Hedwig Richter: Aufbruch in die Moderne. Reform und Massenpolitisierung im Kaiserreich (= edition suhrkamp; 2762), Berlin: Suhrkamp 2021, 175 S., ISBN 978-3-518-12762-9, EUR 16,00
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Der Essay von Hedwig Richter soll, wie es einleitend heißt, "eine breite Forschung, die längst das Bild vom quasiabsolutistischen Obrigkeitsstaat aufgegeben hat, weil es der Pluralität der deutschen Gesellschaft [...] nicht gerecht wird", ergänzen. Demgegenüber werde in ihm "auf den progressiven, reformerischen Kontext im ganzen nordatlantischen Raum" verwiesen (16). An derselben Stelle am Schluss der Einleitung wird in einem gewissen Widerspruch dazu erklärt, das Buch wende sich "gegen eine düstere Exotisierung des Kaiserreichs" (ebd.). Daraus entsteht eine Darstellung, die durch zwei gegenläufige Vereinseitigungen gekennzeichnet ist: Einerseits wird auf der Grundlage des bereits existierenden Forschungsstandes ein halbes, auf seine "progressiven, reformerischen Kontext[e]" reduziertes Kaiserreich skizziert. Andererseits poppen immer wieder vorwurfsvolle Einschübe auf, die den Popanz der "düstere[n] Exotisierung des Kaiserreichs" aufrufen, vor dessen Hintergrund das Dargestellte als wegweisender Tabubruch erscheint (etwa auf den Seiten 48, 50 oder 145), den eine vorliegende "breite Forschung" eigentlich obsolet erscheinen lässt.
Wie also sieht das Kaiserreich aus, das auf seine "progressiven, reformerischen", irgendwie modernen Aspekte reduziert ist? Was sie unter "Moderne"/"modern" versteht, macht Richter leider nicht explizit, ebenso wie viele andere zentrale Begriffe (vor allem "Inklusion") ungeklärt bleiben. Implizit gehen ihre Relevanzkriterien aus den behandelten vier Themenbereichen hervor, die für verschiedene Reformaufbrüche stehen sollen. Im ersten Kapitel "Die deutsche Einheit" geht es um Gründung und Verfassung des Deutschen Reichs und um ein zentrales Postulat des Essays, nämlich die Ermächtigung der Masse der Bevölkerung zum entscheidenden Akteur. Dazu unten mehr. Im zweiten Kapitel "Arbeit und Vergnügen" geht es um die Arbeits- und Lebensverhältnisse von Männern und Frauen, die Gründung von Interessenorganisationen der Arbeiterschaft, der Unternehmer und der Landwirtschaft sowie um das breite Spektrum zivilgesellschaftlicher Aktivitäten. Die beiden folgenden Kapitel widmen sich den "dunkle[n] Seiten" (8) der Richterschen Moderne: Im dritten Kapitel "Globalisierung" geht es um Kolonialismus und imperialistische Konkurrenz der industriellen Großstaaten um zu verteilende Weltgegenden. "Partizipation und Krieg", das vierte Kapitel, handelt von den Wahlrechtsbewegungen, insbesondere denjenigen der Frauen, von Wahlrechtsreformen und von der "gewaltige[n] Inklusion: Krieg als Massenevent" (125). Ich spare lieber die Zeichenzahl, die es bräuchte, um die Angemessenheit dieser Ausdrücke als Bezeichnung des Weltkriegs zu diskutieren. Fest steht bei dieser Etikettierung nur eines: ihr Potential, Aufmerksamkeit zu erregen.
