Christina Morina: Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren, München: Siedler 2023, 400 S., 5 s/w-Abb., ISBN 978-3-8275-0132-5, EUR 28,00
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Rudolf Boch / Rainer Karlsch (Hgg.): Uranbergbau im Kalten Krieg. Die Wismut im sowjetischen Atomkomplex. Band 1: Studien, Berlin: Ch. Links Verlag 2011
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Franka Maubach / Christina Morina (Hgg.): Das 20. Jahrhundert erzählen. Zeiterfahrung und Zeiterforschung im geteilten Deutschland, Göttingen: Wallstein 2016
Detlef Lehnert / Christina Morina (Hgg.): Friedrich Engels und die Sozialdemokratie. Werke und Wirkungen eines Europäers, Berlin: Metropol 2020
Mit der friedlichen Revolution 1989 begann in der DDR ein Prozess der Selbstermächtigung und Selbstdemokratisierung. Erstmals war eine offene und breite Diskussion über die ordnungspolitischen Zukunftsvorstellungen der Bürgerinnen und Bürger möglich, die von vielen als Akt der Befreiung empfunden wurde. Das zeigte sich nicht nur bei den Demonstrationen auf den Straßen, sondern auch in den volkseigenen Betrieben (VEB). Die Volkskammerwahl vom 18. März 1990, aus der die CDU für viele überraschend als Sieger hervorging, stellte eine Zäsur dar und wurde bereits zeitgenössisch als Plebiszit gegen eine reformierte DDR und für eine rasche Vereinigung Deutschlands nach westdeutschem Vorbild interpretiert. 35 Jahre später überwiegen in der öffentlichen Debatte über den Zustand der sogenannten inneren Einheit die Kritikpunkte: Dazu zählen etwa das nach wie vor bestehende Wohlstands- und Lohngefälle zwischen West- und Ostdeutschland, die niedrigen Renten im Osten, aber auch die fehlende Repräsentanz Ostdeutscher in den Funktionseliten. Die stecken-gebliebene Verfassungsdebatte Anfang der 1990er Jahre wird mittlerweile als verpasste Chance gedeutet. Wie ist dieser Widerspruch vor dem Hintergrund des zunehmenden Erfolgs von Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus in Deutschland zu erklären?
In ihrer Studie, die den Deutschen Sachbuchpreis 2024 erhielt, erhebt Christina Morina den Anspruch, "erstmals das Wesen und den Wandel des Demokratie- und Bürgerselbstverständnisses der Deutschen in Ost und West für die Zeit sowohl vor als auch nach der Zäsur von 1989" zu untersuchen (13). Sie hat nach eigenen Worten eine "Demokratiegeschichte seit den 1980er Jahren" vorgelegt, die sich als Beitrag "zu einer politischen Kulturgeschichte 'von unten'" versteht (19). Als Quellengrundlage dienen Ego-Dokumente und anderes Schriftgut von Bürgerinnen und Bürgern aus West- und Ostdeutschland. Darunter befinden sich z.B. Briefe an die Bundespräsidenten Karl Carstens und Richard von Weizsäcker aus dem Bundesarchiv Koblenz, aber auch Bürgerpost an die ostdeutsche Staats- und Parteiführung, die vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) abgefangen wurde, sowie an das Neue Forum adressierte Petitionen, Flugschriften und Unterschriftensammlungen. Morina, die auf eine breite Forschung zum DDR-Eingabewesen zurückgreifen kann, betont in ihrer Einleitung, dass sie die Bürgerpost nicht vergleichend analysiert und auch keinen Anspruch auf Repräsentativität erhebt. Sie interessiert sich vielmehr für die in den Dokumenten zum Ausdruck kommenden "Vorstellungen von Demokratie, (Staats-)Bürgersein, Partizipation und Repräsentation". (18) Dem grundsätzlichen Problem, dass während der Zeit der deutschen Teilung unterschiedliche Auffassungen über Demokratie in Ost und West bestanden, weicht die Verfasserin aus, indem sie dafür plädiert, im Fall der DDR von einer "Demokratieanspruchsgeschichte" zu sprechen (27). Was sie darunter genau versteht, lässt sie weitestgehend offen.
