Hedwig Richter: Demokratie. Eine deutsche Affäre. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München: C.H.Beck 2020, 400 S., 22 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-75479-1, EUR 26,95
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In der ganzen westlichen Welt - nicht zuletzt in Deutschland - ist das Thema Demokratie wieder höchst aktuell. Angesichts der offenkundigen Gefährdungen unserer demokratischen Grundordnung multiplizieren sich wissenschaftliche Abhandlungen und publizistische Wortmeldungen. Manchmal verschwimmen dabei die Umrisse des Gegenstands, und nicht immer ist klar, worüber genau diskutiert wird. Umso wichtiger ist die historische Bestandsaufnahme. Sie allein kann am Ende einen wissenschaftlich fundierten Entwicklungsbegriff der Demokratie transparent machen. Insofern adressiert das hier anzuzeigende Buch einen wichtigen, für gegenwärtige historische Standortbestimmungen sogar zentralen Gegenstand.
Herausgekommen ist allerdings ein veritables Ärgernis, das schon mit dem Titel beginnt. Der Begriff "Affäre" ist seiner ursprünglich neutralen Bedeutung längst entwachsen und trägt unverlierbar das Motiv des Peinlichen oder Skandalösen in sich. Das gilt auch für den Begriff der "Staatsaffäre", auf den sich die Autorin beziehen möchte, bei dem man aber eher an Ereignisse wie die Dreyfus-Affäre, den Panama-Skandal oder auch an Watergate denkt. Nun bräuchte man aus der Titelgebung nicht viel Aufhebens zu machen, wenn sie nicht leitmotivisch das Buch durchziehen würde. Einleitend schreibt Hedwig Richter hierzu: "Diese Geschichte präsentiert die Affäre der deutschen Demokratie als eine Serie - mit allen menschlichen Abgründen. Sie ist eine Modernisierungserzählung, deren Stoff Fiktionen, Wahrheiten und auch Zufälle sind. Sie ist eine leidenschaftliche, optimistische Chronologie von Fehlern und Lernprozessen, in deren Herz der Zivilisationsbruch des Holocaust steckt. Es ist keine gradlinige Geschichte, deren Ende feststeht. Ganz im Gegenteil. Die Affäre geht weiter. Die nächste Staffel folgt." (18) Das erinnert eher an Netflix als an eine seriöse Publikation zur Geschichte der Demokratie in Deutschland.
Aus der Einleitung geht mithin nicht hervor, worüber Richter eigentlich zu schreiben gedenkt. Stattdessen konfrontiert sie ihre Leserinnen und Leser mit einem Stakkato an widersprüchlichen Spekulationen darüber, was Demokratie sei oder vielleicht sein könne. Dass sie sich für Begriffsgeschichte nicht interessiert, betont sie selbst. Vielmehr geht es um "das normative Projekt der Demokratie, das sich mit der Moderne und in enger Verbindung mit Vorstellungen von Menschenwürde herausgebildet hat" (10). In diesem Sinne wird der Gegenstand des Buches zunächst als "ein Projekt von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit" (10) vorgestellt, eine Seite später aber vernebelt, wenn es heißt: "Demokratie entwickelte sich nicht aus einer Idee, sondern aus einem ungeordneten Konglomerat an Ideen und Praktiken, die sich oft genug widersprachen" (11). Wiederum etwas später wandelt sich Demokratiegeschichte zu einer "Geschichte der Gefühle und der Vorstellungswelten" (13), womit der Bogen zur Körper- und Geschlechtergeschichte geschlagen wird. Kurz darauf erfährt man, dass die Demokratie vor allem "religiöse Wurzeln" habe, bevor dann final festgestellt wird: "Demokratie ist eine Utopie" (16). Auch 300 Seiten später hat die Autorin keine begriffliche Klarheit in ihr Verständnis von Demokratie gebracht. Als unterschiedliche "Quellen von Demokratie" sieht sie resümierend "etwa den Disziplinierungseffekt von Wahlen, um die Menschen an das große Nationalstaatsprojekt zu binden, oder die Exklusionskraft der demokratischen Inklusion, die zugleich die Misogynie des Nationalstaats beförderte" (316).