Im Folgenden konzentriere ich mich weniger auf die präsentierten Inhalte, die kaum Neues bieten, als auf Spezifika der Erzählweise. Sie sind meines Erachtens zu wichtig, um in einer - eigentlich ebenfalls erforderlichen - Auflistung schiefer bis falscher Aussagen im Text unterzugehen. Das auf den ersten Blick Auffallende an der Erzählweise ist die extrem selektive narrative Ausgestaltung des Kaiserreichs. Es enthält nur, was die Autorin als "Reformaufbruch" versteht. Auslassungen zwecks Herausarbeitung einer dezidierten Position sind, zumal in einer als Essay deklarierten Publikation, völlig legitim. Fragwürdig werden sie allerdings spätestens, wenn sie einen zentralen Bereich des Gegenstands, wie er der Darstellung durch den titelgebenden Reformbegriff vorgegeben ist, betreffen - nämlich im vorliegenden Fall die Politik. Sie ist zentral für eine Geschichte des Kaiserreichs im unentwegten Reformmodus. Doch beschränkt sich die Darstellung auf die zivilgesellschaftliche Ebene, die wichtig, aber nicht alles ist. Die politischen Akteure bleiben ebenso im Dunkeln wie die auf den verschiedenen Entscheidungsebenen in Reich, Ländern und Kommunen verlaufenden Prozesse der Aufnahme oder Ablehnung von gesellschaftlichen Forderungen, der Anbahnung, Aushandlung und Implementierung von reformierenden Gesetzen. Da sich justament auf diesen Bereich der politischen Prozesse und Strukturen die wichtigsten Kritikpunkte am Kaiserreich beziehen, gegen die Richter argumentieren will, ist diese Auslassung besonders befremdlich. Nur der von der kritischen Kaiserreichsgeschichtsschreibung als Reformblockade schlechthin hervorgehobenen Frage des preußischen Dreiklassenwahlrechts und seiner Nichtreform widmet sie einige Sätze (118). Diese entstellen jedoch die Fakten bis zur Unkenntlichkeit. Richter postuliert - eingehegt durch "vermutlich", "scheinen sich", "vieles spricht dafür" -, dass abgesehen davon, dass Konservative, Liberale und Zentrum sich nicht auf einen Vorschlag einigen konnten, "kompromissunfähige Kräfte in der Sozialdemokratie eine unglückliche Rolle" gespielt hätten, weil sie nicht weniger als das Reichstagswahlrecht für Preußen forderten. Richtig ist demgegenüber, wie vor allem Thomas Kühne herausgearbeitet hat [1], dass bei der letzten großen Wahlrechtsdebatte vor dem Krieg 1910 die SPD gar nicht beteiligt worden war. Als unter den besonderen Bedingungen des Kriegs 1915-17 die Frage eine neue Dringlichkeit erhielt, wirkte die SPD-Forderung nach dem Reichstagswahlrecht für Preußen indirekt als Reformmotor, weil als letzte Bastion gegen diese Forderung nun den Konservativen das zuvor von ihnen abgelehnte Pluralwahlrecht abgerungen werden konnte - was allerdings vor 1918 dann doch zu nichts führte.
Ein weiteres Spezifikum der Erzählweise ist die nachträgliche sukzessive Nachrüstung zentraler Vorannahmen: In ihrer einleitend explizit gemachten Form wirken diese Vorannahmen unproblematisch, wenn nicht trivial. Im Verlauf der Darstellung werden sie dann zugespitzt und ergänzt, ohne dass auf die dadurch erheblich veränderten Grundlagen der gesamten Deutung aufmerksam gemacht wird. Vorausgeschickt sind dem Bändchen einleitend zwei Thesen. Die erste ist, dass "Reformen, verstanden als planvolle, friedliche Umgestaltung des Bestehenden, [...] ein Signum des Kaiserreichs" seien. Sie dienten der "Inklusion der breiten Bevölkerung, die nicht länger entmündigt und im Elend leben sollte" (7f.). Dass die soziale oder Arbeiterfrage die Politik - nicht nur in Deutschland - umtrieb, ist ein unbestreitbarer und unbestrittener Zug der Jahrzehnte um 1900; dass dies reinem Mitgefühl mit den Entmündigten und Elenden entsprang, wird allerdings nicht nur bestritten, sondern steht dem Konsens der Forschung diametral entgegen. Die zweite These besagt, dass im nordatlantischen Raum dieser Zeit "wesentliche Wurzeln der modernen Massendemokratie" liegen, deren andere Seite jedoch Phänomene wie "Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus, Militarismus, Misogynie, Populismus" (8f.) seien. Soweit damit gemeint sein sollte, dass alle zeitgleichen Phänomene in irgendeiner Weise miteinander zusammenhängen und diese Gemengelage sehr unterschiedliche Folgen zeitigen kann, wäre nichts dagegen zu sagen. Man nennt das Geschichte. Und in dieser steht oder "wurzelt" auf die eine oder andere Weise alles Spätere.
