Editha Ulrich: "Old England for ever!". England in den Wahrnehmungen und Deutungen deutschsprachiger Reisender 1870/71-1914 (= Quellen und Forschungen zur Europäischen Kulturgeschichte; Bd. 1), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2009, 338 S., ISBN 978-3-631-58690-7, EUR 54,80
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Jürgen Kocka: Kampf um die Moderne. Das lange 19. Jahrhundert in Deutschland, Stuttgart: Klett-Cotta 2021
Das vorliegende Buch eröffnet eine neue, von Michael Maurer herausgegebene Reihe, in der "Quellen und Forschungen zur europäischen Kulturgeschichte" erscheinen. Der erste Band ist eine 2008 abgeschlossene Jenenser Dissertation, die es sich zum Ziel gesetzt hat, auf der Grundlage monographisch publizierter Reiseberichte deutschsprachiger Großbritannien-Besucher einen Beitrag zur Analyse des deutsch-britischen Verhältnisses vor dem Ersten Weltkrieg zu liefern. Die Reiseberichte stellen für die Autorin einen Angelpunkt der bildungsbürgerlichen Auseinandersetzung mit einer rivalisierenden Großmacht dar. Sie spiegeln bei sorgsamer Lektüre erstens, welche Stereotypen die 'deutsche' Wahrnehmung Englands prägten. Sie machen zweitens deutlich, in welchen Fällen diese Stereotypen im Rahmen einer direkten Konfrontation mit britischen Städten, britischen Institutionen oder der britischen Bevölkerung bestätigt wurden oder wo es zu Modifikationen kam. Und sie waren drittens Texte, die - vorausgesetzt, dass sie gelesen wurden - die öffentliche Wahrnehmung Großbritanniens im deutschsprachigen Raum prägten. Als methodisches Rüstzeug bedient sich Ulrich zweier kompatibler Zugänge, der Perzeptions- und der Transferforschung.
Der auf die Einführung in Problemstellung und Forschungsstand folgende Teil des Buches ist der Rekonstruktion der Stereotype oder der die Wahrnehmung der Reisenden vorprägenden Informationen gewidmet. Diese Suche setzt früh ein (mit Pytheas von Massilia, ernsthafter mit Kaiser Sigismund) und geht auf einer breiten Literaturgrundlage mit umfassendem Anspruch vor - zur Sprache kommen die auf dem Kontinent bzw. im Reich jeweils verfügbaren Kenntnisse über England, Zahl und Ausrichtung der Englandreisen und ausgewählte Reiseberichte. Die Vorstellung und Analyse des analysierten Textkorpus aus insgesamt 95 Reiseberichten, die zwischen 1870 und 1914 im Erst- oder Zweitdruck als Buch bzw. Pamphlet erschienen beginnt somit erst auf Seite 136. Insgesamt bleibt dafür in der 279 Textseiten umfassenden Dissertation nur etwa die Hälfte der Darstellung übrig. Ulrich konstatiert, dass die ihr zur Verfügung stehenden Texte von Verfassern stammen, deren Sozialprofil sich als "sehr homogen (bildungs)bürgerlich" (155) beschreiben lässt. Die meisten werden als Reiseberichte mit literarischem Anspruch klassifiziert, daneben werden aber auch "fach- und gegenstandsspezifische" Reiseberichte, "landeskundliche Studien" und "Erfahrungsberichte" (143f.) in die Betrachtung mit einbezogen; die Mehrzahl basierte auf eher touristisch motivierten Aufenthalten, manche zogen allerdings auch das Resümee von Fachbesuchen oder die Summe aus einem längeren Aufenthalt im Land, etwa als Auslandskorrespondent.
Der Aufschwung der Englandberichte um 1900 folgte auf eine längere Zeit relativen Desinteresses. In den 1860er Jahren erschienen praktisch keine entsprechenden Reiseberichte, 11 zwischen 1870 und 1879, 22 zwischen 1880 und 1889, 15 zwischen 1890 und 1899, aber 34 zwischen 1900 und 1914. Ulrich führt dies plausibel auf die Expansion des Buchmarkts einerseits, auf die stärkere Obsession mit England, englischer Industrie und englischer Marine in Deutschland andererseits zurück. Über die Verbreitung der Berichte ließ sich offenbar - über Einzelfälle hinaus - nichts ermitteln, denn Aussagen zur Zahl der Auflagen ohne Kenntnis der Auflagenhöhe sind bekanntlich wenig belastbar. Ulrich geht aber sicher nicht in der Annahme fehl, dass der Kreis der Leserinnen und Leser dieser Texte eher begrenzt blieb.
