Hedwig Richter: Pietismus im Sozialismus. Die Herrnhuter Brüdergemeine in der DDR (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 186), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, 400 S., ISBN 978-3-525-37007-0, EUR 56,00
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Die 1727 unter Beteiligung von Nikolaus Graf Zinzendorf gegründete Herrnhuter Brüdergemeine ist in der Kirchengeschichte eine viel beforschte Kirche. Die im Geiste des Pietismus entstandene und mit weltweit knapp einer Million Mitgliedern missionarisch agierende Freikirche kooperierte in Deutschland eng mit den evangelischen Landeskirchen und blieb auch stets für die Frömmigkeitsgeschichte der deutschen Protestanten von Bedeutung. Allein ihr jährlich herausgegebenes Losungsbuch mit für jeden Kalendertag ausgelosten Bibelsprüchen brachte der Gemeine Aufmerksamkeit. Das galt auch für die DDR, wo sich die Brüdergemeine mit etwa 3000 Mitgliedern in 10 Ortsgemeinen behaupten konnte.
Hedwig Richter hat mit ihrer verdienstvollen Monografie die Geschichte der Brüdergemeine aus dem historiografischen Getto befreit, in das die Zeitgeschichte kirchliche und religiöse Themen oft noch verbannt. Das Buch bietet keine bloße Kirchengeschichte einer kleinen Freikirche, sondern spiegelt auch die Lebensbedingungen der großen Kirchen. Vor allem aber hat die Autorin die Geschichte der Brüdergemeine in den Interdependenzen von Herrschaft und Gesellschaft dargestellt und erklärt. Damit gelingt es ihr, ein anschauliches Beispiel für eine gesellschaftsgeschichtliche Betrachtung der DDR-Verhältnisse abzuliefern.
In ihrer Einleitung entwickelt Richter ein einleuchtendes theoretisches Konzept, das nicht nur das Gegenüber, sondern auch die Interaktion von Beherrschten und Regime aufnimmt. Die Brüdergemeine war nach 1945 zunächst durch die kommunistische Repression betroffen. Eine Folge war die Flucht vieler Mitglieder, auch von Teilen der Herrnhuter Elite. Doch schon Ende der 1950er Jahre wird die Freikirche durch die Akzeptanz der Verhältnisse zum kirchenpolitischen Musterknaben. In Anschluss an Michel Foucault erklärt die Autorin dies als "Produktion von Wirklichkeit". (17) Indem die Herrnhuter die Machtansprüche der SED internalisierten und die abverlangte Preisgabe von angestammten Rechten schließlich auch positiv bewerteten, schufen sie eine andere als die reale Wirklichkeit. Und sie stellten sich gleichzeitig auf die von der SED vorgegebenen Handlungs- und Kommunikationsweisen ein.
In vier Kapiteln wird diese Wirklichkeitsproduktion vorgeführt. Beispiele sind die vom Staat kontrollierten und der Gemeineleitung genutzten Aushandlungsprozesse, die Lenkung und Gewährung von (Reise-)Privilegien, die ritualisierte Loyalität (Beteiligung an den Scheinwahlen) und die Hinnahme der Zensur theologischer Texte. Die Herrnhuter hatten dabei viele Zugeständnisse zu machen, unter anderem mussten sie auf ihre traditionelle Erziehungsarbeit verzichten. In dieser obrigkeitsfrommen Haltung sieht die Autorin aber auch die Voraussetzung für die innere und äußere Stabilität der Gemeine. Schließlich konnten die Herrnhuter auch einige Traditionen wahren, so blieben ihre wirtschaftlichen Betriebe in ihrer Hand. Auch war die Beteiligung der Herrnhuter Jugend am Ritual der Jugendweihe deutlich geringer als in anderen Kirchen. Und sie konnten neue Handlungsfelder erschließen, etwa die diakonische Arbeit mit Behinderten. Freilich war dies auch für den SED-Staat von Vorteil.
Auf die naheliegende Frage, wie die Herrnhuter diese Uminterpretation der Wirklichkeit als Freikirche geistig und theologisch gestützt haben, gibt Richter eine plausible Antwort: "Die Brüdergemeine verdankte ihr Überleben und ihren Erfolg - auch in der DDR - ihrer Fähigkeit zur Traditionserfindung, zur Konstruktion einer je nach Umwelt passenden Deutung der Geschichte." (12) Die Autorin verweist darauf, dass schon die von Zinzendorf kreierte Gründungslegende, nämlich die Ableitung der Herrnhuter aus der hussitischen Bewegung des 15. Jahrhunderts, eine Konstruktion war. Dieser Umgang mit historischen Stoffen konnte nicht nur das eigene Verhalten in neuen Bedingungen legitimieren, sondern stärkte auch die Gruppenidentität der Freikirche. Der selektive Neubau des Erinnerungsgebäudes war auch dringend nötig, denn die Herrnhuter hatten auch etwas zu vergessen, so ihre Haltung in der NS-Zeit. Und die Gemeine hatte gerade in geschichtspolitischer Hinsicht der DDR etwas zu bieten, ihre Internationalität. Die Autorin zeigt, dass die DDR die internationalen und ökumenischen Kontakte gefördert hat und der SED-Staat dies nutzte, um sich selbst als Hort religiöser Toleranz darzustellen.
So wird im Buch das komplexe Ineinander von Anpassung an den atheistischen Weltanschauungsstaat und latentem "Resistenzpotenzial" (353) gut herausgearbeitet. Vieles davon trifft auch auf die großen Kirchen zu, in denen es ebenfalls eine Verinnerlichung der Diktatur gab. Eine wichtige Frage aber wird von Hedwig Richter nicht oder nur am Rande erörtert. Das Bemühen um Identitätswahrung hatte im religiösen Feld der DDR und in allen Ostblockstaaten stets zwei Phänomene hervorgebracht. Einerseits ging es den Kirchen um Selbstbewahrung. Dafür wurden oftmals hohe kirchenpolitische Preise gezahlt. Andererseits folgt gerade religiöse Identitätswahrung nicht nur rationalem Kalkül. Vielmehr war sie auch Quelle von spontanem Widerstand oder langfristig organisierter Opposition. Solches hat es in Herrnhut in beiden Diktaturen nicht oder kaum gegeben. Die Erklärung dafür kann wahrscheinlich der gewählte methodische Ansatz nicht liefern.
Solche offenen Fragen schmälern den Wert der Studie nicht. Sie bietet viele interessante Informationen über Personen und Konstellationen, ihr sozialhistorischer Ansatz vermeidet auf fruchtbare Weise Vereinfachungen und sie regt zu weiteren Debatten über den kulturellen und zivilisatorischen Konflikt zwischen Religion und Kommunismus an.
Ehrhart Neubert