Wenige Seiten später allerdings wird die Wechselwirkung zwischen den hellen und dunklen Seiten dieser Jahrzehnte in einen geradezu zwingenden Zusammenhang überführt: Es handele sich um mehr als nur Ambivalenzen, Widersprüche und Ungleichzeitigkeiten, "eines ergab sich logisch aus dem andern" (13f.). Also die Exklusion aus der Inklusion, der Kolonialismus aus der "Macht der Massen", der Antisemitismus aus der Gleichheitsidee und so fort. Denn: "Von heute aus gesehen wird vor allem deutlich: Die Gemeinschaft der Gleichen hatte ihren Preis und funktionierte fast immer über den Ausschluss." (13) Das ist nicht mehr misszuverstehen, es bedeutet, dass die gute Seite des Wandels mit den schlechten erkauft werden muss. Weiter hinten erfährt man, dass eine wichtige Einsicht für die Demokratiegeschichte sei, "dass eine der Grundlagen der Demokratie - die Ermächtigung der Massen - sowohl zu Freiheit und Gerechtigkeit führen kann als auch zum totalitären, menschenverachtenden Massenstaat (sic!), dass beide Geschwister sind [...]" (83).
Hier werden jetzt nicht mehr die Zeitläufte oder Abstrakta wie die Gleichheitsidee als verursachend für die dunklen Seiten der Moderne identifiziert, sondern die "Macht der Massen" (13 und passim), "der Vielen" (24) oder die synonym verwendete "Massenpolitisierung" (passim). Bemerkenswerterweise erweist sich somit die bereits um 1900 virulente Massentheorie als zentrales Motiv einer Erzählung, die sich durch die Darstellung zieht. Diese im Bürgertum der Industriestaaten verbreitete Ausdrucksform von Ängsten vor den proletarischen "Massen", die als verführbar und beeinflussbar konnotiert waren - und unverkennbar als weiblich -, kehrt nun bei Richter unvermutet zurück. Sie verwendet "die Massen" bzw. die "Massenpolitisierung" immer wieder als Movens, als Akteur für ihre dunkle Seite der Moderne, und zwar nicht nur, wie im oben wiedergegebenen Zitat, als ermächtigende Größe gleichermaßen für die helle wie die dunkle Seite der Moderne. So heißt es beispielsweise, seit den 1880/90er Jahren "drängten sich überall in Europa die Massen auch in die Außenpolitik. Das ist ungeheuer wichtig, denn der Erste Weltkrieg und dann der Versailler Vertrag wären in dieser Härte ohne den Druck der vielen kaum möglich gewesen." (86) Auf Seite 91 zeigt sich, dass letztlich die Inklusion der "Massen" Ursache für Kolonialismus und Imperialismus war: "Die kolonialen Frevel wurden nicht zuletzt dadurch ermöglicht, dass Gesellschaften durch die nationale Inklusion der Massen eine ungeheure Macht entwickelten und sich ermächtigt fühlten, ihre großen Ressourcen für die Unterwerfung des Anderen und bei Bedarf für seine Zerstörung zu nutzen."
Ihre vollständige Form erhält die sich im Textverlauf zuspitzende Erzählung - die nun deutlich über das Kaiserreich hinauszielt -, wenn "Masse" und "Demokratie" verbunden werden. "Demokratie" und "demokratisch" tauchen immer wieder als Begriffe für im Kaiserreich vorfindliche Phänomene auf, bleiben aber bis Seite 112f. inhaltlich ungeklärt. Dort erfährt man, dass der heutige Demokratiebegriff nicht auf die Zeit um 1900 übertragen werden könne - was zweifellos richtig ist. Richter stellt jetzt ihren Demokratiebegriff vor: Staaten gelten ihr zufolge als demokratisch, wenn sie ihre Bevölkerung inkludiert haben (113); für das Kaiserreich setzt sie das als gegeben voraus (116). Der Begriff "Inklusion" bleibt jedoch weiterhin ungeklärt. Verwendung findet er im Buch für die verschiedensten Dinge bis hin zu christlich-kolonialer Missionierung außerhalb Europas (97) oder dem Ersten Weltkrieg (133). Vor allem aber taucht die "Inklusion der Massen", wie gesagt, an vielen Stellen auf, wo die inkludierten "Massen" Unheilvolles anstoßen oder befördern.