Das Buch ist chronologisch gegliedert und besteht aus fünf Kapiteln. In den ersten beiden beschäftigt sich Morina mit den Bürger- und Demokratieverständnissen in den 1980er Jahren in beiden deutschen Staaten und betont zunächst die Unterschiede. Auf der Basis der ausgewerteten Korrespondenzen identifiziert sie für die Bonner Republik drei Idealtypen: "de[n] Wahlbürger, de[n] Steuerbürger und de[n] dem Staate dienende[n] Bürger". (49) Dagegen stellt sie für die DDR drei gänzlich andere Bedeutungsebenen fest: "Bürgersein wurde hier [...] auf den 'Menschen' verhandelt, dann auf der Funktionsträgerebene [...], und erst in dritter Instanz verstand und äußerte man sich als 'Einwohner' oder 'Bewohnerin der DDR'". (63) An dieser Stelle vermisst man eine quellenkritische Einordnung: Was bedeutete es für die Eingaben in der DDR, dass ihre Verfasser nach dem Mauerbau 1961 keine Exit-Option mehr hatten? Da sich ein Großteil der zitierten Eingaben auf gestellte Ausreiseanträge bezog, erscheint die Schlussfolgerung, dass auch die Menschen in der DDR "den Anspruch erhoben, mitregieren zu können" (78), wenig überzeugend. Morina betont, dass die von ihr untersuchten Briefe für Westdeutschland eine große inhaltliche Bandbreite aufweisen - von den Bundestagswahlen, über das Vermummungsverbot und die Volkszählung bis hin zu Ausländerfeindlichkeit und Asylrechtsfragen. Einen großen Raum nehmen in der Darstellung die Protestbriefe gegen die gefälschte Kommunalwahl in der DDR am 7. Mai 1989 ein, die zweifellos ein Schlüsselereignis für die friedliche Revolution im Herbst war. Da die Briefe unterschiedliche Schwerpunkte in Ost und West illustrieren, die primär mit den Rahmenbedingungen der jeweiligen politischen Ordnung zusammenhängen, gelangt die Autorin zu der wenig überraschenden Schlussfolgerung: "Im Westen wird Demokratie als staatliche Ordnung und alltägliche Praxis verhandelt, im Osten als staatliches Postulat und alltägliche Utopie". (93)
Im dritten Kapitel geht die Verfasserin ausführlich auf die vielfältigen Ideen und Vorstellungen ein, die im Herbst 1989 aus der ostdeutschen Bevölkerung kamen und die in Westdeutschland durchaus rezipiert wurden. Morina betont zu Recht nicht nur das breite Spektrum an Politik- und Gesellschaftsvorstellungen, die darin zum Ausdruck kamen, sondern auch die Offenheit der Entwicklung: Es ging "in erster Linie um ein Aufbrechen der bestehenden Ordnung, während für ein systematisches Nachdenken über die Gestalt einer zukünftigen Ordnung naturgemäß zunächst wenig Raum blieb". (145) Darüber hinaus bestätigt sie, dass es in den programmatischen Texten der DDR-Opposition um "Demokratie als eine Frage der Bürgerbeteiligung ging". (149) Dabei wurden aber auch antiparlamentarische und nationalistische Töne laut. So verweist Morina auf eine Denkschrift einer Bürgerinitiative Deutsche Friedensbewegung aus der Nähe von Stendal, in der gefordert wurde, "das Deutschtum mehr in den Vordergrund" zu stellen (154). Einzelne Flugblätter verdeutlichen wiederum die Frustration über den Ausgang der freien Volkskammerwahl von 1990. Unter Verweis auf den ersten Satz des Gründungsaufrufs des Neuen Forums vom September 1989 erklärten vier Mitglieder einer Leipziger Oppositionsbewegung rund acht Monate später: "In unserem Land ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört". (165) Sie beklagten, das Volk werde in politische Entscheidungsprozesse immer noch nicht einbezogen.
