Michael Borgolte / Juliane Schiel / Bernd Schneidmüller u.a. (Hgg.): Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft (= Europa im Mittelalter; Bd. 10), Berlin: Akademie Verlag 2008, 595 S., ISBN 978-3-05-004373-9, EUR 69,80
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Vor uns liegen die ersten Ergebnisse des Schwerpunktprogramms 1173 der Deutschen Forschungsgemeinschaft "Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter", das im Sommer 2005 seine Arbeit aufgenommen hat. Es ist ein bemerkenswerter Band, denn es handelt sich nicht um einen normalen Sammelband einer Kick-Off-Konferenz oder einer anderen Tagung, sondern um ein Gemeinschaftswerk von 26 an dem SPP beteiligten Forscherinnen und Forschern aus etwa einem Dutzend wissenschaftlicher Disziplinen, die an 16 deutschen Universitäten wirken. Das Buch bietet die Resultate von über längere Zeit an verschiedenen Orten und auch virtuell geführten Diskussionen um das Zentralthema des Programms vor dem Hintergrund der jeweils zu bearbeitenden Teilprojekte. Es sei noch einmal ins Gedächtnis gerufen, worum es den Antragstellern dieses SPPs ging: "Im Austausch der Kulturen", so heißt es in dem auf der Homepage veröffentlichten Dachantrag, "begegnen sich Zeichen- und Sinnsysteme aus unterschiedlichen Wurzeln, die zu Konstruktionen von Kategorien des Eigenen wie des Fremden/Anderen (z. B. des Heiden, des Muslim, des Juden, des Slaven/Sklaven, des Barbaren) führten. Dabei etablierten sich neue Wertsysteme, Verhaltensnormen, kulturelle und literarische Muster. Deshalb will das Schwerpunktprogramm auch Vergleiche anstellen, die das Verständnis von Devianzen oder von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ermöglichen. Hier sollen ebenso wie das Gesamtprojekt auch die Einzelprojekte Einsichten zu Prozessen der Integration und Desintegration Europas im Ganzen beitragen; Fragestellungen, die sich in herkömmlicher Weise auf eine 'nationale' Kultur oder Geschichte beschränken, sind dezidiert ausgeschlossen." (http://www.spp1173.uni-hd.de/wasistspp.html) Als Grundannahme des SPP gilt somit, dass Europa niemals eine Einheitskultur gewesen ist. Verworfen wird also die weit verbreitete Bestimmung des europäischen Mittelalters als einer lateinisch-christlichen Kultur.
Als das Schwerpunktprogramm gestartet war, einigte man sich sehr schnell, die vielen Projektbearbeiterinnen und Projektbearbeiter auf drei thematisch und auch auf operativer Ebene voneinander geschiedene Arbeitsforen zu verteilen: Differenzwahrnehmung - Kulturaustauschbeziehungen - Gewalt. Diese Einteilung findet man daher auch in der hier vorgelegten Veröffentlichung wieder. Da es mir weder sinnvoll scheint, alle 26 Projekte zu nennen, noch einzelne - etwa die islamwissenschaftlichen - Forschungen hervorzuheben, beschränke ich mich darauf, die ausgeklügelte Struktur des Werkes und einige der getroffenen theoretischen und methodischen Überlegungen vorzustellen.
In dem Arbeitsforum A ("Wahrnehmung und Differenz - Differenz der Wahrnehmung") sind neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vertreten. Nach einer allgemeinen Einleitung folgen drei Unterthemen: 1. "Zum Problem von Wahrnehmung im interkulturellen Kontakt. Texte, Bauten und Bilder aus dem Umfeld der Mendikanten" (drei Projekte, eine Zusammenfassung), 2. "Strategien interreligiöser Fremd- und Selbstdeutung zwischen räumlicher Nähe und Distanz" (drei Projekte, eine Zusammenfassung), 3. "Differenz im Eigenen. Inszenierung von Wahrnehmung und Wahrnehmbarkeit in hagiografischen und höfischen Texten" (zwei Projekte). Eine eigene Schlussbetrachtung und ein eigenes Literaturverzeichnis ("Literaturnachweis A") runden diesen Teil ab.
Die Mitglieder dieses Arbeitsforums beschäftigen sich in ihren einzelnen Vorhaben mit der Frage, wie die "Vermittlung, Deutung und Reflexion des indirekt oder direkt, mittelbar oder unmittelbar Wahrgenommenen funktionalisiert wird, sei es in normativen oder narrativen Texten, in literarischen oder visuellen Inszenierungsformen." (26) Dabei geht es ihnen darum, den vollständig konstruierten Charakter von Identität und Alterität offenzulegen. Eigenes und Differentes sei, ihnen zufolge, "ebenso komplex und variabel wie der jeweils eingenommene Blick, der beides zueinander in Relation setzt, und wie die Vermittlungsformen, die die Wahrnehmung in je spezifischer Weise zur Darstellung bringen bzw. ansprechen." (Ebda) Gefragt werde also "nach den Vorstellungswelten, die das Wahrgenommene zu deuten vermögen und die Perzeption lenken, nach den attitudes mentales und den ihnen zugrunde liegenden Denkmustern." (Ebda)
Die verschiedenen Facetten des komplexen Wechselspiels von Identität und Alterität kommen in den Teilprojekten sehr schön zum Ausdruck. Man wird darauf aufbauen können, um zu einer weiteren Schärfung der theoretischen Hinsichten zu gelangen.