Diese Bestimmung von "Demokratie" - wie immer ohne weitere Begründung vorgenommen - ist extrem folgenreich. Sie nimmt dem Demokratiebegriff sein positives Menschenbild und auch jeglichen weiteren Wertbezug, denn Inklusion ist in der Richterschen Verwendung wertneutral. Verfügen doch bekanntlich auch nichtdemokratische Staaten über allerhand Inklusionskompetenzen. Folgerichtig ist für Richter "[e]ine Lehre aus der Zeit des Kaiserreichs [...] die Einsicht, dass Massengesellschaften, in denen die Vielen ermächtigt werden, niemals ohne Einschränkungen funktionieren und ohne zusätzliche Absicherungen der Grundwerte - wenn das Ziel des gesellschaftlichen Zusammenlebens die Würde des Menschen ist" (144). Das bedeutet, dass demokratische Gesellschaften wie unsere heutige, in der die Würde des Menschen einen Höchstwert darstellt, potentiell "Einschränkungen" welcher Art auch immer begrüßen müssen. Was damit gemeint sein könnte, dürfen beziehungsweise müssen die Leser:innen selbst imaginieren.
Das führt zum dritten Spezifikum der Erzählweise: Sie verbindet Fakten mit Anknüpfungsmöglichkeiten für nicht mehr von ihnen Gedecktes, indem den Leser:innen überlassen bleibt, ihre eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen oder zu imaginieren, was für Zusammenhänge gerade aufgerufen werden. Die Literaturwissenschaftlerin Nicola Gess hat jüngst vorgeschlagen, den Begriff der "Halbwahrheiten" für solche Aussagen einzuführen, weil sie von der Frage "wahr oder falsch?" nur unzureichend erschlossen werden: Ihre zentrale Aussage, so Gess, liegt nicht im faktischen, sondern im daran anschließbaren fiktiven Teil, den die Leser:innen je nach persönlicher Neigung oder im Kontext eines ihnen stimmig erscheinenden Narrativs anknüpfend imaginieren [2]. Solche Halbwahrheiten finden sich im ganzen Text, weil deutungsstarke Aussagen kaum jemals begründet oder hinsichtlich ihrer Folgen konkretisiert werden, sondern es den Leser:innen überlassen bleibt, sich ein Bild davon zu machen, was das Gesagte bedeutet. Nur zwei besonders folgenreiche Beispiele aus dem hinteren Teil des Buchs, der das weiter vorn etablierte Narrativ von der Gefahr der inkludierten "Massen" voraussetzt: Was den Ersten Weltkrieg betrifft, erfährt man - nachdem die "Massen" bereits für die Auslösung des Ersten Weltkriegs in Haft genommen wurden (siehe oben) -, dass die "Massen" auch für seine lange Dauer verantwortlich waren: "Der Krieg forcierte [...] die dunkle Seite der Demokratie, ihre massenhysterische, populistische Potenz. Diese Energien nährten lange Zeit das Gemetzel [...]. Die Menschen nahmen das Massensterben hin." (133f.) Es ist den Lesenden überlassen, ob die Menschen das Massensterben hinnahmen beziehungsweise beförderten, weil sie wenig dagegen tun konnten, oder ob sie es begrüßten. Zehn Seiten später erfährt man dann, was den Nationalsozialismus hervorbrachte: "Der Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus ging nicht aus einem absonderlichen, demokratiefeindlichen System hervor, sondern aus einer modernen Republik." (143) Der den Leser:innen überlassene Deutungsspielraum ist groß: Sie können schlussfolgern, der Nationalsozialismus sei zeitlich auf die Weimarer Republik gefolgt. Die Rahmung, die das zugrundeliegende Narrativ vorgibt, legt demgegenüber die kausale Auslegung nahe, dass modernen, inkludierenden, demokratischen Gesellschaften alles zuzutrauen ist, auch der Holocaust. Muss man jetzt als nächstes mit einem Buch über den Holocaust als Preis für die Demokratie rechnen?
Um es zusammenzufassen: Das Buch bietet ein halbes Kaiserreich, halbe Wahrheiten und ganz gruselige Botschaften.
Anmerkungen:
[1] Thomas Kühne: Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur in Preußen 1867-1914. Landtagswahlen zwischen korporativer Tradition und politischem Massenmarkt, Düsseldorf 1994.
[2] Nicola Gess: Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit, Berlin 2021.
Ute Daniel