Rezension über:

Victor Ieronim Stoichita: The Pygmalion Effect. From Ovid to Hitchcock (= The Louise Smith Bross Lectures; Vol. 2), Chicago: University of Chicago Press 2008, VIII + 252 S., ISBN 978-0-226-77521-0, GBP 31,00
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Rezension von:
Jennifer Bleek
Institut für Kunstgeschichte, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule, Aachen
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Jennifer Bleek: Rezension von: Victor Ieronim Stoichita: The Pygmalion Effect. From Ovid to Hitchcock, Chicago: University of Chicago Press 2008, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 5 [15.05.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/05/17778.html


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Victor Ieronim Stoichita: The Pygmalion Effect

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Jeder kennt die kleinen Tafeln im Museum, auf denen steht: "Bitte nicht berühren". Dieses Berührungsverbot bildet in dem neuen Buch des Fribourger Kunsthistorikers Victor I. Stoichita den Ausgangspunkt für eine umfassende, von der Antike bis ins 20. Jahrhundert reichende Studie über die bis heute rätselhafte Wirkkraft von Kunst. Das Medium Film hat mit seiner Perfektionierung der Illusion eines bruchlosen Kontinuums zwischen Bild- und Betrachterwelt die Rätsel noch vergrößert. Das Berührungsverbot liest Stoichita indirekt als ein Indiz für das Vorhandensein einer ästhetischen Präsenz: Die auf manchen Bildern dargestellten Dinge oder Personen wirken so täuschend echt, dass ein haptischer Impuls ausgelöst werden kann. Dreidimensionale Objekte wie Skulpturen können den Tastsinn sogar noch stärker ansprechen. Was befähigt das leblose Artefakt dazu, im Betrachter Gefühle, Gedanken und sogar Handlungen auszulösen? Wie springt der Funke vom Werk auf den Betrachter über? Wie lässt sich der Raum definieren, in dem dieser Energietransfer stattfindet? Stoichita rekurriert zu Beginn seines Buches auf den seit der Antike für diesen Problemzusammenhang immer wieder bemühten Begriff des Simulakrums, das er als eine Art "Geistkörper" verstanden wissen möchte (2). Die von Ovid im zehnten Buch der Metamorphosen erzählte Geschichte von Pygmalion, der sich eine Frauenstatue erschafft, sich in sie verliebt und Venus um deren Belebung bittet, ist ihm zufolge der Gründungsmythos des Simulakrums.

In seinem Buch geht es Stoichita nicht um den Mythos selbst, sondern um dessen "Effekte" in der Kunstgeschichte. In der mythischen Erzählung wird die Grenze zwischen Bildwelt und Betrachterwelt dank göttlicher Hilfe aufgehoben. Wie hat die Kunstgeschichte den Mythos gedeutet? Die ersten Darstellungen der Pygmalion-Ikonografie (Pygmalion, Statue, Venus, Amor) stammen aus der spätmittelalterlichen Buchmalerei. In der Malerei der Frührenaissance spielt dieses ikonografische Programm hingegen keine Rolle und im 16. Jahrhundert finden sich nur vereinzelte Beispiele. Wichtige Ausnahme: Jacobo Pontormos Gemälde Pygmalion von etwa 1530. Der Künstler rückt das Ereignis der Verwandlung von unbelebter in belebte Materie in den Mittelpunkt. Hinzu kommt, dass Pontormo das Sujet durch Anspielungen auf den Paragone zwischen Malerei und Skulptur kunsttheoretisch adelt. Allerdings bleibt sein ambitionierter Versuch zunächst weitgehend ohne Nachahmung. Erst im Zeitalter der Aufklärung findet der Pygmalion-Stoff breite Bearbeitung in der bildenden Kunst. Besonders intensiv ist die Rezeption im 18. Jahrhundert in Frankreich. Auch im 19. Jahrhundert finden sich in allen künstlerischen Gattungen (Malerei, Skulptur, Grafik, Fotografie) Interpretationen des Pygmalion-Stoffs, wobei die Salonmalerei mit Jean-Léon Gérômes Gemälde Pygmalion von etwa 1890 einen der interessantesten Beiträge liefert. In Hitchcocks berühmtem Liebesthriller Vertigo aus dem Jahr 1958 schließlich verwandelt James Stewart als moderner Pygmalion in Anzug und Krawatte Kim Novak in das Objekt seiner Begierde.