Zwischen Einleitung und Ausblick gliedert sich das Buch in fünf Kapitel (Eliten und Volk; Inklusion und Exklusion; Das bürgerliche Projekt: Mobilisierung und Beschränkung; Gewalt: Homogenisierung und Diversität; Demokratie nach dem Nationalsozialismus). Diese Kapitel bestehen aus einer chronologisch geordneten Aneinanderreihung - einem "Erzählplot" (17) - von ungefähr 1001 Lesefrüchten, die man alle irgendwo schon einmal gesehen hat. Da geht es um die Preußischen Reformen (die nicht wirklich erklärt werden) ebenso wie um den vormärzlichen Pauperismus und den Aufstand der schlesischen Weber (der als demokratisch motiviert missverstanden wird). Erwähnt werden die Sozialistengesetze, mit denen "alle Aktivitäten der Sozialdemokratie" (142) verboten wurden (was in dieser Pauschalität nicht stimmt, denn die Reichstagsfraktion der SPD bestand weiter und die Abgeordneten konnten ihr Mandat behalten und für Wahlen kandidieren). Ebenso erwähnt werden die sozialdemokratische "Trinkerfürsorge" und der Kampf gegen die Armut - alles Reformen, die "in erschreckend enger Verbindung" mit Rassismus und Eugenik standen (155; ohne dass dies näher erläutert oder der innere Zusammenhang erklärt würde). Im Hinblick auf den Ersten Weltkrieg erfahren wir von einer "intime[n] Nähe von Nationalismus und Demokratie" (175) und ebenso davon, dass sich die Nation "geradezu notwendig aus den Demokratisierungsprozessen" ergab (199). Inwiefern aber der "Geist von 1914" eine präzedenzlose "demokratische Integrationskraft" entwickelte und der Kriegsbeginn "eine unheimliche Gewalt von Demokratie" offenbarte (174 f.), wäre zumindest der näheren Erläuterung wert. Auch über die höchst anfechtbare These, im Krieg habe sich "die lebhafte Zivilgesellschaft" nicht stilllegen lassen (179), erfahren die Leserinnen und Leser nichts Näheres. Ferner geht es um die "egalisierenden Effekte des Kriegs", die sich für die Arbeiter und Arbeiterinnen "zumeist positiv bemerkbar" gemacht hätten (214). Da kann der Verweis auf den Achtstundentag nicht fehlen (wobei Richter unterschlägt, dass er schon 1923 zurückgenommen wurde; 214). Aber immerhin sorgten in der Weimarer Republik "Parlamentarierinnen aus unterschiedlichen Fraktionen" dafür, dass Kinder gut erzogen wurden (215), während man zugleich die Wohnungsnot bekämpfte und die Massenkultur sich weiterentwickelte (216).
Geradezu gruselig wird es jedoch, wenn sich die Autorin mit dem Nationalsozialismus zu befassen beginnt. Die Absenz jeder Begriffsschärfe, wozu hier auch eine mangelnde Auseinandersetzung mit Jacob Talmons These von der "totalitären Demokratie" gehört, verleitet die Autorin zu Formulierungen wie der vom "Nationalsozialismus und seiner totalen Demokratie, wie die Faschisten es nannten" (18). Der stupende Mangel an Quellen- und Literaturkenntnis sowie entsprechendem Problembewusstsein verrät sich auch dann, wenn vom Nationalsozialismus als einer "Simplifizierung von Volksherrschaft" (222) die Rede ist oder von einer "Akzentverschiebung bei den Urnengängen" im Jahr 1933 (236). Zwar verkennt Richter nicht, dass mit dem NS-Regime überall "die rohe Gewalt" hereinbrach (222). Gleichwohl "griff das NS-Regime auf die partizipativen und sogar auf die revolutionär-demokratischen Bestände zurück" (237). Am Ende stehen auch die dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte und mit ihnen der Nationalsozialismus in einem strukturellen Zusammenhang mit der Demokratie. "Der Nationalsozialismus entstand aus einer Demokratie und aus weit über hundert Jahre alten demokratischen Traditionen" (325 f.). Dies ist ein unsäglicher Satz, selbst wenn ihn Richter mit dem Zusatz versieht, dass auch Demokratien "kein definitiver Schutz gegen den Absturz in Terror und Verbrechen" seien (326). Wieweit sich alle diese in der Sache meist verkürzten und häufig missverstandenen Versatzstücke aus 200 Jahren deutscher Geschichte aufeinander beziehen und in welchem analytischen Zusammenhang sie stehen, bleibt der Phantasie der Leserinnen und Leser überlassen. Dass die Autorin den Fluchtpunkt ihrer Lesefrüchte in der Demokratie sieht, ändert daran nichts. Denn offenkundig weiß sie nicht, worüber sie schreibt.