Das vierte Kapitel geht der Frage nach, wie sich die 1989/90 artikulierten Demokratievorstellungen langfristig im vereinten Deutschland auswirkten. Morina beschreibt zunächst die öffentliche Debatte über die Hauptstadtfrage und untersucht dafür auch Eingaben an den Bundespräsidenten aus der Bevölkerung, von denen interessanterweise "nicht einmal jede zehnte aus dem Osten" kam (196). Anders sah es bei den Eingaben an den Petitionsausschuss des Bundestages aus: Hier war der Anteil ostdeutscher Petitionen überproportional hoch. Warum die Verfasserin in dem Zusammenhang eine "demokratische Erschöpfung" (197) konstatiert, erschließt sich dem Leser nicht ganz. Anschließend würdigt sie die Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat (GVK), die zwischen 1992 und 1994 Fragen einer gemeinsamen Verfassung diskutierte und "etwa eine Million Menschen" (223) zu Eingaben animierte. Von den rund 800.000 eingegangenen Zuschriften sind etwa 3.500 im Parlamentsarchiv überliefert, wobei sich die Auswahlkriterien nicht mehr rekonstruieren lassen. Morina unterstreicht, dass nur in den ostdeutschen Landesverfassungen erweiterte soziale Grundrechte und plebiszitäre Verfahrenswege verankert worden seien. Auf die ostdeutschen Impulse bei der Abschaffung des § 175 StGB oder bei der Reform des § 218 StGB geht sie indes nicht ein.
Das letzte Kapitel - den "Ambivalenzen der Demokratie in der Ära Merkel" (241) und dem Aufstieg der Alternative für Deutschland (AfD) gewidmet - ist der analytisch schwächste Teil des Buches, da er über bereits bekannte, feuilletonistische Beobachtungen nicht hinausgeht. Morina hinterfragt gängige Narrative nicht, die ex post einen fast nahtlosen Kausalzusammenhang zwischen der Vereinigungskrise (Jürgen Kocka) und dem Erstarken des Rechtspopulismus und -radikalismus suggerieren. Wie erklärt sich dann die Tatsache, dass es zunächst der PDS rasch gelang, sich als ostdeutsche Protestpartei in den 1990er Jahren zu etablieren? Weitere Fragen schließen sich an: Welche Rolle spielten die Montagsdemonstrationen nach 1990? Wie sahen die Trägerschichten dieser Proteste aus und wie wandelten sie sich? Wie veränderten sich die Inhalte der Proteste? Welche Rolle spielten gesamtdeutsche Netzwerke im rechtsradikalen Milieu? Wie reagierte die Zivilgesellschaft darauf? Kurzum: Eine innovative, quellengesättigte Protestgeschichte für die Berliner Republik ist erst noch zu schreiben.
Christina Morina hat zweifellos ein wichtiges Buch vorgelegt. Die Frage nach gesellschaftlicher Partizipation in politischen Entscheidungsprozessen ist derzeit von hoher Relevanz. Dennoch wäre ein stärker systematisierender Zugriff wünschenswert gewesen. Stattdessen erscheinen die einzelnen Denkschriften, Petitionen und Bürgerbriefe weitgehend lose aneinandergereiht. Der von ihr verwendete Demokratiebegriff bleibt diffus. Die häufige Verwendung der Begriffe "Demokratie" und "(volks)demokratisch" in offiziellen Dokumenten des SED-Regimes sagt noch nichts über deren Inhalte und Aneignung in der ostdeutschen Bevölkerung aus. Morina stellt zwar mit guten Gründen die Vielfalt der Vorstellungen ostdeutscher Bürgerinnen und Bürger heraus. Dadurch werden aber die Konfliktlinien innerhalb der ostdeutschen Gesellschaft verdeckt: etwa zwischen der Bürgerrechtsbewegung und den Intellektuellen auf der einen und der massenhaften Protestbewegung auf der anderen Seite. Daraus ließe sich vermutlich auch das Desinteresse an einer gemeinsamen Verfassung in breiten Bevölkerungskreisen Ostdeutschlands erklären, die Anfang der 1990er Jahren primär mit Alltagssorgen und den Folgen der politischen und sozio-ökonomischen Umbrüche zu kämpfen hatten.
Dierk Hoffmann