Eva Schlotheuber / Hubertus Seibert (Hgg.): Böhmen und das Deutsche Reich. Ideen- und Kulturtransfer im Vergleich (13.-16. Jahrhundert) (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum; Bd. 116), München: Oldenbourg 2009, VIII + 362 S., ISBN 978-3-486-59147-7, EUR 49,80
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Das Buch präsentiert 13 Beiträge einer gleichnamigen, mit ca. 50 Teilnehmern besetzten internationalen "interdisziplinären Tagung", die 2007 in München stattfand. Neu hinzu kamen Beiträge von Bernd Carqué und Josef Záruba-Pfeffermann. Ziel der Tagung war, "die vielfach miteinander verflochtenen historisch-politischen und kulturellen Entwicklungen in Böhmen und im Deutschen Reich in Spätmittelalter und Früher Neuzeit aus vergleichender Perspektive in den Blick zu nehmen". (VII) Obwohl die Tagung nicht vom Münchener "Collegium Carolinum. Forschungsstelle für die böhmischen Länder" organisiert wurde, erscheint das Buch als dessen Veröffentlichung und weist (mit Ausnahme der Fotografien) die für Publikationen des "CC" sehr sorgfältige redaktionelle Bearbeitung auf. Ob der Titel "Böhmen und das Deutsche Reich" glücklich gewählt wurde, soll wegen der mit ihm verbundenen komplexen verfassungs- und wissenschaftsgeschichtlichen Problematik hier nicht diskutiert werden.
In seiner "Einführung" (1-9) präzisiert Hubertus Seibert die ambitionierte Zielsetzung des Buches, die sich am "neue(n) Forschungsparadigma Kulturtransfer", das als wesentlichen methodischen Faktor auch Interdisziplinarität integriert, orientiert. Dabei steht der "Vorgang der Rezeption neuer Ideen, manueller Fähigkeiten und kultureller Errungenschaften, die von einem Kulturraum in einen anderen transferiert und dort aufgenommen, aneignend kopiert oder verwandelt werden" (1), im Mittelpunkt und wird als "vielschichtige[r] Prozess der Umformung oder Umdeutung fremder Kulturgüter im eigenen Kontext" (2) aufgefasst und (v.a. gemäß Michel Espagne und Michael Werner) als "Kulturtransfer" bezeichnet. Seibert warnt aber auch, dass die "Offenheit des Transferparadigmas [...] die generelle Gefahr [in sich trägt], dass unter dem Begriff Kulturtransfer sehr beliebige Phänomene subsumiert werden und so der spezifische Forschungsansatz verwässert wird", und betont, dass für "die Herausgeber und Autoren [...] das Konzept Kulturtransfer für sehr vielschichtige Austausch-, Vermittlungs- und Adaptationsprozesse [steht], die sich in Bewegungen von Menschen, dem Austausch materieller Objekte, ideeller Konzepte und kultureller Zeichensysteme manifestieren". (5) Zudem werde dieses "innovative Forschungskonzept [...] erstmals für zwei aufs engste aufeinander bezogene und miteinander verflochtene politische Ordnungsgefüge und Kulturräume fruchtbar gemacht und eröffnet [...] neue Perspektiven". (5) Seibert postuliert schließlich, dass dieses Konzept, in das "die Methode des historischen Vergleichs" eingegliedert wurde, "im Zentrum der insgesamt fünfzehn Beiträge" steht und insbesondere auch nach den "Trägern und Vermittlern des Kulturtransfers und ihren jeweiligen Motiven und Beweggründen" gefragt wird. (6-8)
Die Beiträge sind wie folgt in "Themenblöcke" geordnet: "Herrschaft und kultureller Austausch": S. Adam Hindin: "Ethnische Bedeutungen der sakralen Baukunst. 'Deutsche' und 'tschechische' Pfarrkirchen und Kapellen in Böhmen und Mähren (1150-1420)"; Bernd Carqué: "Aporien des Kulturtransfers. Bau- und bildkünstlerische Zeichen von Herrschersakralität in Prag und Paris"; Richard Němec: "Kulturlandschaft und 'Staatsidee'. Architektur und Herrschaftskonzeption Karls IV."; Lenka Mráčková: "Die Kompositionen Johannes Tourouts in böhmischen Musikhandschriften. Zur musikalischen Kultur am Hofe Kaiser Friedrichs III. und ihrer Rezeption in den böhmischen Ländern".
