Detlef Lehnert / Christina Morina (Hgg.): Friedrich Engels und die Sozialdemokratie. Werke und Wirkungen eines Europäers (= Historische Demokratieforschung; Bd. 18), Berlin: Metropol 2020, 335 S., ISBN 978-3-86331-554-2, EUR 24,00
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Friedrich Engels ist ein historiographisches Phantom. Man bekommt diese Figur nicht recht zu packen - vor allem gilt dies für die ältere Forschungsliteratur, die sich dem Mitbegründer des Marxismus unter den Vorzeichen des Kalten Krieges widmete und ihn den Konflikten jener Jahre in ihren Betrachtungen nie ganz entreißen konnte. Es ist also kein Zufall, dass - wie Detlef Lehnert und Christina Morina in ihrer ausführlichen Einleitung zum hier besprochenen Sammelband betonen, zum Beispiel die zweibändige Engels-Biographie von Gustav Mayer aus dem Jahre 1934, nach wie vor als Standardwerk den nachfolgenden Forschungen mit Gewinn gegenübergestellt werden kann.
Vor dem Ost-West-Konflikt war Friedrich Engels, der historische Akteur, seinen Biographen noch näher, als später Friedrich Engels das Vorbild, die Symbolfigur, es sein konnte. Wie nun aber dem Phantom Engels erfolgreich nachstellen? Die von den Herausgebern und den Autorinnen und Autoren gewählte multiperspektivische Herangehensweise ist durchaus begrüßenswert, hilft sie doch anzuerkennen, dass die vielen Facetten und ganz unterschiedlichen Wirkungen eines Friedrich Engels gar nicht unter eine bestimmte Kategorie gefasst werden müssen. Das mag unbefriedigend erscheinen, gelingt aber in "Friedrich Engels und die Sozialdemokratie. Werke und Wirkungen eines Europäers" außerordentlich gut. Besonders hervorzuheben sind hierbei Beiträge, die bisher unterbelichtete Elemente in Friedrich Engels' Leben in den Fokus rücken.
Peter Steinbach etwa zeigt in seinem Beitrag "Bonapartismus - Cäsarismus - Parlamentarismus. Engels' Analysen des Deutschen Kaiserreichs", wie sehr Engels als Zeithistoriker in Vergessenheit geraten ist. Dessen "Mut zum Urteil und damit auch zum Fehlurteil" (77) habe, so Steinbach, Engels ausgezeichnet und ihm ermöglicht, einige Vorhersagen zu machen, die aufgrund ihrer zutreffenden politisch-analytischen Grundlage dann auch tatsächlich in ähnlicher Form eintraten - wie etwa die sozialdemokratische Zustimmung zu Kriegskrediten im Fall eines großen europäischen Krieges.
Eng verbunden ist dieser Aspekt des Engelschen Wirkens mit dessen Vorliebe für die Beobachtung internationaler politischer Entwicklungen. Diese hat Peter Brandt in seinem Beitrag untersucht und bietet somit einen Parforceritt durch die außenpolitischen Brennpunkte Europas im neunzehnten Jahrhundert, die Engels beschäftigten. Dabei war neben dem Thema "Bonapartismus" die Bedrohung durch das Zarenreich ein Dauerbrenner. Brandt sieht eindeutig eine über die Zeit zunehmende Tendenz von Engels, dem Kapitalismus eine höhere Widerstandsfähigkeit gegenüber seinen selbst geschaffenen Widersprüchen beizumessen. Hier traten in der Analyse nicht selten politische Phänomene in den Vordergrund, die wie eben die Bonapartismus-These das Überleben eigentlich überholter Systeme in den Vordergrund stellen sollten. Dem Rezensenten scheint es, als hätte Engels im Vergleich zu Marx eine weniger klar umrissene Trennung von Politik und Ökonomie vor Augen gehabt, wenn er sich in die Tagespolitik einmischte - was vielleicht seinen Einfluss als Ratgeber für die deutsche Sozialdemokratie erklären hilft.
Eine gewisse ideologische Flexibilität war Engels jedenfalls zu eigen, wie sich im Beitrag von Samuel Salzborn sehr gut anhand von dessen Staatsverständnis zeigt, welches den "materialistischen Anspruch" in der Staatstheorie "letztlich nicht eingelöst" hatte (222). Salzborn nimmt Engels als eigenständigen Theoretiker erfrischend ernst. Wenn aber die Sicht auf den Staat und dessen Politik keine rein wissenschaftliche war, ja vielleicht gar nicht sein konnte, dann boten sich hier Spielräume für Engels, der sich ja mit seiner historisch-materialistischen Herangehensweise einen wissenschaftlichen Anstrich geben konnte, den er gleichzeitig aber nicht konsequent einhalten musste - weil seine Autorität in sozialistischen Kreisen unerschütterlich war. In diesem Zusammenhang lässt sich auch Christina Morinas Beschreibung von Friedrich Engels als Mittlerfigur zwischen Marx und der Arbeiterbewegung in ihrem Beitrag verstehen. Diese Stellung war sicherlich auch eine Art Emanzipation von Marx für Engels, der sich - wie Jan Gerber in seinem Beitrag "Die große Symbiose: Marx und Engels in Paris" beschreibt, ja in früheren Zeiten noch näher bei Marx befand, als dies die halbwegs neutrale Position des Mittlers, wie sie Morina beschreibt, voraussetzt.