Bereits aus dem Begriffswirrwarr der Einleitung [1] geht hervor, warum die Autorin im weiteren Verlauf immer wieder grundlegenden Verwechslungen unterliegt. Konzeptionell und gedanklich zerstörerisch wirkt die durchgängige Verwechslung zweier grundsätzlich zu unterscheidender Demokratie-Begriffe: Einerseits bildete sich Demokratie seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts als offener Bewegungs-, Hoffnungs- und Erwartungsbegriff heraus. In dem Maße, in dem er an Diskursmacht gewann, nahmen selbstverständlich auch Liberale, Konservative und Demokratiefeinde regelmäßig darauf Bezug. Das hieß aber noch lange nicht, dass sie damit Teil einer demokratischen Tradition wurden. Andererseits - und damit längst nicht deckungsgleich - meint Demokratie eine konkrete Regierungsform, über deren konkrete Ausgestaltung etwa im Sinne repräsentativer oder direkter Demokratie zu sprechen wäre. Richter ignoriert diese Bedeutungsdifferenzen systematisch, was einen Großteil der Verwirrung erklärt. So verwechselt sie regelmäßig soziale Gleichheit mit der Gleichheit vor dem Gesetz und damit ebenso regelmäßig radikal-demokratische und aufklärerisch-liberale Entwicklungsstränge. Leicht hätte sie die Differenz bemerken können, wenn sie ihre Lesefrüchte etwas länger hätte reifen lassen. Zum Beispiel erscheint Immanuel Kant in den zitierten Schriften "Zum ewigen Frieden" und "Metaphysik der Sitten" als Fürsprecher der Demokratie, so etwa wenn er die "gesetzgebende Gewalt [...] nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen" lässt. Dabei erkennt Richter Kants Unterscheidung von Republikanismus und Demokratie nicht, welch letztere er bekanntlich (gegen Rousseau) als "Despotism" verwirft. Auch bleiben Kants Qualifizierungen aus der "Metaphysik der Sitten" ausgeblendet, in denen er die Fähigkeit der Stimmgebung an die geistige und materielle Selbständigkeit koppelt und daher "aktive" und "passive" Staatsbürger unterscheidet. Letzteren spricht er jedes Wahlrecht ab.
Ebenso systematisch verwechselt Richter konservative Sozialpolitik und Armutsbekämpfung mit Demokratie. Auch diesen Irrtum hätte sie leicht vermeiden können, wenn sie zum Beispiel "den bemerkenswerten Staatssekretär des Innern, Arthur von Posadowsky-Wehner" (150), nicht nur in seiner Aktivität als Sozialpolitiker, sondern auch als DNVP-Fraktionsvorsitzenden in der Weimarer Nationalversammlung betrachtet hätte, wo er die neue Demokratie nach Kräften bekämpfte. Noch weitaus ärgerlicher ist die ständige Verwechslung von Wahlen und Demokratie. Ob napoleonische Plebiszite oder preußische Magistratswahlen, amerikanische Kongresswahlen oder preußische Landtagswahlen nach Dreiklassenwahlrecht, deutsche Reichstagswahlen oder "Wahlen" unter dem Nationalsozialismus oder in der DDR: Stets geht es weitgehend kontextlos irgendwie um Demokratie und ihre Geschichte. Dass dabei die beiden Bedeutungen von Volk im Sinne von Demos und Ethnos unberücksichtigt bleiben (199), überrascht dann nicht mehr.
Wenig hilfreich sind auch die vier "Thesen", mit denen die Autorin versucht, ihren Stoff zu profilieren. Die erste - "Demokratiegeschichte ist nicht immer, aber häufig ein Projekt von Eliten" und den Reformen, die von ihnen angestoßen werden (11 f.) - bleibt solange nebulös, wie der Elitenbegriff nicht genauer bestimmt und die konkreten Reformkonstellationen nicht analysiert werden. Beides bleibt Richter aber im weiteren Verlauf schuldig. Die zweite These - "Demokratiegeschichte ist immer auch die Geschichte ihrer Einschränkung" (13) - ist banal. Sie wird allerdings geradezu falsch, wenn - wie es hier geschieht - gewaltsam antidemokratische Kräfte wie die Diktaturen des 20. Jahrhunderts aktiv in eine solche Demokratiegeschichte einbezogen werden. Die dritte These schließlich lautet, Demokratiegeschichte sei "wesentlich eine Geschichte des Körpers, seiner Misshandlung, seiner Pflege, seines Darbens - und seiner Würde" (13). Sie wird in nicht selten merkwürdigen Formulierungen immer wieder in dem Buch aufgenommen, aber nicht systematisch entfaltet. Die vierte These definiert Demokratiegeschichte als internationale Geschichte, und zwar als Geschichte des nordatlantischen Raums. Diese "alte Einsicht" (15) verfälscht Richter aber, indem sie zwischen den einzelnen Räumen der Demokratie und ihren spezifischen historischen Kontexten nicht differenziert. So springt sie immer wieder zwischen Deutschland und Westeuropa, den amerikanischen Südstaaten, wo es die Sklaverei gab, und den europäischen Kolonialgebieten.
