Matthias Stangel: Die Neue Linke und die nationale Frage. Deutschlandpolitische Konzeptionen und Tendenzen in der Außerparlamentarischen Opposition (APO), Baden-Baden: NOMOS 2013, 638 S., ISBN 978-3-8487-0321-0, EUR 99,00
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Ehemalige Exponenten der APO wie Horst Mahler und Bernd Rabehl, die inzwischen ins rechtsextremistische Lager abgerutscht sind, haben schon vor längerer Zeit Diskussionen über "nationale" Tendenzen in der 68er-Bewegung angestoßen. Insbesondere Rudi Dutschke, die Ikone der Studentenrevolte, wurde von seinem Freund und Weggefährten Rabehl zum "Nationalrevolutionär" stilisiert. Im Schlepptau dieser, vor allem von ehemaligen APO-Protagonisten geführten Diskussionen ist das Thema inzwischen zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung geworden. In diesem Zusammenhang steht - neben der Potsdamer Dissertation von Manuel Seitenbecher [1] - die hier zu besprechende, an der Universität Bonn entstandene Doktorarbeit von Matthias Stangel.
Der Autor holt weit aus, bevor er zu seinem eigentlichen Thema kommt. Fast 50 Seiten widmet er den deutschlandpolitischen Konzeptionen von SPD und KPD nach 1945 und gut 25 Seiten allein der Rolle von Ernst Niekisch. Der Hauptvertreter des "Nationalbolschewismus" der Weimarer Zeit war in den 1960er Jahren Förderer und Mentor des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) und wurde von den jungen APO-Aktivisten wohl vorwiegend aufgrund seiner Widerstandsbiographie verehrt. Ein ideologischer Einfluss auf die Studentenbewegung, gar im linksnationalistischen Sinn, ist aber noch nicht einmal im Ansatz erkennbar. "Seine genaueren, politischen Zielsetzungen wurden entweder ausgeblendet, waren nicht bekannt oder passten nicht mehr in die gewandelte Agenda der politischen Linken", muss Stangel feststellen (121).
Der Autor diskutiert auch (scheinbare) ideologische Berührungspunkte zwischen der extremen Rechten und der Neuen Linken, die mit der "nationalen Frage" in keinem direkten Zusammenhang stehen, insbesondere die sich ähnelnden voluntaristischen und dezisionistischen Tendenzen. Umfassende empirische Belege für die in diesem Zusammenhang zuweilen unterstellte Bedeutung der Rezeption von Carl Schmidt ließen sich jedoch ebenfalls nicht finden.
Kernstück der Studie sind drei große Kapitel, in denen der Autor die Entwicklung der deutschlandpolitischen Vorstellungen im SDS, die "nationalen Elemente" im Denken Rudi Dutschkes und die deutschlandpolitischen Positionen des deutschen Maoismus behandelt. Nachdem die SPD ihren ehemaligen Studentenverband mit dem Unvereinbarkeitsbeschluss vom Oktober 1961 verstoßen hatte, setzte der SDS zunächst deutschlandpolitisch auf "Anerkennung der Realitäten" und antizipierte damit im Grunde nur den Weg, den die ehemalige Mutterpartei später selbst einschlug. Der SDS knüpfte Beziehungen zur FDJ und geriet dabei in den Sog der SED-Politik, zumal es einzelne SDS-Gruppen gab (Marburg, Karlsruhe, München, Hamburg), in denen sich orthodoxe Linke durchsetzten. Im Gesamtverband blieben sie jedoch immer in der Minderheit. Unter dem Eindruck des Vietnamkonflikts wurde die Deutschlandpolitik spätestens 1967 durch die Hinwendung zu einem "antiimperialistischen" Internationalismus verdrängt. Dabei zeigte sich ein ausgeprägter, durchaus auch kultureller Antiamerikanismus, der bei einigen Protagonisten als Brücke zwischen rechtem und linkem Denken fungiert haben könnte. Dieses Thema hätte eine vertiefte Würdigung verdient.