Vielleicht kann man, wenn man Eduard Bernsteins Anleihen bei Engels nachvollzieht, wie Detlef Lehnert dies sehr eindrucksvoll mit seiner Analyse gelingt, auch davon sprechen, dass die den vielfachen Herausforderungen der Moderne wohl angemessenere Flexibilität im Denken über und im Umgang mit politischen Fragestellungen, die in Engels angelegt war, erst bei dessen Erben voll zum Ausdruck kam. Wenn, wie Wilfried Nippel zeigt, Engels' Erbe und dessen politisches Testament hoch umstritten zwischen den Parteiflügeln war und viele Jahrzehnte später noch um die "richtige" Deutung von Engels gestritten wurde, ja sogar von Fälschungen durch die "revisionistischen Schurken" die Rede war (216), zeigt sich, dass im Nachhinein die vielschichtige Persönlichkeit eines Friedrich Engels nicht mehr ideologisch konsistent einzufangen war. Das gilt auch für den Einfluss einzelner Schriften, wie Anna Strommenger sehr gut in ihrem Aufsatz zu Engels' Befassung mit der Wohnungsfrage belegt. Da dieses Politikfeld sich besonders gut für reformistische Sozialistinnen und Sozialisten als Hebelpunkt für Verbesserungen im Hier und Jetzt eignete, wurde Engels' Bezugnahme darauf als Beleg für die Richtigkeit der eigenen Auffassungen angeführt. Diese Entwicklung ging aber so weit, dass der Hinweis auf Engels am Ende nicht mehr inhaltlich, sondern nur noch als "traditionalistisches Moment" erfolgte (264) - somit hatte sich hier der wissenschaftliche Anspruch schon nach relativ kurzer Zeit verflüchtigt.
Dass Engels allerdings nicht nur ein genauer Beobachter der internationalen Politik war, vor allem wenn es um den Umgang mit den eigenen Vorurteilen ging, das belegt überzeugend Jakub Beneš. Die von Engels getroffene Unterscheidung zwischen Nationen mit und ohne Geschichte zeitigte aus der Perspektive von Beneš schwerwiegende Folgen. Diese auf Hegel zurückgehende Annahme bedeutete im Ergebnis, dass das als Einheit betrachtete Volk der Slawen die geschichtliche Rolle des Konterrevolutionärs zugewiesen bekam. Die Austromarxisten sahen diese Frage weitaus fortschrittlicher und waren vergleichsweise unbelastet von negativen Vorurteilen. Für Friedrich Engels hingegen blieb Österreich "das deutsche China" (267), wie Uli Schöler nachzeichnet.
Der Beitrag schließt mit zwei biographischen Beziehungsgeschichten. Stefan Weise widmet sich der Auseinandersetzung von Karl Korsch mit Engels und versucht Korschs kritische Haltung gegenüber einer vermeintlichen Verwischung der marxschen Differenziertheit aufzuzeigen, wohingegen Mario Kessler in seinem Beitrag den weitestgehend übersehenen ethischen Sozialismus des Moses Hess beleuchtet, der bis heute allerdings vor allem als sozialistischer Zionist in Erinnerung geblieben ist. Beide Figuren, Hess wie auch Korsch, scheinen aber insgesamt weniger Relevanz für das Verständnis des Engelschen Werkes zu haben, was den Informationswert der Beiträge jedoch nicht schmälert.
Insgesamt bietet der Band weniger eine Einführung in das Werk von Friedrich Engels, sondern mehr eine Sammlung von Anknüpfungspunkten für Forschungen, die sich für die konkreten politischen Auswirkungen seines politischen Denkens interessieren. Damit ist ein großer Schritt hin zu einer weiteren Historisierung des politischen Akteurs Friedrich Engels gemacht, die weniger nach dessen Vorbildlichkeit und mehr nach seinen - wie es im Titel des Bandes treffend heißt - "Werken und Wirkungen" fragt.
Anmerkung:
[1] Gustav Mayer: Friedrich Engels. Eine Biographie, 2 Bände, Köln 1971 [1934].
Lino Schneider-Bertenburg