Stoichita untersucht die "Effekte" des Mythos in der Kunstgeschichte auf der Ebene unterschiedlicher künstlerischer Medien (Skulptur, Bild, Literatur). Trotz der Fülle des Materials verliert man nie den Überblick in der stets zielführenden Argumentation. Einige Einwände entstehen aber doch beim Lesen. Man könnte Stoichita vorhalten, die "Effekte" des Mythos in der Kunstgeschichte und damit den Begriff des Simulakrums im Laufe der Studie letztlich weitgehend offenzulassen. Dazu trägt auch die Einbeziehung von Material bei, das nur lose mit dem Pygmalion-Stoff verwandt ist (Prometheus, Helena von Troja, Bacchus). Weiterhin ließe sich einwenden, dass an manchen Stellen nur anders gewichtet, nicht aber ein neuer Zugang gefunden wird. Zum Beispiel bei der Analyse von Jean-Jacques Rousseaus 1771 publizierter Dramenfassung Scène lyrique Pygmalion. Die entsprechenden Illustrationen zeigen den Stoff erstmals im Rokoko ohne das traditionelle ikonografische Programm von Venus, Wolken und Amor. Außerdem bewegt die Statue sich auf manchen der Bilder deutlich freier durch den Raum. Zu Recht wurde das in der bestehenden Forschungsliteratur als ein wichtiger Wendepunkt in der Pygmalion-Ikonografie gewertet. [1] Stoichita fügt dem vor allem eine Akzentuierung des Bewegungsmotivs der Statue hinzu. Doch gerade an diesem Wendepunkt hätte sich etwa eine Diskussion mit Blick auf das Medium Fotografie entzünden können, die ja nicht über das Vermögen des gemalten Bildes verfügt, etwa "Venus auf Wolken ruhend" darzustellen und der eine solche neue Sicht- und Darstellungsweise möglicherweise zuarbeitet. Umgekehrt ließe sich an manche Rezeption im 18. Jahrhundert die Frage stellen, ob sie schon etablierte darstellungstechnische Spannungsverhältnisse (siehe Pontormos Pygmalion von 1530) nicht einseitig auflöst und ästhetisch hinter schon Erreichtes zurückfällt.

Für das, was Stoichita herausarbeiten möchte, scheinen Auswahl, Anordnung und Gewichtung des Materials andererseits schlüssig. Fokussiert wird neben der Menschwerdung der Statue vor allem der innerbildliche Energietransfer zwischen Werk und Künstler-Betrachter. Dieser Transfer steht in der Pygmalion-Ikonografie im Zeichen der Liebe. Wie also springt der Funke vom Werk auf den Betrachter über und was bedeutet dieser Übersprung für die ästhetische Grenze? Denn ganz offenbar kann die medial gesetzte Beschränkung, die zwischen Werk und Betrachter besteht, nicht verhindern, dass sich ein Element aus dem Werkzusammenhang löst und den Betrachter förmlich trifft. Dieses Moment einer strukturellen Durchlässigkeit der ästhetischen Grenze analysiert Stoichita auf ikonografischer, medialer und vor allem auf materialer Ebene. Zum Beispiel anhand von Jean Raoux' Gemälde Pygmalion von 1717, das auch auf dem Cover des Buches abgedruckt ist: Während der untere Teil der Statue noch steinfarben gemalt ist, pulst durch den oberen schon sichtlich Blut. Ein Amor-Putto fühlt darüber hinaus am Herzen der Statue den Puls, wobei die Haut unter dem Druck seiner Finger leicht nachgibt, was einen besonders subtilen Eindruck von Lebendigkeit erzeugt. Verstärkt werden solche und ähnliche materialspezifische Beobachtungen zum Phänomen ästhetischer Lebendigkeit noch durch Einfügung zusätzlichen Bildmaterials, etwa durch Bilder naturwissenschaftlicher Experimente: die Bahn eines Blitzes, intersubjektive magnetische Wechselwirkungen (Mesmerismus), das ruhende Nervensystem des Menschen. Die heutige Neuroästhetik könnte in diesen Bildern ihre ästhetischen Urahnen finden.

Um Stoichitas Ansatz angemessen würdigen zu können, ist es hilfreich, parallel zu seiner Studie die erste grundlegende Arbeit zur Ikonografie des Pygmalion-Mythos von Andreas Blühm zu lesen, die sich auf den Zeitraum von 1500 bis 1900 bezieht. Außerdem lohnt es sich, zusätzlich Christiane Kruses ebenfalls wegweisende Arbeit über die von Blühm weitgehend ausgesparten Anfänge der Pygmalion-Ikonografie in der spätmittelalterlichen Buchmalerei heranzuziehen. [2] Im Vergleich zeigt sich, dass Stoichita sich überwiegend auf dasselbe Bildmaterial wie diese beiden Autoren bezieht. Er erweitert es aber um Darstellungen von Mythen, die nur lose mit dem Pygmalion-Stoff verbunden sind (Prometheus, Helena, Bacchus). Außerdem fügt er unter anderem Bildbeispiele hinzu, die Methoden zur Erforschung der Wirkkraft von Kunst vorführen, die an die heutige Neuroästhetik denken lassen. Entsprechend liegt ein analytischer Schwerpunkt auf den taktilen Qualitäten des dargestellten Materials, für die unsere Sinne und Nerven offenbar besonders empfänglich sind. Insgesamt betrachtet ein Buch, das gerade in seiner Historisierung neurophysiologischer Aspekte aktuellen Forschungsinteressen dienlich sein könnte.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Andreas Blühm: Pygmalion. Die Ikonographie eines Künstlermythos zwischen 1500 und 1900, Frankfurt/M. u. a. 1988, 101ff.

[2] Christiane Kruse: "Animationen einer Statue: Pygmalion", in: Dies.: Wozu Menschen malen? Historische Begründungen eines Bildmediums, München 2003, 345-377.

Jennifer Bleek