Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München: C.H.Beck 2009, 1343 S., ISBN 978-3-406-59235-5, EUR 38,00
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Um die Geschichte "des Westens" während des Jahrtausends des Mittelalters auf 70 Seiten darzustellen, sind gewisse Auslassungen und Zuspitzungen erforderlich. Das gilt auch dann, wenn der Westen während dieser Zeit noch auf Europa beschränkt ist. Der Verfasser nähert sich dem Mittelalter in einem mehrschichtigen Verfahren. Beginnend mit den zunehmend universalen Autoritäten Kaiser und Papst sieht Winkler den Übergang von der Antike zum Mittelalter in einer vorsichtigen Anlehnung an die alte Pirenne-These vom Ende der Antike durch den Vorstoß des Islam entlang der Küsten des Mittelmeeres. Das habe das Bündnis des Papsttums mit den Franken gefördert. Der Verfasser folgt zunächst den Spuren des Papsttums bis zur "Papstrevolution", dem Zeitalter des Reformpapsttums. Parallel dazu zieht er die Grundlinien der Kaisertradition nach. Beide Institutionen erhalten bei ihm einen traditionellen, machtvollen Zuschnitt. "Der Papst verkörperte dort, wo sein Primat nicht nur im Prinzip, sondern tatsächlich galt, im Westen, die Einheit der Christenheit" (40). Der Kreuzzug wird ganz aus der päpstlichen Initiative heraus gedeutet. Mit Ottos Kaisertum verfährt Winkler ähnlich. "Mit ihm begann die Geschichte des Kaisertums der Deutschen." Das liest sich markant, aber im Ton und in der Sache erinnert es eher an die ältere Fachliteratur. Die Wurzeln der religiösen Reformbewegung liegen hier vor allem in Cluny, und etwas überrascht vernimmt man, der Dictatus Papae sei das "Manifest" der Papstrevolution gewesen (52). Tatsächlich fehlen Quellenzitate aus dem frühen und hohen Mittelalter ganz, sie setzen zaghaft und indirekt mit den politischen Texten des späten Mittelalters ein. Erst Machiavelli wird breiter rezipiert. Dieser zurückhaltende Umgang mit den Quellen hat allerdings den Vorteil, dass die Goldene Bulle als "ferner Vorläufer des Bonner Grundgesetzes von 1949" vorgestellt wird (74).
Die Synthese aus Klassikern des Faches, einigen vertiefenden Fachtiteln und wenigen Quellentexten, präsentiert mit dem Blick für die großen Linien, ist eine einprägsame Lektüre. Und Winkler wechselt von der höchsten Ebene zu den Antriebskräften der Verwissenschaftlichung, die im Zuge der Verrechtlichung der Kirche einsetzten. Das gelehrte Milieu der beginnenden Wissenschaften führt ihn in die Welt der entstehenden Städte und des Bürgertums. Im Kontrast dazu entwickelt er dann in Grundzügen die Ordnung des Feudalismus, in dem Winkler in Anlehnung an Mitterauer jenen Dualismus von Fürst und Ständen Gestalt annehmen sah, die der Verfasser für die politische Ordnung des Westens für konstitutiv ansieht. Die Spannung von Fürstenmacht und ständischem Selbstbewusstsein ebenso wie die Spannung von Königsmacht und universalem Anspruch habe den europaeigenen Partikularismus hervorgebracht, der letztlich die Freiräume erzeuge, aus denen die westliche Freiheit lebe. Auch die Verwandlungen des Christentums im hohen und späten Mittelalter standen in dieser Perspektive im Zeichen der Spannungen von Individuum oder religiöser Bewegung und Gesamtkirche, deren Autorität insbesondere durch das Große Abendländische Schisma erschüttert wurde. Winkler zeichnet die Abhängigkeiten der politischen weltlichen Ordnungen von dem kirchlichen Recht mit klarem Blick nach. Allerdings sorgen solche Formulierungen wie "in alledem konnte der Kirchenstaat den weltlichen Fürsten ein Vorbild sein" (83) für eine gewisse Irritation. Die staatlichen Elemente der kirchlichen Ordnung und der Anteil des römischen Rechts am Kirchenrecht waren nicht "der Kirchenstaat". Eher lässig verfährt Winkler auch mit der Hanse, deren Geschichte und Organisation er nach einem knappen Durchgang durch die bäuerliche Welt kurz streift. Er ordnet ihr "zahlreiche rheinische, westfälische, mittel- und ostdeutsche Städte, darunter Köln, Münster, Magdeburg, Danzig und Königsberg" zu (87), die wendische Städte werden dagegen nicht genannt, und Lübeck hofft hier vergeblich auf seinen Anteil an der Geschichte des Westens. So wie der Beginn des Mittelalters in gewissem Sinne durch den Vorstoß des Islam mit ausgelöst wurde, so spielt das Vordringen der islamischen Türken auch am Ausgang des Mittelalters eine Rolle. Der westliche Warenverkehr mit Indien sei durch die Dominanz des Islam im östlichen Mittelmeer unterbrochen worden. Dadurch sei die Suche nach einem Seeweg nach Indien befördert worden. Die Folge der Entdeckung Amerikas sei dann allerdings gewesen, dass der Islam seine Mittlerposition zwischen Asien und Europa und damit seine Weltstellung verloren habe.
Es ist dies nicht die einzige Gelegenheit, bei der ein Mittelalterhistoriker darauf hinweisen möchte, dass es seit vielen Jahren eine breite Fachliteratur gibt, die intensivere europäische Asienkontakte ohne islamische Vermittlung nicht erst für das 16. Jahrhundert feststellt. Die bewegte Forschung der letzten Jahrzehnte, die die institutionenzentrierte ältere Sicht auf das Mittelalter erheblich dynamisiert hat, findet keinen Eingang in die Darstellung. Es ist ein Mittelalter ohne Frauen, mit einer "babylonischen Gefangenschaft" der Päpste in Avignon und einer Renaissance wie bei Jacob Burckhardt. In diesem Westen ist wenig Neues zu entdecken. Das Ältere wird eingängig präsentiert und man kann auf dem gedrängten Raum nichts Grundstürzendes erwarten. Aber die große Perspektive hätte vielleicht die eine oder andere Überraschung bereithalten können. Hier kommt sie nicht vor.
Martin Kaufhold