Das Arbeitsforum B, in dem es um den "Kontakt und Austausch zwischen Kulturen im europäischen Mittelalter" geht, besteht aus sechs Forscherinnen und Forschern. Auf eine ausführliche Darlegung der theoretischen Grundlagen und des methodischen Vorgehens zur Entwicklung eines Ansatzes zur Analyse von Prozessen, die zur Integration oder Desintegration der Kulturen führen, folgen fünf Fallstudien, ein Fazit und wiederum ein separates Literaturverzeichnis ("Literaturnachweise B").
Die Autoren einigen sich in ihren sehr lesenswerten einleitenden Bemerkungen vernünftigerweise auf eine plausible Definition der für sie entscheidenden Termini. Sie gehen von einem breiten Kulturbegriff aus, der die geistige wie die materielle Kultur ebenso einbezieht wie die Formen sozialer Organisation mit ihren Institutionen einschließlich der Mechanismen zur Reproduktion politischer Herrschaft. Kultur fungiere (in Anschluss an Clifford Geertz) als "Kommunikation sowohl zwischen Zeitgenossen als auch über Generationen hinweg." (197) Sie böte "ein historisch überliefertes System, mit dessen Hilfe die Menschen ihr Wissen vom Leben und ihre Einstellungen zum Leben mitteilen, erhalten und weiterentwickeln." (Ebda) Mit Kultur sei daher "ein Kontext oder ein Rahmen gemeint, in dem diese Ereignisse und Prozesse verständlich - nämlich dicht - beschreibbar sind." (Ebda) Darüber hinaus gebe es eine Kompatibilität verschiedener Kulturen. Der Austausch zwischen Gruppen unterschiedlicher Kulturzugehörigkeit und auch das bilaterale Verständnis aufgrund allgemeiner zivilisationsgeschichtlicher Entwicklungsverläufe sei - trotz des Bestehens kultureller Gegensätze - auf hohem Niveau möglich. Auch setzte das Wissen um die kulturelle Andersartigkeit des Gegenübers ein Verstehen sowie die Fähigkeit voraus, tiefer liegende Gemeinsamkeiten anzuerkennen und als Grundlage und Austausch nutzen zu wollen. Schließlich benutzt die Gruppe einen kultursoziologischen Raumbegriff. Raum könne man sich, ihrer Auffassung nach, als eine von Menschen geformte Einheit denken. Räume seien nicht von Anfang an da, sondern würden erst gemacht. Die "Ding-Welt" erscheine nur als sozial gedeutete Welt von Belang. Historische Räume mit ihren Grenzen und Konnotationen bildeten Produkte kognitiver Akte, mit denen Historiker vergangene Wirklichkeit räumlich ordnen und kartografieren. Man habe es mit einer relativen (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen (Lebewesen) an Orten zu tun, ein Phänomen, das auch als Spacing (Martina Löw) bezeichnet worden ist. Das Konzept des Kulturareals (cultural area) könnte als Orientierung dienen, denn hiermit würden raumprägende Strukturmerkmale zu einem cultural pattern, also zu einem typischen Muster, zusammengeführt.
Die Teilprojekte des Arbeitsforums B untersuchen letzten Endes den Kulturaustausch jeweils in einer ausgewählten Kontaktzone, also in einem "zeitlich und örtlich definierbaren Begegnungsraum zwischen unterschiedlichen Kulturen bzw. kulturellen Gruppen, die in den meisten Fällen in einem Verhältnis der gegenseitigen Beeinflussung und der Wechselwirkung zueinander stehen." (203) Dabei hätten sich die Einzelprojekte an der von den Verfassern der Einleitung in Anlehnung an Ulrich Gotter entwickelten, nützlichen Skalierung von Kulturbegegnungen und Kulturaustauschprozessen orientieren können (vgl. 208): 1. Bestimmung der jeweiligen Gruppen entsprechend ihrer Selbstdefinition. 2. Bestimmung der Fremdheit bzw. Verschiedenheit nach Teilbereichen wie politische Organisation, ökonomische Struktur, Religion etc., wobei Gotter vorschlägt, sich aus 'rein pragmatischen' Gründen auf die Analyse in einzelnen Teilbereichen zu beschränken. 3. Dynamik des Kontakts, womit eine genaue Differenzierung der Kontaktsituation, also etwa der Machtverhältnisse, gemeint ist, die wiederum Aussagen über Handlungsspielräume und Interessen der beteiligten Gruppen zulässt. 4. Veränderung der 'original patterns' in den von Gotter als 'komparatistische Kategorien' bezeichneten kulturellen Teilbereichen, wobei auch hier die Selbstwahrnehmung entscheidend ist. Die Ergebnisse der für sich genommenen hochinteressanten Einzelprojekte sind alles in allem etwas disparat und kommen noch nicht zu der erhofften Synthese. Dies hängt auch damit zusammen, dass sich die einzelnen Vorhaben letztlich doch zu wenig auf die beschriebenen Leitfragen beziehen.