"Schriftlichkeit und Repräsentation im Vergleich": Jiřί Roháček und Franz-Albrecht Bornschlegel: "Innovation - Tradition - Korrelation. Die Inschriften Böhmens und des deutschen Reiches"; Roman Lavička: "Jahreszahlen an mittelalterlichen Baudenkmälern"; Robert Šimůnek: "Was in den Testamenten 'fehlt'. 'Donationes pro anima' und das Fegefeuer im Spiegel böhmischer Adelstestamente"; Uwe Tresp: "Zwischen Böhmen und Reich, Ständen und Königtum. Integration und Selbstverständnis der Grafen Schlick in Böhmen um 1500"; Georg Vogeler: "Die böhmischen Berna-Register als 'Steuerbücher deutscher Territorien'?"; Eva Doležalová: "Weiheregister als Quelle zur Geschichte der vorreformatorischen Geistlichkeit"; Pavel Soukup: "Die Predigt als Mittel religiöser Erneuerung: Böhmen um 1400."
"Architektur und Wandmalerei": Jan Royt: "Bischof Johann IV. von Draschitz als Kunstmäzen"; Magdaléna Hamsίková: "Die Einflüsse Lucas Cranachs des Älteren auf die böhmische und mährische Malerei der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts"; Josef Záruba-Pfeffermann: "Die Kirche St. Jakobus Maior in Slavětίn. Eine Wappengalerie des römischen Königs Wenzel IV. und des böhmischen Adels"; FrantiŠek Záruba: "Die Burgen König Wenzels IV."
Von diesen Beiträgen erfüllen allerdings nur zwei (!), nämlich die von Carqué und Němec, den von Seibert formulierten Anspruch einer Analyse bzw. Darstellung von Kulturtransfer im modernen kulturalistischen Sinn. Nur hier trifft die von Eva Schlotheuber in ihrer "Zusammenfassung" (343-348) getroffene Aussage zu, dass sich das "Konzept des Kulturtransfers, das erstmals auf das Verhältnis zwischen Böhmen und dem Deutschen Reich angewendet wurde, [...] als fruchtbar und tragfähig erwiesen und viele weiterführende Erkenntnisse gebracht" hat. Nicht zutreffend ist dagegen, dass "alle Beiträge [...] eindrücklich die Wechselwirkungen und die Vielschichtigkeit des Kulturtransfers" zeigen, denn sechs Beiträge bieten "nur" einen "gewöhnlichen" deskriptiven Vergleich (zwischen Vorbild und Ergebnis eines "Kulturtransfers"), während sieben Beiträge prinzipiell nur Phänomene in Böhmen darstellen, ohne einen "Kulturtransfer" aufzuzeigen. Zudem erscheint die Ordnung der Beiträge in Überkapitel nicht immer schlüssig, oder: ein gewisser Mangel des Buches an innerer Kohärenz ist deutlich erkennbar. Von daher entsprechen der Buchtitel und einige Postulate der Herausgeber nicht dem tatsächlichen Inhalt der Mehrzahl der Beiträge, und das Buch hätte besser den Titel "Kulturtransfer nach Böhmen. Bausteine zu seiner Analyse" tragen sollen. Auch muss angemerkt werden, dass die prinzipiell sehr guten Übersetzungen da und dort noch eine kontrollierende Lektüre durch die Herausgeber benötigt hätten. Völlig unbefriedigend sind jedoch die oftmals zu kleinen Fotografien, die sowohl in Größe als auch Qualität weitaus besser darzustellen gewesen wären.
Das alles ändert nun nichts an dem Befund, dass es sich abseits des (von den meisten Autoren ja nicht postulierten) kulturalistischen Anspruchs bei der Mehrzahl der Beiträge um überzeugende und quellengesättigte traditionelle Forschungsleistungen handelt, die um nichts den kulturgeschichtlich orientierten Beiträgen nachstehen; zu nennen sind etwa die Beiträge von Roháček und Bornschlegel, Tresp, Soukup oder Záruba. Näher vorgestellt werden Carqué, Němec und Hindin.