Die Analyse der Reiseberichte streicht zwei Punkte deutlich heraus: die Dominanz Londons in der literarischen England-Verarbeitung, sei es als Stadt einer komplexen sozialen Realität, sei es als Ort einer ersehnten oder abgelehnten Moderne; sodann die Polarisierung zwischen einer positiven und negativen Sicht der englischen Verfassung und Institutionen, die zu weit divergierenden Prognosen über die Zukunft und Zukunftsfähigkeit des Modells England führten. Allerdings stand das - wie der Titel des Buches deutlich macht - nach Ulrichs Urteil nur begrenzt im Zentrum der Englandwahrnehmung. Denn einig waren sich (fast) alle Reisenden in der positiven Bewertung des Englands der Tradition, des Englands Shakespeares, das von jeder aktuellen Diskussion ausgenommen bleiben konnte. Insofern konstatiert Ulrich, dass sich auch um 1900 alte Stereotypen trotz intensivierter Reise- und Publikationstätigkeit letztlich aktualisierten und insgesamt verfestigten. Die vor allem nach 1900 zu beobachtende Tendenz zu anglophoben Urteilen habe erstens nur wenige Autoren dazu gebracht, "die englische Mentalität und Lebensweise umfassend negativ [zu] deuten" (278); zweitens habe die Anglophobie "nicht grundlegend und tiefgreifend das Denken der Angehörigen des Bildungsbürgertums" dominiert (278) und sei daher nach 1918 rasch wieder abgeebbt.
Man fragt sich nach der Lektüre der interessanten und materialreichen Arbeit, ob das Ergebnis der umfassenden Recherche nicht etwas differenzierter hätte ausfallen können (oder müssen). Das beginnt bei der Vorstellung der Reiseberichte, ihrer Autoren und wenigen Autorinnen. Da es sich um eine große Zahl von Texten handelt, wäre eine tabellarische Darstellung der Beziehungen zwischen (etwa) Beruf- und Generationszugehörigkeit der Verfasser, Reiserouten, Textgenre, Länge, Verlag usw. vielleicht hilfreicher gewesen als die qualitative Beschreibung, die es bei einer relativ groben Kategorisierung der Texte, Autoren und Publikationsorte belässt - der ausführliche Anhang, in dem alle Verfasser vorgestellt werden, ersetzt das nur zum Teil. Zumindest exemplarisch hätte man sich eine detailliertere Analyse einzelner Textpassagen gewünscht, in der gezeigt worden wäre, wie Stereotypen in die Darstellungen einfließen (und die somit auch am Material deutlich gemacht hätte, was der lange historische Vorlauf zur Interpretation der um 1900 entstandenen Texte beiträgt) und wie die Autorinnen und Autoren bei ihrer Schilderung von Englanderlebnissen literarisch vorgehen. Bisweilen hätte man sich auch eine stärkere Differenzierung der in Deutschland konkurrierenden intellektuellen Standpunkte gewünscht, von denen aus man den Blick auf England richten konnte. Der Ansatz, nach Stereotypen zu fragen, die das "Bildungsbürgertum" prägten, verdeckt - trotz der jeweiligen Verweise auf andere Ansichten - in der Darstellung weitgehend die mögliche und wahrscheinliche Korrelation zwischen politischen Haltungen, Berufen, Reisedatum oder Konfession mit den auf England projizierten Erwartungen.
Insofern weist die Arbeit neben manchen Stärken der Kulturgeschichte auch manche Schwächen auf: eine relativ weitgehende Ablösung von etablierten politischen Analysekategorien und eine Vernachlässigung disziplinärer, in diesem Falle philologischer Methoden.
Andreas Fahrmeir