Das Arbeitsforum C, das sich aus elf Projektbearbeiter/inne/n zusammensetzt, befasst sich mit dem Thema der "Gewalt im Kontext der Kulturen". Es handelt sich um Gewalt, die in der Begegnung von Kulturen entsteht und Prozesse kultureller Integration oder Desintegration motiviert, wobei man gewöhnlich - abhängig von den jeweiligen Akteuren - beides beobachten kann. Es sind dies Fälle interkultureller Gewalt oder solche, die die Differenzierbarkeit zwischen Kulturen erst herstellen.
An einen Prolog schließen sich sieben Unterthemen an: 1. "Integrierende und desintegrierende Wirkung von Gewalt" (Einleitung, drei Projekte, Fazit), 2. "Mittelalterliche Theorie und Norm zur Gewalt" (Einleitung, fünf Projekte, Fazit), 3. "'Gewalt' in Namen" (Einleitung, vier Projekte), 4. "Gewalt und Disput" (Einleitung, fünf Projekte), 5. "Gewalt und Geschlecht" (Einleitung, fünf Projekte), 6. "Die Rolle von Gewalt bei der Konstruktion exemplarischer Persönlichkeitsideale" (Einleitung, fünf Projekte), 7. "Gewalthöhepunkte" (Einleitung, vier Projekte). In diesem Teil folgen auf einen Epilog ebenfalls gesonderte Literaturnachweise.
Die Bearbeiter dieses Forums haben insgesamt in ihren Teilprojekten sehr gute Arbeit geleistet. Dennoch konnte letzten Endes das einende theoretische Band auch in diesem Teil noch nicht klar genug herausgearbeitet werden. Die große Fülle der einzelnen Vorhaben machte offenbar einen kohärenten Zugang zum vorgegebenen Thema schwierig.
Die Präsentation der drei Arbeitsforen wird eingerahmt durch einen von Michael Borgolte und Juliane Schiel besorgten Vorspann ("Mediävistik der Zwischenräume - eine Einführung") und ein von Bernd Schneidmüller und Annette Seitz verfasstes Fazit ("Transkulturelle Mediävistik - ein Schlusswort").
Das zentrale methodische Element des Schwerpunktprogramms 1173 stellt sicherlich die angestrebte transkulturelle Herangehensweise dar. Diese bedeutet, dass man sich, wie Wolfram Drews und Jenny Oesterle es an anderem Orte einmal formuliert haben, nicht auf die Rekonstruktion und Analyse von Prozessen konzentriert, sondern auf die Kontextualisierung von Einzelfallstudien, die vor dem Hintergrund einer übergeordneten transkulturellen Perspektive zueinander in Beziehung gesetzt werden. [1] Dabei geht es darum, den Gegenstand historischer Forschung nicht einer historischen Wertehierarchie zu unterwerfen, die in einer bestimmten Weltregion das Zentrum 'des' historischen Prozesses zu entdecken meint, gegenüber dem andere Regionen zu Peripherien abgewertet werden. Vielmehr besteht das Anliegen darin, ausgewählte und kontrastiv profilierte exemplarische Fälle aus dem Bereich verschiedener 'Kulturen' und 'Zivilisationen' vor dem Hintergrund einer übergreifenden, problemgeschichtlich akzentuierten Fragestellung theoretisch reflektiert zu verbinden. Transkulturelle Mittelalterforschung wird in Deutschland bisher noch kaum systematisch betrieben. Der hier vorgelegte Band (und das SPP insgesamt) bietet alles in allem ein ganz ausgezeichneten Ausgangspunkt für eine Etablierung dieser so dringend notwendigen Erweiterung der bisher sehr europazentrierten deutschen Mediävistik. Dass es innerhalb des SPPs gelingt, ein praktikables Analyseinstrumentarium für einen transkulturellen Vergleich zu entwickeln, bleibt zu hoffen.
Anmerkung:
[1] Wolfram Drews / Jenny Rahel Oesterle: "Vormoderne Globalgeschichten. Eine Einführung", in: Dies. (Hgg.): Transkulturelle Komparatistik. Beiträge zu einer Globalgeschichte der Vormoderne, in: Comparativ 18/3-4 (2008), 8-14, hier 10.
Stephan Conermann