Hindin versucht bei der Architektur böhmischer und mährischer Pfarrkirchen und Kapellen (1150-1420) eine Beziehung zur Ethnie der (jeweils tschechischen oder deutschen) Pfarrgemeinden aufzuzeigen. Seine These geht von einer bewussten architektonischen Differenz zwischen schlichten "tschechischen" und immer aufwendiger und prachtvoller gestalteten "deutschen" Bauten aus, wobei diese Entwicklung u.a. im Bau der Prager Bethlehemskapelle sichtbar sein soll. Als These formuliert Hindnin, "dass diese formalen Unterschiede von einheimischen Betrachtern als ethnische Referenzen interpretiert wurden", oder "dass durch diese visuellen Gegensätze die imaginierten Unterschiede zwischen den tschechischen und deutschen Bevölkerungsgruppen festgeschrieben wurden [...]"; es ging um "ethnische Markierung oder Abgrenzung". (18f., 32) Die Entwicklung mündete in "tschechischen" und "deutschen" Sakralbauten. Einige kleinere Ungenauigkeiten im Text fallen auf, etwa wäre die bekannte Quellenstelle aus dem Privileg Sobieslavs II. [...] quod sicut iidem Theutonici sunt a Boemis nacione diversi [...] nicht mit "diese Deutschen sind ein von den Tschechen verschiedenes Volk" (13) zu übersetzen, sondern mit "[...] dass diese Deutschen, so wie sie von den Böhmen durch die Volkszugehörigkeit verschieden sind [...]". [1] Hindins Thesen sind vorläufig nicht restlos überzeugend, aber unter Einbeziehung weiterer historischer kontextueller Faktoren sicher diskussionswürdig.
Carqué thematisiert zunächst das Forschungsparadigma "Kulturtransfer", weist auf einige (auch im Buch vorhandene) Probleme des Vergleichens hin und zeigt sich insgesamt skeptischer gegenüber der vorherrschenden Praxis als die Herausgeber. Er nimmt die Herrschaftsauffassungen und -repräsentationen König Johanns von Böhmen und vor allem Karls IV. in einen scharfen vergleichenden Blick und bemüht sich um eine umfassende Sicht auf die untersuchten kulturellen Phänomene, da - wie er an zahlreichen Beispielen ausführt - aus der Übernahme einzelner Motive nicht auch die Übertragung der strukturellen und funktionalen Zusammenhänge der Ursprungskultur folgt. Als Ergebnis stellt er fest, dass Karl IV. und sein Umkreis im Zuge des Ausbaus und der Stabilisierung ihrer Herrschaft sowohl in Böhmen als auch im Reich zunehmend auf Bezüge zur Pariser Hofkunst verzichteten und auf Vorbilder aus Italien und Byzanz griffen, um das universale Kaisertum adäquat repräsentieren zu können.
Němec erläutert zunächst seinen methodischen Ansatz, versucht anschließend die Raum- und Funktionsaufteilung des königlichen Palastes der Prager Burg ab 1333 aufzuzeigen und postuliert Verbindungen zum Papstpalast in Avignon. Des Weiteren fragt er, ob in der Wasserburg Lauf an der Pegnitz (Oberpfalz), also außerhalb der böhmischen Kernlande, ein "ähnliche(s) Regierungsmodell" (87) und die zugehörige Art der Repräsentation von den Luxemburgern verwirklicht wurden, erkennt Parallelen zu Prag, benennt die angewandten künstlerischen Mittel und wagt, ein "einheitliches Konzept" für die "Residenzburgen Karls IV." zu postulieren. (94) Schließlich stellt er (nicht ganz überraschend) fest, dass "der Architektur Karls IV. und den propagandistisch konnotierten Subsystemen wie der heraldischen Ausstattungen und Bildhauerei ein manipulativer Zweck zuerkannt werden" dürfte und die "analysierten Residenzen [...] infolgedessen als primäre repräsentative Quellen der sich dynamisch verändernden, auf der Tradition basierenden Evolution der dynastischen Selbstdarstellung erfasst werden" dürften. (101) Leider sind Text und Bild des Beitrages nicht immer erkenntnisleitend aufeinander abgestimmt. Insgesamt aber sind die Ausführungen von Němec sehr anregend, auch wenn sie stellenweise nicht durchgehend überzeugen.
Das Buch bietet eine breite Facette an wertvollen Beiträgen und leidet vor allem an seiner zu ambitionierten "Verpackung". Es bleibt jedoch die unbestreitbare Anregung, sich künftig weiterhin sowohl mit den präsentierten Themen als auch mit dem Forschungsparadigma "Kulturtransfer" zu beschäftigen.
Anmerkung:
[1] So korrekt bei Wilhelm Weizsäcker, Die älteste Urkunde der Prager Deutschen. Zur Kritik des Sobieslawschen Privilegs, in: Zeitschrift für sudetendeutsche Geschichte 1 (1937) 161-182, hier 180. Die Stelle scheint geeignet, aus ihr ein tschechisches oder ein deutsches Volk/Nation ableiten zu wollen. So postuliert der führende tschechische Přemyslidenkenner Josef žemlička, čechy v době knίžecί (1034-1198) [Böhmen im Zeitalter der Fürstenherrschaft (1034-1198)], Praha 1997, 2. Aufl. 2007, 215, die Theutunici wären "verschieden vom Volk/Nation der Tschechen".
Karel Hruza