Diskrepanz bei gleichzeitiger räumlicher Nähe deutet Wittmann überzeugend als "eingeschlossenen Ausschluss" (35) und zeigt auf, dass bereits in der italienischen Renaissance Gekritzel als Referenz oder Kontrastfolie diente, um ästhetische Vorstellungen zu verhandeln (35). Mit dem Ansatz des eingeschlossenen Ausschlusses beschreibt Wittmann wiederkehrend die teils ambigue Position kindlicher Zeichnungen im historischen wie aktuellen Kunstdiskurs.

Anhand von Beispielen aus dem 18. und 19. Jahrhundert widmet sich das zweite Kapitel der wissenschaftlichen und künstlerischen Anerkennung von Kinderzeichnungen. In beeindruckenden Analysen, etwa von Anne Louis Girodet's Portrait Benoît Agnès Trioson, zeigt Wittmann, wie sehr Kinderzeichnungen als Dokument einer "anderen Erfahrung", "wilden Denkens" (74) sowie als Beispiel eines voraussetzungslosen Sehens erachtet wurden. Diese Konzipierung steht disparat zu zeitgenössischen Kunstkriterien und bot Künstlerinnen und Künstlern des 18. und 19. Jahrhunderts - sowie erneut in der Moderne - Anlass, sich mit diesen aus dem künstlerischen Kanon ausgeschlossenen bildlichen Tätigkeiten zu identifizieren (74f.) oder normative akademische Formgerüste zu kritisieren (80f.).

Parallel zur kunsthistorischen Hinwendung zu bildnerischen Tätigkeiten von Kindern, etablierte sich eine wissenschaftliche Anerkennung auf der Basis erst im 19. Jahrhundert entwickelter Disziplinen wie etwa der Anthropologie, Evolutionstheorie und Kinderforschung (87). Corrado Ricci's systematisch-quantitative Sammlung von Kinderzeichnungen, L'arte dei bambini (1887), greift auf diese methodischen Ansätze zurück und verwendet Kinderzeichnungen als Instrument, um Zugang zu den Mechanismen kindlichen Wissens, Fühlens und Denkens zu erhalten. Andere Ansätze, wie etwa die auf Wiederholung beruhende experimentalpsychologische Methode des amerikanischen Psychologen James Baldwin, nehmen vor allem den Prozess der zeichnenden Tätigkeit in den Blick (Kapitel 3). Baldwins, wie auch Clara und William Sterns oder Ernst Meumanns Forschungen an Kinderzeichnungen zielen auf Erkenntnisse zu sensomotorischen Prozessen. Wittmanns Darlegung der Experimente, die auch mit Instrumenten wie etwa des Kurvenschreibers laborierten, verdeutlicht wie eng die Konzipierung der Kinderzeichnung an medienhistorische Innovationen gebunden ist. In diesem Zusammenhang hätte sich ergänzend ein Verweis auf André Leroi-Gourhans Forschungen angeboten, der sich mitunter mit neuen Technologien und deren Auswirkungen auf Kommunikationsverfahren sowie mit der Geste als Ausgang des Graphischen befasst. [1]

Für das beginnende 20. Jahrhundert bedeuten diese Forschungen eine verstärkte Einordnung der Kinderzeichnungen als Instrument zeichenpädagogischer Untersuchungen (Kapitel 4). Wittmann legt hier einen Schwerpunkt auf die Reformpädagogik, die "freie Kinderzeichnungen", das "Schnellzeichnen" oder auch das "korrekturlose Zeichnen" als Mittel einsetzte, sensomotorische Fähigkeiten zu stärken und Einblicke in den Entwicklungsprozess von Kindern zu erlangen. Ziel dieser empirischen Kinderzeichnungsforschung war es, eine an die kindliche Entwicklung angepasste Lehrplanung zu kreieren, um damit die persönliche und intellektuelle Entfaltung des Kindes zu optimieren.