Sofern sie nicht begriffsverwirrender Art sind, lassen sich die genannten Thesen auf drei Kernaussagen reduzieren. Erstens wird die deutsche Geschichte als lineare Demokratiegeschichte konstruiert. Als solche inkludiert sie auch die vielen Gegenkräfte zur Demokratie bis hin zu ihrer gewaltsamen Einschränkung oder Beseitigung durch die Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Damit geht jede Präzision der Unterscheidung zwischen Demokratie und Demokratiefeindschaft verloren. Das zeigt sich auch in den Ausführungen über das Kaiserreich. Hier hätte Richter ihre erste These von der Demokratie als Elitenprojekt ja durchaus testen können, zumal sie jeden Gedanken an eine deutsche Sonderentwicklung zurückweist (263). Kundige Leserinnen und Leser würden allerdings erwarten, einmal etwas über das der deutschen Geschichte eigentümliche "monarchische Prinzip" zu erfahren, von dem Richter jedoch nichts weiß. Dagegen folgt sie undifferenziert einer linearen Parlamentarisierungsthese, wie sie in der Forschung schon längst nicht mehr vertreten wird. Nur in einem solchen Kontext lässt sich dann auch ausgerechnet Heinrich von Treitschke als Kronzeuge der Demokratisierung benennen (128 f.). Die preußisch-antidemokratische Hegemonie, zementiert durch Dreiklassenwahlrecht und Bundesrat, wird systematisch unter-, der Einfluss des Reichstags dagegen überschätzt. Dass sich im Bereich des Militärs (weitgehende Entparlamentarisierung des Militärbudgets, kaiserliche "Kommandogewalt") spätabsolutistische Elemente verfestigten, wird geleugnet (134). Hierüber mag man freilich noch kontrovers diskutieren. Falsch ist aber Richters Behauptung, "1918 gelang den progressiven Kräften, wesentlich forciert durch die Sozialdemokratie, mit den 'Oktoberreformen' ein Akt der verfassungsrechtlichen Demokratisierung" (191). Denn sie unterschlägt die Rolle der Obersten Heeresleitung. Für die kaiserlichen Eliten war Demokratie eben keineswegs ein "Projekt" für das zu disziplinierende Volk. Vielmehr wehrten sie sich energisch und bis zum letztmöglichen Augenblick gegen die Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts und die Parlamentarisierung des Reiches. Am Ende leitete allein Ludendorffs rein taktisch motivierter Befehl die Oktoberreformen ein, die überdies völlig wirkungslos verpufften. Denn der Reichstag trat nicht einmal mehr zusammen, um die Früchte seiner neuen Position in der Verfassung des Kaiserreiches zu ernten. Nicht die Reform, wie Richter meint, ermöglichte die Demokratie, sondern die Revolution.
Die zweite Kernaussage korrespondiert mit der dritten These, wonach Demokratiegeschichte wesentlich Körpergeschichte sei. Hier soll nicht weiter von eher sinnfreien Sätzen die Rede sein wie zum Beispiel: "Die durch den Körper konstruierte Differenz zwischen vollberechtigten Bürgern einerseits und Menschen, die nicht im Vollbesitz bürgerlicher Rechte waren, andererseits sorgte auch für Ungleichheiten im Hinblick auf die Hautfarbe der Menschen oder auf ihr Alter." (107) Wichtiger ist das unverkennbare Bemühen, die Geschichte des Körpers ebenfalls als Teil einer demokratischen Fortschrittsgeschichte darzustellen. Indes fehlt erneut jeder analytische Ansatz. Sofern mit Körpergeschichte die Person gemeint ist, gehört das Thema in die Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte, die Richter aber weitgehend auslässt. Ersetzt wird dies durch wohlbekannte Aperçus zur wachsenden Verfügungsmacht der Frauen über ihren Körper sowie zum steigenden politischen Einfluss der Frauen. Beides ist keineswegs dasselbe, wird aber munter durcheinander gewürfelt (25 ff., 98 f., 106 f., 251). Deshalb muss am Ende auch die Erfindung der Pille für die Vernebelung des Themas herhalten. Mit ihr konnten Frauen "mehr als je zuvor über ihren Körper und damit über ihr Leben bestimmen". Zwar brachte die Pille "nicht automatisch die Emanzipation"; aber sie erleichterte den Frauen den Alltag und passte damit "gut in die neuen Zeiten und in die sich wandelnden Wert- und Glücksvorstellungen". Damit wendet Richter das Thema ohne weitere Reflexion affirmativ-konsumgeschichtlich in dem Sinne, dass die sinkende Fertilitätsrate und die steigende Bildung der Frauen mehr Wohlstand ermöglichten (294-296). Die von feministischer Seite hieran geäußerte, antikapitalistisch grundierte Kritik wird demgegenüber pauschal als "antibürgerlich, antiklerikal, antiwestlich" sowie "antiparlamentarisch und antiplural" zurückgewiesen (293). Dem so wichtigen und aktuellen Forschungsfeld Demokratie und Geschlecht leistet Richter mit solchen rein plakativ-holzschnittartigen Versatzstücken ohne begrifflich-analytischen Anspruch einen Bärendienst.