Trotz "Antiimperialismus" spielte die "nationale Frage" in der APO keine große Rolle. In dieser Hinsicht waren der Berliner Tilman Fichter und die "DDR-Abhauer" Rabehl und Dutschke Ausnahmen. Aber auch Dutschke hielt sich in der Hochphase der Revolte 1967/68 mit entsprechenden Äußerungen zurück - sie wären in der Studentenbewegung damals alles andere als populär gewesen. Dennoch spielte die "Dialektik von nationaler und sozialer Frage" in seinem Denken schon immer eine Rolle. Zielvorstellung war eine Art Wiedervereinigung "von unten" durch die beiden deutschen Arbeiterklassen. In den 1970er Jahren trat dieser Aspekt bei Dutschke stärker in den Vordergrund. Er beklagte die "doppelte Zerstörung der Arbeiterklasse in ihrem Klassenbewusstsein, Zerstörung durch den deutschen Faschismus und durch die Spaltung des Landes" (404). Stangel arbeitet heraus, dass für Dutschke eine nicht ethnisch, sondern historisch definierte "nationale Identität" Voraussetzung für einen "echten" Internationalismus war (408). Dutschke sah keine Zukunft für die Linke in Deutschland, wenn sie "keine eigene nationale Geschichte im internationalen Klassenkampf zurückgewinnt" (414).
Im Unterschied zu den meisten Maoisten, die zumeist aus der APO stammten, war Dutschke kein grundsätzlicher Gegner der Ost-West-Entspannung. Er sah jedoch dabei die Gefahr einer strukturellen Annäherung der kapitalistischen "allgemeinen Lohnsklaverei" und der "allgemeinen Staatssklaverei" der Länder des sowjetischen Machtbereichs (422). Dutschke propagierte stattdessen die "reale Annäherung der Menschen" (417) als Annäherung der Arbeiterklasse, Intelligenz und Opposition in Ost und West (427). Seine Position blieb aber weitgehend singulär. Innerhalb der Linken wurde sie zumeist ignoriert oder abgelehnt. Das gilt auch für die Maoisten, zu denen mit Blick auf die "nationale Frage" gewisse Berührungspunkte bestanden, die aber als bekennende Stalinisten Dutschkes Stalinismus-Deutung als despotischen "halbasiatischen Staatsozialismus" nicht teilen konnten.
Bei Teilen des deutschen Maoismus finden sich tatsächlich die ausgeprägtesten "nationalen" Tendenzen. Stangel widmet daher das letzte Hauptkapitel den in dieser Hinsicht besonders relevanten Gruppierungen KPD/AO, KPD/ML und Marxisten-Leninisten Deutschlands (MLD). Gemeinsam war diesen Organisationen, dass sie sich an der zeitgenössischen ideologischen und außenpolitischen Position Chinas orientierten, was eine Frontstellung gegen den "US-Imperialismus" und vor allem gegen den "sowjetischen Sozialimperialismus" bedeutete. Die genannten K-Gruppen pflegten einen "proletarischen Patriotismus" und verfolgten in verschiedenen taktischen und politisch-ideologischen Varianten das strategische Ziel eines "vereinten, unabhängigen und sozialistischen Deutschland". Unter diesem Aspekt waren sie innerhalb der Linken aber weitgehend isoliert. Die Frage, ob diese maoistische "Tradition" nach dem Zerfall des organisierten bundesdeutschen Maoismus in der blockübergreifenden Friedensbewegung der 1980er Jahre in signifikanter Form virulent war, wird vom Autor nicht vertieft.
Stangels Buch basiert auf einer umfassenden und intensiven Auswertung der einschlägigen Literatur, der zeitgenössischen Primärtexte und anderer Quellen. Der Autor hat hierfür - neben anderen Archivbeständen - intensiv vor allem Dokumente im Berliner APO-Archiv und den in Hamburg liegenden Dutschke-Nachlass ausgewertet. Die Studie ist eine große Fleißarbeit mit einer beeindruckenden empirischen Basis. Leider ist die Darstellung oft langatmig, umständlich und auch redundant. Zudem geht immer wieder der thematische rote Faden verloren, weil der Autor zu viele Umwege in Nebenthemen macht. Letztlich gewinnt man den Eindruck, dass das Thema "Die Neue Linke und die nationale Frage" einfach nicht genügend Substanz für eine 600 Seiten umfassende Arbeit hat.
Anmerkung:
[1] Manuel Seitenbecher: Mahler, Maschke & Co. Rechtes Denken in der 68er-Bewegung?, Paderborn 2013.
Roger Engelmann