Im 5. Kapitel analysiert Wittmann unterschiedliche Versuche - und auch deren Scheitern -, Kinderzeichnungen als Quelle der Kultur- und Entwicklungsgeschichte zu deuten. Sie fokussiert in diesem Zusammenhang die vor allem im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert präsente Auseinandersetzung mit biogenetischen Fragen zu Verfahren der Phylo- und Ontogenese, wie sie u.a. Ernst Haeckel formulierte. In welchem Maße die Entwicklung des Kindes in Analogie zur Menschengeschichte verstanden werden könne, initiierte ein erneutes und verändertes Wissenschaftsinteresse an der Kinderzeichnung. Umfassende Sammlungen sollten die Nähe von prähistorischen und kindlichen Zeichnungen belegen und wurden unter anderem von Karl Lamprecht, Carl Götze, Wilhelm Wundt oder auch Aby Warburg durchgeführt. Anschaulich legt Wittmann dar, wie sich Warburg als einer der ersten mit Kinderzeichnungen als kulturgeschichtliche Ressource befasst (192) und welchen Einfluss seine Exkursion nach New Mexico und Arizona sowie seine Beobachtung der Kinderzeichnung des indigenen Jungen Howato auf seine spätere umfassende Kulturtheorie einnahm.

Wie Kinderzeichnungen als durchaus problematische Grundlage der Intelligenzmessung dienten, zeigt Wittmann eindrücklich im 6. Kapitel am Beispiel des von der amerikanischen Psychologin Florence Laura Goodenough 1924 entwickelten Draw-a-Man-Test. Die traurige Tragweite, den Test auch als normatives Bewertungskriterium kindlicher Intelligenz anzulegen, zeigte sich mitunter im Einsatz, die Intelligenz von in die USA immigrierten Kindern im Vergleich zu weißen amerikanischen Kindern festzustellen: Ohne soziale oder geographische Unterschiede der Kinder im Psychogramm zu berücksichtigen, führte der Test zu fatalen, rassistische Positionen befördernden Ergebnissen.

Das siebente Kapitel behandelt den Stellenwert kindlicher Zeichnungen in der Psychoanalyse. Am Beispiel von Melanie Klein oder Anna Freud zeigt Witmann, wie Praktiken des Zeichnens Verfahren der Gesprächstherapie in der Kinderanalyse ersetzen. Die Drawing Cure fragt nach dem Symbolisch-Graphischen des Unbewussten, analysiert dabei jedoch nicht nur das phänotypische Ergebnis, sondern auch die Energie sowie Art und Weise, wie das Papier mit den Zeichengeräten bearbeitet wird.

Im achten Kapitel diskutiert Wittmann die Signifikanz von Jean Piagets Kinderzeichnungsexperimenten, die dem Entwicklungspsychologen dazu dienten, eine genuin kindliche Raumwahrnehmung zu belegen und zu analysieren. Seine Forschungen zu kognitiven Entwicklungsstufen und Wahrnehmungen des Kindes legten nahe, dass die frühkindliche Raumwahrnehmung zunächst verstärkt auf topologischen und erst ab dem dritten Lebensjahr zunehmend auf euklidischen Relationen beruhe. Das Zentrale an Piagets Annahmen liegt darin, dass die Zeichnungen das kindliche Raumverständnis nicht nur abbilden oder "aufzeichnen" (321), sondern dass das Zeichnen selbst aktiv an der Ausbildung von Raumwissen beteiligt ist. Wittmanns These, dass die elementare Bedeutung von Kinderzeichnungen vor allem in ihrem Instrument-Charakter liege, wird hier ein weiteres Mal eindrücklich vorgeführt.

Im Ergebnis gelingt Wittmann mit ihrer Publikation eine Re- und Neulektüre einer entscheidenden Objektgruppe der Kunst- und Wissenschaftsgeschichte, deren besondere Stärke in ihrer multiperspektivischen und transdisziplinären Ausrichtung liegt. In der Zusammenschau bisher oft nur vereinzelt diskutierter Bereiche der Kinderzeichnung liegt ein besonderer Mehrwert, der es erlaubt, das historische Phänomen Kinderzeichnung in seiner breiten wissenschaftlich umfassenden Relevanz zu erfassen. Ihre Studie bildet damit nicht nur eine Referenzliteratur für zukünftige Auseinandersetzungen mit Kinderzeichnungen, sondern auch für die methodische Verbindung von kunst- kultur- und wissenschaftshistorischen Fragestellungen.


Anmerkung:

[1] André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt am Main 1987.

Veronica Peselmann