Die dritte Kernaussage resultiert aus den beiden vorigen: Männliche Reform-Eliten und sich emanzipierende Frauen sind für Hedwig Richter die entscheidenden Subjekte einer linear-fortschrittlichen, transnational-nordatlantischen Demokratiegeschichte. In sie fügt sich Deutschland in Form einer "selbstverständliche[n] Einbettung" ein (16). Einen "langen deutschen Weg in die NS-Diktatur und den Holocaust" habe es dagegen ebenso wenig gegeben wie eine deutsche "demokratische Sondergeschichte" (325). Dies ist irreführend und in der Wirkung schlicht apologetisch. Tatsächlich spielt Richter jenen neo-nationalistischen Kräften in die Hände, die die deutsche Geschichte gerne im Sinne einer gerade im internationalen Vergleich harmlos-demokratischen Linearität umschreiben würden. Auch ganz direkt reicht sie ihnen die Hand, wenn sie resümiert, dass "Deutschland zumeist ein recht gewöhnlicher Fall der Demokratiegeschichte war". "Die deutsche Geschichte ist kein Weg in den Westen, Deutschland war stets ein Teil des Westens - als einer imagined community von Zivilität, in der Herrschaft für das Volk und irgendwie [sic!] auch durch das Volk da sein sollte." (325) Warum sie diese Geschichtsklitterung ausgerechnet mit einem Pauschalverweis auf Heinrich August Winklers "Langen Weg nach Westen" belegt, bleibt Richters Geheimnis.
Eigentlich wäre ein solches Buch nicht so vieler Worte wert, wenn es nicht in den Medien als eine der bedeutsamsten Neuerscheinungen auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaften gefeiert worden wäre. Einer seiner Sätze lautet: "Nimmt man die Geschichte ernst, dann sieht es gut aus mit der Demokratie." (315) Leider drängt sich der Umkehrschluss auf: Richters durch und durch unseriöses Buch und seine öffentliche Rezeption lassen befürchten, dass es mit der intellektuellen Selbstverständigung über Demokratie hierzulande nicht gut aussieht. Tatsächlich unterschreitet Hedwig Richter systematisch all jene wissenschaftlichen Standards, die ihre Kolleginnen und Kollegen in ihren Proseminaren den Studierenden zu vermitteln suchen. Dass ein solches Buch von einem der renommiertesten deutschen Verlage herausgebracht und von einem weitgehend unkritischen Feuilleton [2] für erhellend, preiswürdig, ja als "Bildungserlebnis" [3] betrachtet wird, ist ein Alarmzeichen für das Qualitätsbewusstsein von Teilen des Kulturbetriebs, streift die Grenze zum Skandalösen und hat das Zeug zu einer deutschen Affäre.
Anmerkungen:
[1] Ein solcher kennzeichnet übrigens auch Richters Habilitationsschrift, aus der der vorliegende Band über weite Strecken schöpft. Vgl. Hedwig Richter: Moderne Wahlen. Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert, Hamburg 2017, sowie die Rezension von Thomas Mergel in: Neue Politische Literatur 64 (2019), 585-589.
[2] Vgl. aber positiv sich abhebend: Elke Schmitter: Steile Thesen, fromme Phrasen, in: Spiegel online, 4.9.2020; https://www.spiegel.de/kultur/hedwig-richter-und-ihre-erstaunliche-medienkarriere-steile-thesen-fromme-phrasen-a-00000000-0002-0001-0000-000172863276 (letzter Zugriff: 22.02.2021), und Franziska Augstein: Körper, Kummer, in: Süddeutsche Zeitung, 3.11.2020.
[3] So https://www.swrfernsehen.de/lesenswert/kristof-magnusson-hedwig-richter-102.html (letzter Zugriff 22.02.2021).
Andreas Wirsching